Am 9. Oktober wird in Afghanistan ein neuer Präsident gewählt. Auch wenn alles auf einen klaren Sieg für Interims-Staatschef Karzai hindeutet - das Entscheidende werden der Verlauf des Votums und die Beteiligung sein. Der innere Widerstand hatte während der vergangenen Wochen keinen Zweifel gelassen, dass er den Urnengang als Diktat der US-Besatzungsmacht empfinde und nach Kräften stören werde.
Noch immer ist es ein verheertes, vom wechselseitigen Hass der Volksgruppen und der Angst um das eigene Überleben geprägtes Land - kaum ein Tag vergeht in Afghanistan ohne Bomben, Anschläge und Tote. 15.500 US-Soldaten, größtenteils aus Eliteeinheiten rekrutiert und vor der Wahl um 1.100 Mann aufgestockt, sind bislang die versprochene Befriedung schuldig geblieben. Und jedes Bombardement einer mutmaßlichen Taliban-Stellung, die sich im Nachhinein als ziviles Ziel entpuppt, vergrößert mit den Getöteten und Verletzten den Groll und die Feindschaft gegenüber der Besatzungsmacht. Fehlende Sensibilität im Umgang mit den vielen ethnischen Kulturen wie auch die oft brachialen Militäroperationen der Amerikaner haben in Afghanistan - nicht sehr viel anders als im Irak - den Widerstand wachsen lassen, auch wenn das in Europa kaum in vergleichbarer Weise wahrgenommen wird.
10,5 Millionen oder neun Millionen ?
Immer häufiger sind inzwischen Soldaten der ISAF-Kontingente (*) und Mitarbeiter des humanitären Hilfskorps Ziel von Attentaten. Für die Taliban und ihre Verbündeten ist jeder Ausländer ein Feind. Im September erst wurde AfghanAid, eine aus Großbritannien kommende Nichtsregierungsorganisation, von den Gotteskriegern auf die "schwarze Liste" gesetzt. In einem Büro der Organisation waren christliche Bücher aufgetaucht - allein das reichte als Beweis für den mutmaßlichen Missionierungswillen von AfghanAid. Für die radikalislamischen Taliban gab es schon während ihrer Regierungszeit (1996 bis 2001) kein größeres Verbrechen. Wer auch immer für AfghanAid arbeite, verdiene es, getötet zu werden, so im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet Taliban-Sprecher Mufti Abdul Latif Hakim, der gleichermaßen zu verstehen gab, die anstehenden Wahlen massiv stören zu wollen.
Auch gegen alle 18 Bewerber um die Präsidentschaft, zuvörderst gegen Staatschef Hamid Karzai, haben die Taliban das Todesurteil verhängt - schließlich hätten sich alle mit ihrer Kandidatur den "Ungläubigen" unterworfen. Der jetzige Amtsinhaber ist mehreren Attentaten nur knapp entkommen und wird ausschließlich von amerikanischen Leibwächtern geschützt. Als Karzai Mitte September im Süden eine Straße einweihen wollte, explodierte in der Nähe des seinem Helikopter zugedachten Landeplatzes ein Sprengsatz - unverzüglich ließen Karzais Bodyguards abdrehen und nach Kabul zurück fliegen. Tage später entkam Vizepräsident Nematullah Schahrani nur knapp einem Anschlag.
Fast 10,5 Millionen Afghanen - so sagt es die Registrierung - können nun ihre Stimme abgeben. Eine Zahl, die sich nicht so recht mit der halbamtlichen Bevölkerungsstatistik deckt, in der von lediglich neun Millionen Wahlberechtigten die Rede ist. Diese Angaben, heißt es nun, basierten auf zu niedrigen Ausgangswerten, zumal es seit geraumer Zeit keine Volkszählung mehr gegeben habe. Hartnäckig hält sich in Kabul das Gerücht, bis zu einer Million Menschen könnten doppelt registriert worden sein, was zu Manipulationen am Wahlergebnis regelrecht einlädt.
Immerhin handelt es sich bei 43 Prozent der in den Wählerlisten Verzeichneten um Frauen - ein Hoffnungszeichen im patriarchalisch geprägten Afghanistan, wo vielerorts Frauen noch immer die Burka, das zu Taliban-Zeiten vorgeschriebene Ganzkörpergewand, als Pflichtkleidung bestimmt ist. Auch der Umstand, dass von den 18 Kandidaten für das höchste Staatsamt die tadschikische Kinderärztin Massuda Dschalal die einzige weibliche Bewerberin ist, spricht für sich.
Der Schlag gegen den "Emir von Herat"
Niemand bezweifelt ernsthaft, dass Hamid Karzai am 8. Oktober den Sieg davon trägt. Wie überwältigend der ausfällt, bleibt freilich abzuwarten. Kommt er im ersten Wahlgang auf weniger als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen, muss es eine Stichwahl geben.
Gewiss wird Karzai davon profitieren, der einzige Politiker von gesamtnationalem Format zu sein. Alle anderen Bewerber sind mehr oder weniger mit bestimmten Volksgruppen oder kleinen, allein regional aktionsfähigen Parteien verbunden und können nur hoffen, dass ihnen ethnische Bindungen eine gewisse politische Gefolgschaft sichern. Hamid Karzai selbst gehört einem Clan der Paschtunen an, die mit etwa 40 Prozent die größte ethnische Formationen des Landes stellen. Als sein wichtigster Herausforderer gilt Junus Qanuni, einstiger Bildungsminister und Frontmann der tadschikisch dominierten Nordallianz, zu der auch der mächtige Verteidigungsminister General Mohammed Qasim Fahim und Außenamtschef Abdullah Abdullah gehören. Mit einem Paschtunen als Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten versucht Qanuni unverhohlen, das Stimmenreservoir des jetzigen Präsidenten anzuzapfen. Auch Usbekengeneral Rashid Dostum - seine eigentliche Machtbasis ist das im Nordwesten gelegene Mazar-i-Sharif - empfiehlt sich mit seiner Präsidentschaftskandidatur als Freund der Tadschiken.
Wenngleich Qanuni von den drei Nord-Führern noch am ehesten einen zivilen Hintergrund hat, sind er und Dostum doch der Beweis dafür, wie sehr die Warlords weiter das Land beherrschen. Karzais vollmundige Ankündigung, sie entmachten oder wenigstens in die Schranken weisen zu wollen, blieb, was sie von vornherein war, eine Überschätzung des eigenen Machthorizonts.
Nur den einen großen Schlag wollte der Präsident denn doch riskieren, indem er Ismail Khan, den "Emir von Herat", als Provinzgouverneur absetzte. Eine jener charismatischen Figuren, die schon 1980 gegen die sowjetische Armee zu Felde zogen, sich später in viele interne Scharmützel verwickeln ließen und ab 1996 den Taliban couragiert entgegenstellten. 2001 übernahm Ismail Khan das Patronat über seine Heimatstadt Herat und begann dort unverzüglich mit dem Wiederaufbau, wofür ihm auch im Westen der Respekt nicht versagt blieb. Der "Emir" schätzte und schürte den Kult um seine Personen, er liebte einen robusten Regierungsstil und schickte Hamid Karzai gelegentlich taktische gefärbte Ergebenheitsadressen. Das hinderte ihn aber nicht, Kabul einen Teil seiner Steuereinnahmen vorzuenthalten (auf eine Million Dollar täglich werden die allein an den Grenzübergängen nach Iran erzielten Einkünfte geschätzt). So mochte Ismail Khan auch keinen Gefallen daran finden, seine Privatmiliz (10.000 Mann) der neuen Nationalarmee zu überlassen.
Seine jetzige Entmachtung versorgte Herat für Tage mit heftigen Unruhen. Anhänger verbrannten Bilder von Hamid Karzai und stürmten den regionalen Sitz der UNO - nur durch das Eingreifen von US-Truppen gelang es, die dortigen Mitarbeiter in Sicherheit zu bringen. Der neue Gouverneur Khairkhwa - vormals afghanischer Botschafter in der Ukraine - musste aus Gründen einer ungestörten Amtseinführung ebenfalls um amerikanischen Beistand bitten.
Ismail Khans Entscheidung, sich seiner Relegierung nicht gewaltsam zu widersetzen, sondern stattdessen unter dem Schutz der eigenen Miliz in seiner Residenz auszuharren, ist teilweise honoriert worden. Hamid Karzai musste den Kontrahenten bitten, die aufgebrachte Bevölkerung von Herat zu beruhigen und erkannte damit - für den Augenblick zumindest - die wichtigste Autorität der Stadt vorbehaltlos an. Auch wurde die Offerte aufrechterhalten, nach dem 9. Oktober könne Ismail Khan als Minister für Bergbau und Industrie in die Zentralregierung eintreten.
(*) UN-mandatierte International Security Assistance Force. Sie rekrutiert sich derzeit aus 37 Nationen.
Die Staatschefs Afghanistans seit der April-Revolution 1978
April 1978 - September 1979
Nur Mohammed Taraki / Demokratische Volkspartei Afghanistans, Chalq-Flügel* (Am 27. April 1978 hatte die pro-kommunistische Demokratische Volkspartei Präsident Daud gestürzt und die Macht übernommen.)
September 1979 - Dezember 1979
Hafizullah Amin / Demokratische Volkspartei Afghanistans, Chalq-Flügel (Nach dem sowjetischen Einmarsch am 28. Dezember 1979 als "Konterrevolutionär" hingerichtet.)
Dezember 1979 - Mai 1986
Babrak Karmal / Demokratische Volkspartei Afghanistans, Parcham-Flügel**
Mai 1986 - April 1992
Mohammed Nadschibullah / Demokratische Volkspartei Afghanistans
Mai 1992 - September 1996
Burhanuddin Rabbani / Jamiat-i-Islami-ye / Islamische Bewegung
Oktober 1996 - Oktober 2001
Während der Taliban-Herrschaft gibt es kein offizielles Staatsoberhaupt. Die Macht liegt in den Händen des geistlichen Führers der Taliban, Mullah Omar. Er wird durch die am 7. Oktober 2001 beginnende US-Intervention gestürzt.
Ab Dezember 2001
Hamid Karzai (Auf den Politiker hatte sich die internationale Afghanistan-Konferenz auf dem Bonner Petersberg geeinigt.)
(*) Chalq - "das Volk", Fraktion der DVPA, die einen hohen Grad an Selbstständigkeit hatte.
(**) Parcham - "die Fahne", die zweite große Fraktion innerhalb der DVPA.
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