Rabenkrähen und Elstern

TAGEBUCH Eine Reise mit dem Schriftsteller Peter Handke durch den Krieg

Die Tour nach Jugoslawien war schon lange vor dem 24. März geplant. Peter Handke beabsichtigte, durch die Berge im Süden des Landes zu wandern - wieder einen Monat eher als im Vorjahr, um die Vegetation in einem früheren Stadium des alljährlichen Reifens sehen zu können. Im Juni 1997 war er von Srebrenica aus über die Berge nach Bajina Basta an der Drina gelaufen, im Mai 1998 von dort durch das Tara-Gebirge nach Kremna - Montenegro sollte diesmal das Ziel sein.

Wir starteten am 23. April 1999, einen Monat nach Kriegsbeginn: Handke, der Maler Zlatko Bocoki (alias Adrian Brouwer) aus Salzburg und ich. Die Anfahrt führte von Kärnten durch Slowenien und Kroatien nach Bosnien-Herzegowina und weiter nach Jugoslawien, in den Krieg. Am Abend des 29. April kehrten wir über Ungarn nach Wien zurück.

25. April
Frühmorgens sind wir auf dem Weg nach Srebrenica und treffen Bekannte von früheren Aufenthalten. Die Stimmung ist gedrückt. Im Jahr zuvor hatten wir den Eindruck, daß es auch hier langsam wieder berg auf geht. Jetzt die totale Stagnation. Ein Serbe kommt mit seiner kleinen Tochter: »600.000 von uns sind aus der Krajina und aus Kroatien vertrieben worden. Viele leben heute in Jugoslawien, wo jetzt Krieg ist. Wo sollen wir hin?«

Handke besucht den Sonntags-Gottesdienst, viele Kinder und Jugendliche sind in der Kirche. Einige von ihnen versammeln sich später um uns. Wenigstens sie sind frech und fidel, und gar nicht in der Opferpose, in der man Kinder gewöhnlich bei Reportagen aus Krisengebieten präsentiert bekommt.

Nach dem gemeinsamen Mittagessen müssen wir uns beeilen, weil wir wegen der Luftangriffe vor 19 Uhr in Belgrad ankommen wollen.

Noch einmal Volltanken in Bratunac, dann geht es zügig über die Grenzbrücke nach Ljubovija in Serbien. Die Drina (wie jetzt alle Flüsse in Jugoslawien) fließt schneller als gewöhnlich. Um Überschwemmungen im Fall von Luftangriffen zu vermeiden, wurden die Staustufen weitgehend geflutet - auch in Bajina Basta einige Kilometer südlich von hier.

Rast im serbischen Prnjavor und dann noch einmal in Cabac - die ersten Kriegszerstörungen. Wir suchen einen Weg an die Save, finden etwas außerhalb ein verlassenes Militärgelände. Den Eingang bewacht ein verängstigt dreinblickender junger Soldat. Die meisten Kasernen wurden sofort nach Kriegsbeginn geräumt, dennoch bombardiert die NATO diese Gebäude Nacht für Nacht weiter.

Auf der Autobahn nach Belgrad überholen wir einen Militärkonvoi: Erbärmliche alte LKW, auf deren Ladeflächen junge Soldaten sitzen. Aus vorbeifahrenden Autos werden ihnen Zigarettenschachteln zugeworfen. Schützenpanzerwagen, die an Bilder der vorrückenden Roten Armee aus dem Zweiten Weltkrieg erinnern, begleiten den Troß.

Kurz nach 18 Uhr erreichen wir die Hauptstadt und stehen entsetzt vor dem ausgebrannten Bürohochhauses, in dem Parteibüros, Firmen und Privatsender untergebracht waren. Die riesige Antenne auf dem Dach scheint unbeschädigt. Wir passieren ein zerbombtes Ministerium direkt in der Altstadt. In den angrenzenden Wohnhäusern fehlen die Fensterscheiben. Kurze Erfrischung im Vereinslokal von Roter Stern Belgrad in der Nähe der zwei Nächte zuvor zerstörten Fernsehanstalt RTS. Das Lokal schließt bereits um 19 Uhr.

26. April
Unsere Abfahrt aus Belgrad verzögert sich. Die sechs beim Luftangriff auf die RTS-Zentrale getöteten Journalisten werden heute beigesetzt. Gegen Mittag erscheint endlich Dragan, ein junger Mitarbeiter des Militär-Pressezentrums, der uns in den nächsten Tagen begleiten soll. Er trägt die Verantwortung dafür, daß Handke nichts zustößt.

Unsere erste Station ist Kragujevac - eine Stadt, in der die SS im Zweiten Weltkrieg ein grausames Massaker an Schulkindern verübte. Bei mehreren nächtlichen Angriffen haben nun die NATO-Flieger tonnenweise Bomben auf das Herz der gesamten Region geworfen: Die Autofabrik Zastava ist völlig zerstört, an Wiederaufbau nicht zu denken. Das auf dem Gelände befindliche Heizkraftwerk der Stadt wurde ebenfalls dem Erdboden gleichgemacht. Bis zu 40.000 Arbeitsplätze sind betroffen. Die Gegend hat ihre Zukunft verloren.

Wir fahren weiter nach Kraljevo - etwa 80 Kilometer vor dem Kosovo. In der umliegenden Bergen werden fast täglich militärische Objekte angegriffen. Wir fahren an Hängen vorbei, die völlig abrasiert wurden. Das Gerede über sogenannte »chirurgische Eingriffe« ist ein irreführender Mythos. Mehr als 600 Splitterbomben sollen über dieser Region ausgeklinkt worden sein. Viele der gelben Sprengkapseln liegen noch herum. Ein Polizist aus Kraljevo sagt, man habe aufgehört, sie zu entschärfen, nachdem der örtliche Sprengmeister zerfetzt wurde. Einige Häuser im Dorf Bogutovac an der Straße in Richtung Kosovo sind verwüstet. Eine Rakete hat die örtliche Schule getroffen - von der Aula ist nur noch ein Trümmerhaufen übrig.

Dragan drängt zum Gehen. Es dämmert, und niemand weiß, ob es Luftalarm gibt. Mit Sirenen sind nur die größeren Städte Serbiens ausgerüstet. Wir machen noch kurz Halt an einer der zahlreichen zerstörten Eisenbahnbrücken. Offenbar benötigten die NATO-Piloten zumeist mehrere Versuche, bis sie die Brückenlager aus den Angeln sprengen konn ten. Man kann überall Einschläge sehen.

Als wir in Uzice ankommen, ist es fast dunkel. Der Ortspolizist rät, die Hauptstraße zu verlassen. Etwa zehn Kilometer entfernt, westlich in den Bergen, liegt das Kloster Studenica. Im Hotel nebenan übernachten wir und besuchen zuvor noch ein Restaurant. Den ganzen Tag über haben wir kaum geredet. Im Gastraum sind vor allem Einheimische und sehen sich die Abendnachrichten an. Die NATO bombardiert seit einigen Tagen vermehrt die Sendeanlagen und Richtfunkstrecken, um das Volk vor Milosevics Kriegspropaganda zu schützen. Doch der Präsident scheint sich eher rar zu machen, und die Leute bewegen andere Sorgen. Außerdem werden hier über Satellit vor allem die Nachrichten westlicher Stationen empfangen, zum Beispiel von BBC WorldService und CNN.

Kurz nach Mitternacht stehen wir vor dem Hotel und hören das Dröhnen der NATO-Bomber, die über unsere Köpfe hinweg in Richtung Norden (Belgrad, Novi Sad) fliegen. In dieser Nacht wird in der Hauptstadt bei einem zweiten Angriff auf das bereits zerstörte Bürohochhaus die 30 Meter hohe Antenne abgerissen.

27. April:

Der Hotelier hat uns beim Klostervorsteher Studenica angemeldet. Handke besucht den Morgengottesdienst. Eine Viertelstunde dauert die kurze Andacht, die von orthodoxen Kirchengesängen begleitet wird. Zlatko und Dragan kommen dazu. Anschließend frühstücken wir mit den Priestern, dem Personal und einer Schriftstellerin, die es in Belgrad nicht mehr aushält. Der Klostervorsteher ist nicht dabei. Er ist zur wöchentlichen Dialyse ins Hospital gefahren. Danach geht es weiter in Richtung Kosovo, Dragan verneint kategorisch unsere Frage, ob wir nicht doch in die Provinz reisen könnten. Gegen 12 Uhr erhält er einen Anruf auf seinem Handy: Luftalarm. Wir verlassen daraufhin die Hauptstraße und fahren in die Berge. Für ein paar Kilometer nehmen wir einen jungen Soldaten mit. Er sagt, die UÇK sei weiter aktiv. Kleine Verbände hielten sich in den Wäldern versteckt und hätten Erdtunnel gegraben. Nachts versuchten sie, serbische Stellungen anzugreifen und Lebensmittel zu besorgen. »Die UÇK-Leute tragen serbische Uniformen.« Er zeigt ein farbiges Stoffband, das er mit seinem Schulterstück verknotet hat: »Farbe und Anbringung des Bandes wechseln wir deshalb täglich.«

In etwa 1.800 Meter Höhe liegt das Wintersportgebiet Kopaonik. Die Hotelanlagen sind wie ausgestorben. Dragan bittet uns, im Auto zu bleiben und sucht nach dem örtlichen Militärpolizisten. Als dieser von Handkes Anwesenheit erfährt, beschimpft er Dragan. Wir steigen aus und reden über die Angriffe der NATO. Die Antennen-Anlage auf dem Bergplateau wurde zerstört, ebenso der Hotelkomplex des Ortes. Verstreut liegen noch scharfe gelbe Sprengkapseln von Splitterbomben herum - bis auf zwei Meter kann man an sie heran.

In Krujevac treffen wir am frühen Nachmittag ein. Dragan wurde hier geboren, und ausgerechnet heute hat seine Nichte Geburtstag. Wir bestehen darauf, ihr einen kurzen Besuch abzustatten. Die Familienfeier findet in Dragans Elternhaus statt. Die Eltern freuen sich über den Besuch. Dragans Kusine ist Lehrerin. Sie erzählt verzweifelt, alle Schulen in dieser Gegenden seien geschlossen, weil es bei Luftalarm an Schutzräumen fehle. Auch Krujevac wurde mehrfach angegriffen. Etwa 100 Meter hinter Dragans Elternhaus liegt auf einer Wiese ein riesiger Krater.

Wir besuchen die Maschinenfabrik IMK 14. Oktober>, einer der wichtigsten Arbeitgeber der Stadt. Sie wurde ebenso wie das örtliche Heizkraftwerk zerstört. Am Horizont sehen wir tiefschwarze dünne Rauchsäulen aufsteigen. Sie stammen von in Brand gesetzten Autoreifen neben noch intakten Brücken und sollen wohl die kameragesteuerten Raketen um ein paar Meter ablenken, mutmaßt Dragan. Wir bezweifeln, ob das funktioniert.

In Aleksinac , unserer nächsten Station, umgibt uns ein Bild der Verwüstung. Anfang April haben hier mehrere Bomben ein Wohngebiet getroffen. Es gab 17 Tote, etwa 120 Verletzte. Ein Mercedes steht zerborsten am Straßenrand und erinnert an die Bilder vom Herrhausen-Attentat 1989 ... In den Trümmern liegt Spielzeug herum.

Für einen Abstecher nach Nis bleibt keine Zeit mehr. Dragan wird benachrichtigt, daß die NATO wieder mit Angriffen begonnen habe, also zurück nach Belgrad. Als wir über die Brücke von Novi Beograd in die Altstadt herüberfahren, seufzt Dragan, der im neuen Teil der Hauptstadt wohnt: »Die Brücke kommt mir jeden Abend länger vor.«

28. April
Wir bleiben in Belgrad. Handke trifft sich nach dem Frühstück mit dem Direktor des Belgrader Theaters. Zlatko und ich spazieren durch die Innenstadt. Am Platz der Republik setzen wir uns in ein Café und verfolgen eine Weile das tägliche »Friedenskonzert«. In den westlichen Medien werden diese Meetings als Ausdruck des »serbischen Nationalismus« und des »Verrats der Opposition« präsentiert. Wie Journalisten auf die Ideen kommen, die Konzerte so darzustellen, fragt Zlatko. »Die sitzen den ganzen Tag im Hyatt und Interconti, sehen selbst nur Milosevic-Fernsehen und reden auch nur miteinander, aber nicht mit normalen Leuten«, meint eine Studentin, die sich vor dem Krieg an den Protesten gegen Milosevic beteiligte. »Was ich nicht begreife, ist, daß die Leute im Westen tatsächlich geglaubt haben, die Opposition würde sich auf die Brücken stellen und den NATO-Fliegern applaudieren.«

Abends hat die Malerin Olja Ivanjicki zu einem Umtrunk eingeladen. Ihr Atelier befindet sich nur einen Steinwurf entfernt von der Brücke nach Novi Beograd. Wir stehen auf der Terrasse und beobachten eine Gruppe von etwa 200 Menschen, die mitten auf der Brücke eine Musikanlage aufstellen: »Humanitäre Schutzschilde«. Am Tag zuvor hat die NATO Flugblätter abgeworfen und die Menschen aufgefordert, die Brücken nicht mehr zu betreten. Das geschah auch in Novi Sad. Heute gibt es dort keine Brücken mehr.

Gegen 22 Uhr gehen die letzten Gäste - auch Handke und Zlatko brechen auf. Ich bleibe mit dem Verleger Mirko und seiner Freundin bei Olja in der Galerie, die wenig später von einem Bekannten angerufen wird, der beim Sender Radio Free Europe beschäftigt ist. Er sagt, wir sollten schleunigst die Wohnung verlassen, NATO-Kampfflugzeuge seien nach Belgrad unterwegs. Kaum bin ich im Hotel, detonieren die ersten Bomben - vielleicht drei, vier Kilometer entfernt. Die Fensterscheiben vibrieren, der Puls beginnt zu rasen. Es hört sich so an, als hätten sämtliche Auto-Alarmanlagen in Belgrad durch die Detonationen zu heulen begonnen. In Richtung Zemun blitzt der Himmel durch das Streufeuer der serbischen Luftabwehr. Immer wieder Detonationen. Nach etwa einer halben Stunde kehrt plötzlich Ruhe ein, doch an Schlaf ist vorerst nicht zu denken. Gegen drei Uhr morgens folgt die zweite Angriffswelle.

29. April
Am Morgen meldet BBC WorldService, daß es in der Nacht zuvor die »bislang heftigsten Luftangriffe auf Belgrad« gab. Eine Mitarbeiterin im Pressezentrum vermutet, es könnte mit der Absetzung des Vizepremiers Vuk Draskovic zu tun haben.

Gegen Mittag machen wir uns auf den Heimweg. Dragan geleitet uns bis zu einer der letzten unzerstörten Brücke über die Donau in Pancevo. Wir fahren an Novi Sad vorbei durch die Vojvodina in Richtung Ungarn. Im bergigen Süden beobachteten wir die lärmenden Rabenkrähen und Elstern. Hier, im Flachland, gibt es statt dessen Tauben in Hülle und Fülle. In Melenci pausieren wir in einem Straßenlokal. Eine Frau bleibt plötzlich vor Handke stehen und bedankt sich für seine Solidarität. Wir bitten sie an unseren Tisch. Dr. Olga Mihajlovic stellt sich als Ärztin an einer Spezialklinik für Herz-, Lungen- und Krebsleiden in einem Vorort von Novi Sad vor. Angeschlossen sei auch eine Geburtsklinik, der Komplex zähle zu den größten Behandlungszentren Jugoslawiens. Sie berichtet, daß nach den ersten Luftangriffen auf Novi Sad die Kobalt-Bestrahlungsgeräte ausgeschaltet wurden, um im Falle eines Treffers eine radioaktive Verseuchung zu vermeiden: »Mittlerweile haben wir uns jedoch entschieden, die Patienten wieder zu bestrahlen.« Nur noch Notfälle könnten operiert werden, denn bei einem NATO-Luftangriff seien die Wasserleitungen für das Klinikum zerstört worden. Wenige Tage später wird die NATO auch die Elektrizitätsversorgung der Klinik ausschalten.

In einem Straßenrestaurant vor der ungarischen Grenze machen wir zum letzten Mal Halt in Jugoslawien. Ein hochgewachsener Afrikaner im Anzug steht auf einmal an unserem Tisch, deutet auf Handke und sagt freundlich: »Hello, ich kenne Sie. Guten Tag, Herr Handke« Er erzählt, daß die Ungarn ihn nicht ins Land lassen wollten. Er werde in Belgrad als Elektroingenieur ausgebildet: »Ich komme aus Ruanda. Vor ein paar Jahren bin ich wegen des Krieges bei uns nach Belgrad geflohen. Und jetzt ist der Krieg hier.« - Er zuckt mit den Schultern, grinst und ist auch schon um die Ecke. Die ungarischen Grenzer nehmen ihren Job ernst, kontrollieren gründlich Tasche für Tasche, dann das Auto und lassen uns nach einer Weile passieren. Nur 20 Meter weiter hebt ein Polizeiposten erneut seine Kelle, läßt sich die Pässe zeigen und fordert Handke auf, seinen Target-Anstecker abzunehmen: »This is Hungary, not Serbia!«

Der Autor arbeitet als Journalist in Frankfurt/Main und ist Chefredakteur des Magazins Novo. Im Juni 1999 erscheint: Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke, hg. v. Thomas Deichmann, Suhrkamp Verlag Frankfurt.

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