DIE SPD, THIERSE UND DER OSTEN Der Abgeordnete ist einzig seinem Gewissen verpflichtet. Ist das Gewissen aber der Fraktionsdisziplin, Aufsichtsratssitzen und künftigen ...
Der Abgeordnete ist einzig seinem Gewissen verpflichtet. Ist das Gewissen aber der Fraktionsdisziplin, Aufsichtsratssitzen und künftigen Listenplätzen verpflichtet, hat das Wählerinteresse im Abgeordnetengewissen nicht mehr viel Raum. Der Präsident des Deutschen Bundestages hat sich nun entschlossen, als Kassandra vor dem Zusammenbruch des Ostens zu warnen. Kassandra wurde von den Trojanern verhöhnt, Wolfgang Thierse hat im Osten für seine Thesen mehr Beifall bekommen. Aber auch viel Schelte. Freilich kann man einwenden, dass Thierses Thesen weder etwas überraschend Neues enthalten, noch dass sie reiner Uneigennützigkeit entspringen würden. Das ist zwar nicht falsch, aber eben auch ignorant gegenüber der Problemsituation, in der ein grö
st einzig seinem Gewissen verpflichtet. Ist das Gewissen aber der Fraktionsdisziplin, Aufsichtsratssitzen und künftigen Listenplätzen verpflichtet, hat das Wählerinteresse im Abgeordnetengewissen nicht mehr viel Raum. Der Präsident des Deutschen Bundestages hat sich nun entschlossen, als Kassandra vor dem Zusammenbruch des Ostens zu warnen. Kassandra wurde von den Trojanern verhöhnt, Wolfgang Thierse hat im Osten für seine Thesen mehr Beifall bekommen. Aber auch viel Schelte. Freilich kann man einwenden, dass Thierses Thesen weder etwas überraschend Neues enthalten, noch dass sie reiner Uneigennützigkeit entspringen würden. Das ist zwar nicht falsch, aber eben auch ignorant gegenüber der Problemsituation, in der ein grXX-replace-me-XXX246;ßerer Teil der Ostdeutschen steckt.Thierse ist anzurechnen, dass er die Krisenbeschreibung mit dem Gewicht seines Amtes und der Autorität seiner Person bewehrt. Das ist auch nötig. Das Defizit in der politischen Kultur des vereinigten Deutschland besteht nicht darin, dass es keine alternativen Vorstellungen gäbe, sondern dass diese keine breite öffentliche Thematisierung finden. Und das Problem in diesem Lande besteht nicht darin, dass die Ostdeutschen undemokratisch oder unpolitisch seien, sondern dass ihre gesellschaftsbezogenen Wertungen, Interessen und Lösungsvorstellungen im medialen und politischen Diskurs nicht repräsentiert werden. Eine Forderung aus den Thesen ist dann auch, die Werte und Identifikationen der Ostdeutschen, ihre spezifischen Erfahrungen vor und nach 1990 endlich als legitim anzusehen - und nicht als politisch-moralischen Defekt.Thierse spricht über eine "Öffentlichkeit, in der Ostdeutsche fremd, in der Regel Objekt der Betrachtung, nicht Subjekt der Selbstaufklärung sind". Und was ist das Echo? Schon in "erster Lesung" des Thesenpapiers durch die ehemaligen DDR-Bezirkszeitungen, damals wie heute Monopolisten der veröffentlichten Meinung in der Provinz, zitiert man prompt nur noch den davor stehenden Satz, in dem Thierse vor nostalgischen und nationalistischen Identifikationen warnt. Schließlich bildete sich letzte Woche dann eine staatstragende traute Phalanx der Ablehner, von Müntefering und dem "Ost-Minister" Schwanitz (SPD), bis zum sächsischen Wirtschaftsminister Schommer (CDU): Alles Schwarzmalerei, Nestbeschmutzung, erschütternd, Amtsmissbrauch, Parteitaktik! Müntefering meinte am Sonntag, dass die Erfolge des vergangenen Jahrzehnts nicht berücksichtigt seien, womit er die Effekte der achteinhalbjährigen Kohlschen Transformationspolitik gleich als erfolgreiche Vorbereitung der noch erfolgreicheren Schröder-Jahre mit vereinnahmte. Diese Allianz ist schon bemerkenswert.Diese reflexhafte Reaktion auf eine eher nüchterne Krisenbeschreibung lässt erahnen, dass das politische Establishment seinen Wende-Schock noch vor sich hat: Die Einsicht, dass die Erfolge der "sozialen Markwirtschaft" ein Phänomen einer politischen und weltwirtschaftlichen Sondersituation waren. Die Einsicht, dass die Transformation Ostdeutschlands zwar ein Jahrhundertgeschäft für einen Teil der Westdeutschen war, aber ein Desaster für die Mehrheit der Ostdeutschen, das deren Identifikation mit Marktwirtschaft und Demokratie nachhaltig schädigte. Und schließlich die Einsicht, dass die Transformation des Ostens viel mehr ein Beispiel für die Funktionsweise als für eine Funktionsstörung des neoliberalen Kapitalismus ist.Versagt hat die Politik, die über weite Strecken einen asozialen Kapitalismus mit der Sozialisierung Ostdeutschlands betraute. Denn die wirtschaftliche und geistige Situation in Ostdeutschland - einschließlich der Gewaltverbrechen deutschtümelnder Dumpfköpfe - hat ihre Wurzel vor allem auch in den ideologischen Klischees der bundesdeutschen politischen Klasse quer durch die Parteien. Deren verklärende Sicht auf die Bundesrepublik, deren Furcht und Feindschaft gegenüber dem linkssozialdemokratischen und sozialistischen Potenzial in Ostdeutschland, ihre Ignoranz gegenüber der Alltagserfahrung in der DDR und die übereifrige Ausradierung ihrer Traditionsbestände haben den Osten destabilisiert und dann im Zusammenhang mit Ausschlachtung durch die Westwirtschaft zum Krisenherd gemacht.Einer der Forderungen des Thesenpapiers ist dann auch eine stärkere, halt durch Krisenbewusstsein inspirierte, politische Intervention. Die muss allerdings radikaler sein, als Thierses Therapievorschläge. Es ist an der Zeit, parteiübergreifend das neoliberale Bezugs-System zwischen öffentlichen Institutionen, Politik und Wirtschaft zu überdenken und mit neuen Lösungen zu experimentieren."Wir können für die SPD nichts Besseres tun, als ihr im Osten die Wählerbasis wieder zu schaffen, die ihr 1998 zum Sieg verhalf ... Wenn wir die Wahl gewinnen wollen, müssen wir uns stärker im Interesse des Ostens durchsetzen." Hier sprach der Partei-Politiker. Nicht die SPD gewann, sondern die CDU verlor den Osten. Nun ist dort aber deutlich geworden, dass die traditionellen Hausmittel, ob nun christ- oder sozialdemokratisch, den Skandal im Osten nicht abwenden werden. Welche Schlussfolgerungen die Wähler im Osten daraus ziehen werden, kann man nicht kalkulieren. Thierse findet das offensichtlich viel gefährlicher als die Prügel, die er nun wegen seines Vorstoßes bekommt.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.