Die langen deutschen fünziger Jahre, von der Währungsunion und der doppelten Republikgründung 1948/49 bis zur Zementierung der Trennung im Jahr 1961 waren eine Zeit, die nahezu alle zur Entscheidung nötigte, zum Entweder-Oder, zum Die oder Wir. Eingeklemmt zwischen einer belastenden und auszehrenden Vergangenheit und den überwältigenden Zukunftsverheißungen - entweder das westliche Konsum-Paradies oder das ostdeutsche Land der neuen Menschen - lebte man in einer Gegenwart der scharfen Kontraste: Schwarz, weiß und grau. So erscheinen gerade Schwarz-Weiß-Fotografien als ein adäquates Medium, um einen Rückblick auf die beiden Deutschlands der fünfziger Jahre zu werfen - so, wie es in drei Foto-Bänden geschieht. Von dem 1927 geborenen ostdeutschen Fotografen Arno Fischer werden Aufnahmen zur Situation Berlin präsentiert, von dem 1932 geborenen westdeutschen Fotografen Walter Vogel Bilder des Ruhrgebietes und von dem ostdeutschen Fotografenpaar Renate und Roger Rössing (beide Jahrgang 1929) Aufnahmen vom Leipzig der fünfziger Jahre. Alle begannen also direkt nach dem großen Krieg, in den zerstörten Städten und zwischen schwer gezeichneten Menschen mit dem Fotografieren.
Dies wird besonders in dem Leipzig-Band deutlich. Er wendet sich an ein breiteres Publikum und nicht nur an die letzten Enthusiasten der "nassen Photographie". Den Fotos sind ausführliche und auf die Motive bezogene Erläuterungen beigegeben. Hier sind es weniger formale Finessen, die den Betrachter fesseln, sondern der Blick auf die bruchstückhafte Wiederherstellung des Lebens, die Darstellung der Kontraste, zwischen der Verwüstung der Stadt und dem Arrangement eines Freisitzes, oder zwischen den Resten der Militärtechnik und ihrer neuen spielerischen Zweckbestimmung durch die Kinder.
Die Bilder von Walter Vogel schildern reportagehaft, wie sich der Westen Deutschlands auf die Konsumgesellschaft zu bewegte. Dabei gab es freilich sehr unterschiedliche Geschwindigkeiten. Vogel zeigt die noch 1954 in Düsseldorfer Bunkern hausenden Familien. Die einen fuhren im großen, die anderen im kleinen Auto, und der Kriegsversehrte fuhr 1958 im Beidhänder hinterher. Es gibt Fotos, auf denen ist die Straße - vielleicht die in die Zukunft - das Einzige worauf wenigstens etwas Glanz liegt, während die Kühltürme und Förderkörbe in schwerem Schwarz den Alltag dominieren. Es war die Zeit, in der noch die Hälfte der Bevölkerung Arbeiter waren, die 50 Stunden in der Woche arbeiteten und nahezu die Hälfte des Lohnes für Lebensmittel verwenden mussten.
Nicht nur eine in Arm und Reich, sondern zugleich auch noch in Ost und West gespaltene Stadt zeigt der Band mit den Fotos von Arno Fischer Situation Berlin. Fischers Fotos wirken oft wie Symbole. Von einem ehemaligen Repräsentativbau, nun Ruine, werden zwischen neoklassizistischen Säulen zwei große dunkle Fensterhöhlen gezeigt. Unter der linken prangt an der Fassade der NS-Adler, in seinen Krallen hält er einen Kranz mit einem inzwischen ausgestemmten Hakenkreuz - und in der Fensterhöhle daneben sitzt eine Taube, winzig, als müsste sie noch in die neuen Realitäten hineinwachsen. Fischer zeigt die kahle, gigantomanische Seite der Stalin-Allee im Osten und wie sich im Westen eine Film- und eine Automobilwerbung programmatisch vermischen: "Das süße Leben - Borgward."
Diese Fotos wären beinahe schon 1960/61 in der DDR erschienen. Fischers ungewöhnliche Bilder hatten die Verantwortlichen im Verlag Edition Leipzig spontan begeistert. Die Ost-Berlin-Fotos schienen auch eine positive Interpretation zuzulassen. Die Bilder über West-Berlin entsprachen zwar nicht dem gängigen Niveau ideologisch gefärbter Reportagen, schienen aber für eine intelligente Argumentation gerade deshalb von besonderem Wert. In der aufgeheizten Atmosphäre glaubte man damals mit einem klugen Konzept eine interessante und auch im Ausland verkäufliche Publikation herstellen zu können. Doch obwohl schon der Entwurf Fischers Fotosammlung auf eine eindimensionale, antikapitalistische und prosozialistische Interpretation der beiden Berlins reduzierte, stürzte das Buch 14 Tage nach dem Mauerbau beim Rundgang der staatlichen Abnahmekommission der Leipziger Herbstmesse über seinen prägnanten Titel. Am Messe-Stand von Edition Leipzig warb man vor allem mit dem neuen Berlin-Buch. Im Vorbeigehen rief ein Mitglied der Kommission "Genossen, Berlin ist keine Situation mehr!" Dem Mann war die großformatige Werbung des Verlages, die den Titel Situation Berlin herausstellte, ins Auge gestochen. Der Außenminister sagte daraufhin: "Ach ja, macht das mal weg!" So kam es. Und so blieb es. Weder der Verlag noch Fischer nahmen die Buch-Idee wieder auf. Das Einzige, was von dem unverwirklichten Buch-Projekt blieb, so resümiert Ulrich Domröse in seinem Essay, war dessen Titel.
Nun kann sich das Publikum sowohl über die Situation Berlin wie auch über die anderen Bilder aus den beiden deutschen Vergangenheiten ein neues, um die Erfahrung eines weiteren historischen Bruchs vermehrtes, Bild machen
Arno Fischer: Situation Berlin. Fotografien 1953-1960. Hrsg. von Ulrich Domröse. Nicolai, Berlin 2001, 130 S., 29,90 EUR
Walter Vogel: Deutschland - die frühen Jahre 1951-1969. Brandstätter, Wien 2002,
112 S., 49,90 EUR
Renate und Roger Rössing: Leipzig in den Fünfzigern. Mit Essays von Horst Drescher und Angela Krauss. Gustav Kiepenheuer, Leipzig 2003, 143 S., 25,- EUR
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