Vor zwei Gerichten konnte Helmut Kohl kürzlich einen Sieg einstreichen: In Bonn kam es zur Einstellung eines Ermittlungsverfahren zur Schwarzgeld-Affäre, in Berlin konnte er die Herausgabe dessen verhindern, was die Stasi ihm einst ablauschte. Nach der Einstellung der - wie sich nun zeigte - nur dem Namen nach als "Ermittlungsverfahren" zu bezeichnenden Bonner Untersuchungen kamen "waschkörbeweise" Briefe bei der vorgesetzten Stelle an, die eine Wiederaufnahme des Verfahrens forderten - das hatte ein rechtskundiger Autor, der die Bonner Justizpraxis in der Zeit skandalisierte, angeregt. Die Bevölkerung wird die Verfahrenseinstellung auf ihre eigene Weise werten: "Die Kleinen henkt man, die Großen lässt man laufen."
Ähnlich dürfte der populäre Kommentar zum Berliner Stasiakten-Urteil ausfallen: "Ossis werden veröffentlicht, Wessis geschützt." Diese Sichtweise widerspiegelt die politische Ambivalenz, die der Gründung, dem Stasi-Unterlagen-Gesetz und der Praxis der Gauck-Behörde seit Beginn anhaftete. Die einen wollten die Offenlegung der Stasi-Akten zum Zwecke einer prinzipiellen Herrschaftskritik, die anderen lediglich zur Kritik der SED-Herrschaft.
Eine Weile gingen beide Ziele in eins. Der radikaldemokratische Impetus einiger Bürgerrechtler sah in der Obduktion des DDR-Geheimdienstes einen ersten Schritt zur Analyse, Dekonspiration, Entmachtung und Abschaffung aller Geheimdienste. Doch diese Art von Revolutionsexport schien der politischen Klasse des Westens etwas deplatziert, hier wollte man die illegalen Akten stillschweigend für den eigenen Machterhalt nutzen, so wie man es in Ost und West nach 1945 schon tat. Da man damit aber gegen die Bürgerrechtler nicht geräuschlos durchkam, suchte man dieses Ziel über diese spezielle Indienstnahme der Gauck-Behörde zu erreichen. Der für alle anderen postsozialistischen Gesellschaften völlig vorbildlos gebliebene Wille zur Suche und Ahndung jeglichen Kontaktes zu den sozialistischen Geheimdiensten wurde in Deutschland durch eine besondere Situation gestützt: Nur ein Fünftel der Gesellschaft - und noch dazu eine politisch und ökonomisch marginalisierte Minderheit -, nämlich die Ostdeutschen, waren potenziell belastet oder verstrickt. Hinzu kam, dass sich bei einer ganzen Reihe von Politikern und Intellektuellen, die die ostdeutsche Minderheit nach 1989 repräsentieren sollten, das Problem- und Politik-Verständnis auf das Stasi-Thema reduzierte.
Man kann das beklagen, wundern sollte man sich nicht, wenn man weiß, wie die Stasi mit jenen Leuten einst umsprang. Die auf die Zerstörung von Identitäten zielenden Intrigen und Zersetzungspraktiken von Mielkes Männern, ihre Brutalität und schließlich ihre Dummheit und Hybris gehören mit zu dem Ekelhaftesten, was aus der deutschen Nachkriegs-Geschichte bekannt wurde - bekannt wurde, wohlgemerkt. Auf den Exzess folgte der Exzess: In "pseudorevolutionärem Exorzismus des Kommunismus wichen Gesetzgeber, Behörden und Gerichte massiv von rechtsstaatlichen Grundsätzen ab, die bis 1989 unbestritten Geltung hatten", resümierte schon vor einem Jahr der Freiburger Rechtsanwalt und Staatsrechtler Michael Kleine-Cosack. "Kein anderer Staat hat so umfangreiche Berufsverbote erlassen wie die Bundesrepublik nach 1989. (...) Traditionelle Beweislastregeln oder Ermittlungspflichten schienen außer Kraft gesetzt zu sein. (...) Unkritisch vertrauten die Juristen auf die von der Gauck-Behörde gelieferten Akten. Sie lasen sie wie ein Evangelium; die Herkunft vom Stasi-Teufel weckte kein Misstrauen, sondern schien die Gläubigkeit in die Aktenwahrheit noch zu erhöhen."
Das gehört ebenso zu den ostdeutschen Erfahrungsbeständen wie die Instrumentalisierung der Stasi-Akten in den kulturellen Deutungskämpfen der Intellektuellen. Zweit- und drittklassige Geister trieben mit Hilfe der Stasi-Akten eine Inventur im Leben prosozialistischer Intellektueller des Ostens. Aus dem legitimen Interesse der Bespitzelten und Verfolgten an ihrer privaten Geschichte, aus dem Forschungsinteresse an der Feinmechanik der Macht und an den Aktionen von "Personen der Zeitgeschichte" wurde ein Tribunal, das noch das kleinste Licht in den Karteien der Stasi einer Bestrafung zuführte. Das war eine administrative und symbolische Flurbereinigung gegen jene, die im Osten oder Westen auf der falschen Seite standen. Es ging eben nicht nur um Wiedergutmachung, nicht nur um Forschung, nicht um eine Debatte zu Verrat und Moral, sondern um den politischen Standpunkt. Wer heute den "richtigen" hat, wie Monika Maron - zeitweilig IM - oder Carola Stern - einst CIA-IM - muss sich nicht um seine Reputation sorgen, wie allein schon ihre lakonischen Stellungnahmen illustrieren. Diese Doppelbödigkeit lässt viele Leute auch mit dem korrekten Richterspruch für Kohl unzufrieden sein. Dabei geht es wohl eher um Häme oder das Bedürfnis nach wenigstens ausgleichender Ungerechtigkeit als um ein präzises Rechtsempfinden. Dass juristische Korrektheit, Umsicht und ein eng gefasster Opferschutz erst dann gelten sollen, nachdem sich die gut geölte Wühlmaschine durch den Dreck der DDR-Macht durchgefressen hatte und sich nun allmählich in den Dreck der West-Macht begibt, wirkt geheuchelt.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.