Wilde Zucht der Muttermale

URSACHENFORSCHUNG Beim bequemen Rückgriff auf DDR-Geschichte wird gern übersehen, dass in den vergangenen zehn Jahren genug Gründe für den Rechtsextremismus im Osten zu finden sind

Die Projektion der Ursachen für den Rechtsextremismus im Osten in die DDR nimmt zuweilen recht bizarre Formen an. Kürzlich holte ein Historiker vom Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Studien ganz weit aus und erklärte die - nachweisbar ausgeprägtere - Ablehnung von Ausländern in der ostdeutschen Bevölkerung mit der Ausländerpolitik der SED. Schuld sei, dass die DDR-Bürger Ausländer immer nur als "rückständige Besatzer" (die Sowjets), als "Ausdruck der ungeliebten kommunistischen Herrschaft" (die chilenischen Emigranten) kennen gelernt hätten oder als vietnamesische und afrikanische Gastarbeiter, die "nützlich sein mussten".

Dass die üblichen Reibungen zwischen Einheimischen und Fremden in der DDR tabuisiert und durch die Rhetorik von Internationalismus und Solidarität verdeckt wurden, ist unstrittig. Dass diese Konstellation der siebziger und achtziger Jahre die Ursache für die heutige Fremdenfeindlichkeit sein soll, ist eine Externalisierung, die dem durch die SED-Propaganda gestählten Leser nicht unbekannt sein dürfte. Diese Interpretation verfährt nach dem gleichen Muster wie die Etikettierung der Protestbewegung vom 17. Juni 1953 als "faschistischer Putsch" oder der Berliner Mauer als "antifaschistisch-demokratischer Schutzwall". Die Botschaft war: Es sind nicht "unsere" Fehler, es ist nicht "unser bewährtes System", aus dem momentan die Schwierigkeiten erwachsen, sondern die bösen Mächte aus der Vergangenheit.

Wenn es zu DDR-Zeiten "problematische Randerscheinungen" zu erklären galt, griffen Gesellschaftswissenschaftler gerne auf die Marxsche Formulierung von den "Muttermalen" der alten Gesellschaft, mit denen die neue zur Welt komme, zurück. Dieser Verweis expedierte die Verantwortung für die so bezeichneten Phänomene in die Vergangenheit und schien damit auch die Suche nach Reproduktionsbedingungen in der eigenen Gesellschaft zu erübrigen. Die DDR ist unter anderem an dieser Unfähigkeit zur kritischen Selbstreflexion untergegangen.

Die bequeme - wenn auch nicht ungefährliche - kommunikative Figur von den "Muttermalen" der alten Gesellschaft hat offensichtlich überlebt. Wenn es in den neuen Bundesländern in den letzten zehn Jahren Probleme der politischen Akzeptanz und Partizipation, bei der wirtschaftlichen oder der Werte-Entwicklung gab, dann war der Verweis auf die Erblast der DDR stets wohlfeil.

Die politischen Eliten und medialen Meinungsführer bedienen sich auch bei der Ursachenanalyse rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Straftaten bislang immer wieder dieser Externalisierungen. Dem gemäß läge der braune Sumpf vorwiegend im fremden und befremdlichen Osten, und die Ursache dafür in dessen spezifischer Vergangenheit und weniger in der Gegenwart. Empirische Fakten, die dieser gefälligen Legitimation des Bestehenden widersprechen, ignoriert der Mainstream deutscher Medien geflissentlich. Nach einer aktuellen Statistik des Bundesinnenministeriums liegen bei den fremdenfeindlichen Straftaten pro Einwohner zunächst einmal vier Altländer an der Spitze: Hamburg, Schleswig-Holstein, Bremen und Nordrhein-Westfalen - ein ziemlich störender Befund. Aber stattdessen verbreitet man lieber die Konstruktion, dass der lediglich "verordnete Antifaschismus" der DDR seine Aufklärungs- und Immunisierungsaufgabe grundsätzlich verfehlt habe.

Der Anti-Antifaschismus nach der Wende

Zur Bedeutung des Antifaschismus in Ost- und Westdeutschland liegt eine Studie vor - veröffentlicht von Wolf Wagner 1999 in seinem Buch Kulturschock Deutschland. Der zweite Blick. Bei der Frage, wie wichtig es sei, sich heute "noch mit der Hitlerzeit auseinander zu setzen", erwiesen sich "die Ostdeutschen hochsignifikant als die eindeutig aufgeklärteren Menschen". "Sie befürworten durch alle Altersjahrgänge hindurch die Auseinandersetzung mit der Hitlerzeit, im Alter mit zunehmender Tendenz, wogegen in Westdeutschland die ohnehin schon geringe Zustimmung mit dem Alter weiter abnimmt." Der verordnete oder wie auch immer verabreichte DDR-Antifaschismus ist im Osten also nicht ohne Wirkung geblieben.

Sucht man nach möglichen ostspezifischen Ursachen für die rechtsextremen Gewalttaten und die zu vermutende schweigende Zustimmung zu braunen Parolen und brauner Präsenz in der Öffentlichkeit, so wird man beim Anti-Antifaschismus der Nachwende-Zeit sicherlich fündiger. Mochte der offizielle, kommunistisch-stalinistisch dominierte DDR-Antifaschismus noch so ritualisiert und sinnentleert erscheinen, jeder wusste, dass er zu den wichtigsten symbolischen Säulen dieses Staates gehörte. Straßen, Plätze, Stadien, Betriebe und Schulen trugen die Namen von - zumeist kommunistischen - Antifaschisten. Deswegen brachte es ja auch so viel Aufruhr, daran Hakenkreuze zu malen. Das gab es schon in der DDR und gehörte zu ihren letzten Tabus. Hier griff man rabiat, zum Teil brutal durch. Bis zum Jahr 1990. Seitdem wurden die Symbole und Tempel des linken Antifaschismus offiziell geschleift und öffentlich niedergemacht. Bei der geplanten Umbenennung der nach Käte Niederkirchner benannten Straße in Berlin orakelte man, dass sich die Namensgeberin, wenn sie nicht vorher von den Nazis ermordet worden wäre, am Aufbau eines undemokratischen stalinistischen Regimes beteiligt hätte. In Leipzig wurde kürzlich eine Jonny-Schehr-Straße umbenannt - und zwar nach General Hans Oster. Das kritisierte Demokratieverständnis der Kommunisten hat mit dem heutigen Kanon ebenso wenig oder viel zu tun, wie das des militärischen Widerstandes von 1944. Wer links ist, ist damit also nicht traditionsfähig, wer kein Demokrat ist, schon. Unabhängig von diesen Feinheiten dürfte für die jugendlichen Beobachter dieser symbolischen Manöver der Nachwende-Zeit die Botschaft eindeutig gewesen sein: Linke und antifaschistische Positionen werden von dem neuen Staat nicht mehr verteidigt.

Der Ekel in den späten Neunzigern

Rechtsextreme Einstellungen, so beschreiben Konfliktforscher, bilden sich im Alter zwischen 11 und 14 Jahren heraus, Indizien hierfür sind Gewalt- und Stärkeverherrlichung, sozialdarwinistische Ungleichheitsvorstellungen und starker Nationalismus. In der Pubertät streben die Heranwachsenden nach "Echtheit und Konsequenz", sie wollen für "das Gute" kämpfen, können mit Ambiguitäten nicht umgehen und leiden unter ihnen, ebenso, wie an der geringsten Abweichung von "der Wahrheit", für die sie sich gelegentlich heftig einsetzen. In ihrem Wunsch nach Selbstbestätigung beobachten sie stärker die soziale Umwelt und taxieren den Bestand von Würde, Autorität und Anerkennung der Erwachsenen. Identität, Abgrenzung und ideologische Orientierungen beginnen sich in dieser Etappe herauszubilden. Wer 1980 oder danach geboren ist, und das sind etwa siebzig Prozent der rechtsextremen Gewalttäter, durchlebte diese Phasen der Persönlichkeitsentwicklung in den ostdeutschen Umbruchsjahren nach 1991.

Zur Erklärung - denn darum geht es hier, und nicht zur Entlastung brauner Schläger - sollen noch einmal die relevanten Phänomene und möglicherweise prägenden Eindrücke für diese Altersgruppe rekapituliert werden. Das war die Depotenzierung der Eltern und natürlicher Autoritäten, die Etikettierung des Ostens und der eigenen Bevölkerungsgruppe als marode, unbrauchbar oder überflüssig und als kollektiv in Verbrechen verstrickt. Und den Heranwachsenden blieben die geistigen Verwerfungen der Gesellschaft nicht verborgen: Nicht die erbärmliche Wendehalsigkeit mancher Erwachsenen, nicht die neue Unterwürfigkeit, nicht der einseitige Diskurs um die DDR, nicht die Verwüstungen, die ein entfesselt wirkender Wild-West-Kapitalismus in den frühen Neunzigern im Osten anrichtete. Vergangenheit und Herkunft, Zukunft und Chancen waren gleichermaßen ekelerregend: Hass! Hass! Hass! brüllen sie heute.

Als der Umbruch Mitte der Neunziger "vorbei" war, regte die nun erreichte "Normalität" auch nicht zu Identifikation und Integration an. Jetzt konnte man nur die langfristig anhaltende Chancenlosigkeit mancher Regionen oder Gruppen im Osten erleben, die enorme Zunahme des Reichtums eines kleinen Teils einer sich stark segregierenden Gesellschaft, Ohnmachtsgefühle durch einen globalisierten Arbeitsmarkt und die Entverantwortung des Staates. Zu den ideologischen Angeboten kam der die neunziger Jahre bestimmende konservative Diskurs vom "Sozial- und Asylmissbrauch" hinzu, die populistische Unterschriftenkampagne gegen den Doppelpass und natürlich untergründig auch die demagogische Parolenmaschine des tradierten und routinierten intellektuellen Rechtsextremismus in den Altländern.

Der Rechtsextremismus wirkt zuweilen wie eine sozialdarwinistische nationalistische Antwort auf die sozialdarwinistischen Züge des Neoliberalismus. Man sollte den Mut haben, den Rechtsextremismus im Osten als eine Reaktion auf die geistigen, sozialen und ideologischen Angebote der neunziger Jahre zu sehen. Man sollte den Mut haben, in den Spiegel der eigenen Gesellschaft zu sehen, anstatt die Vergangenheit für den Rechtsextremismus verantwortlich zu machen. Das Licht, das auf die Vergangenheit fällt und diese sichtbar macht, wirft immer die Gegenwart.

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