Was treibt eigentlich die "no-future"-Generation in der Spaßgesellschaft? Was machen die Nachfahren von Punk und New Wave, seit Joy Division und Laibach gegen Brit-Pop eingetauscht wurden?
Vom Leben und Sterben der letzten lost generation des ausgegangenen Jahrhunderts erzählt ein Band mit Geschichten des jungen dänischen Schriftstellers Jan Sonnergaard. Schauplatz ist das Kopenhagener Viertel Vesterbro, das Kreuzberg des Nordens. Hier vermischen sich mittlerweile die Saturierten mit den zu kurz Gekommenen - und deren Geschichten. Zum Beispiel der von dem kleinen Mann, der einem Pärchen im Café erzählt, wie er einmal von seinen Mitschülern zusammengeklappt, in einen Papierkorb gesteckt und zehn Meter über dem Boden auf einem Fensterbrett abgestellt wu
brett abgestellt wurde. Seit dieser Zeit ist er nicht mehr gewachsen. Oder die Geschichte von den drei coolen Typen, die eine Randale-Tour durch ein paar Supermärkte und Klamottenläden mit einem Besuch in einem Gourmettempel beschließen, wo gefeiert wird, bis die Polizei anrückt.Beide Geschichten gehen ins Extrem, beide spielen, mal kurz und trocken, mal quälend lange, Testfälle für die Risikogesellschaft durch, Testfälle in Mitleidlosigkeit gewissermaßen; es ist eine Mitleidlosigkeit, die Sieger wie Verlierer gleichermaßen angesteckt hat. Bei Sonnergaard tritt der Höchstfall des Happy Ends allenfalls ein, wenn man ungeschoren aus der Kampfzone entkommt. Das wäre dann, wie der ironische Titel einer Erzählung lautet, geradezu der Präzedenzfall. Er ist aber nie von Dauer.Indessen besteht die Höchststrafe darin, sich frisch verliebt in einem Kleiderschrank verstecken zu müssen. Und das muss Henrik, wenn der Dozent antanzt, an seiner Uni wider Erwarten in eine Dauerstellung arriviert und trotzdem oder gerade deswegen "im Panikalter". Unter Vorwänden wie dem, eine alte Sparks-Platte oder eine vergriffene Sammlung mit frühen marxistischen Texten zur Literaturwissenschaft abholen zu wollen, bricht er zu den unpassendsten Zeiten ins Liebesleben des jungen Paares ein. Und Henrik wird von seiner Freundin Lisbeth jedesmal zur Sicherheit im Schrank versteckt.Die Frauen kommen bei Sonnergaard nicht besonders gut weg. Nicht nur, dass die Freundin des Ich-Erzählers in der Geschichte vom mickrigen Mann sich als eine der Peinigerinnen erweist. Auch Lisbeth wird mit Sätzen wie diesen bedacht: "Als sie einmal etwas Nettes sagen wollte, klingelte es an der Tür."Sonnergaard verfolgt seine Figuren mit einem Humor so grausam und lakonisch, wie man ihn sonst eher von Comiczeichnern kennt. Trotzdem mag er diese traurigen Gestalten. Und die Situationskomik, der er sie aussetzt, folgt der Dramaturgie des Fehlschlags. Er trifft alle gleichermaßen. Der Klingler an der Tür war natürlich der Dozent, der einen Nebenbuhler vermutet und prompt auf den Schrank tippt. Doch dieser erweist sich dieses eine Mal als leer, und der Dozent als Depp. Weil sich Henrik diesmal nämlich unter dem Bett versteckt hatte.Die Anläufe zur Verbürgerlichung, die Sonnergaard schildert, sind oft verzweifelt, manchmal auch nur sehnsüchtig. Dass sie scheitern, ist dem Leser von Anfang an klar, doch je länger sie dauern, desto mehr hofft er auf die glückliche Wendung. Darin liegt Sonnergaards Perfidie; sie trifft nur vordergründig die Figuren, meint aber den Leser (wen sonst). Das alles macht aus ihm keinen Sozialrealisten für die Neunziger, wie Sonnergaard von einigen dänischen Rezensenten etikettiert wurde. Zumal er seine Geschichten gerne ins Bizarre und Unheimliche kippen lässt, wenn auch eher nebenbei und meist unerwartet. Zum Beispiel in der längeren Erzählung von "Lotte". Lotte ist die Traumfrau, ein Kuscheltier so wohlproportioniert wie Traci Lords, mit einem Körper so ideal wie der von Cher, und außerdem mit diesem Mystischen, das Siouxsie von den Banshees früher einmal hatte. Eines Tages taucht sie in der Kneipe auf, in der der Ich-Erzähler als Barkeeper die Gäste übers Ohr haut, indem er Wasser in ihre Drinks mischt, den Gewinn einstreicht und die Reste selber trinkt. Lotte bleibt unnahbar für seine Bemühungen. Wie aus einer anderen Welt. Bis sie ihn eines Tages, oder besser eines Nachts, doch mit zu sich nach Hause nimmt, in eine der allerbesten Wohngegenden Kopenhagens. Es wird die unvergessliche Nacht, nach der man sich an nichts erinnert. Der Leser, dem zuvor wortreich unendliche Ströme von Alkohol eingeflößt wurden, weiß längst nicht mehr, ob das bloß noch Wunschphantasien eines in Schnaps und Kokain eingelegten Gehirns sind, oder ob die Träume wilder, teils sadistischer Exzesse sich tatsächlich abspielen. Aber die Realität holt den Ich-Erzähler zurück. Aus der Zeitung erfährt er von einem Ritualmord an zwei Frauen und einem Mann während einer Seance in gehobenen Kreisen. Eine der Toten ist unzweifelhaft Lotte. Der Leser ahnt, ist aber auf der falschen Spur.Auch wenn das literarische Niveau mit diesem Vergleich um ein bis zwei Etagen zu hoch angesetzt wird: es ist, als hätte sich Quentin Tarantino der Traumnovelle Arthur Schnitzlers angenommen. Auch wenn manches zu lang geraten ist, in einigen Erzählungen besitzt Jan Sonnergaard tatsächlich das zweite Gesicht für die langsame Verschiebung der Realität in eine andere Sphäre und außerdem ein sicheres Gespür für den abrupten, aber pointierten Schluss. Einen Schluss, der alles in Frage stellt - nur nicht seine Fähigkeit, Geschichten zu erzählen.Mit Radiator legt die kleine Achilla-Presse, ansonsten auf die Entdeckung oder Wiederbelebung amerikanischer Autoren wie Herman Melville und Sherwood Anderson spezialisiert, bereits das dritte, vermutlich ganz und gar unverkäufliche Buch mit junger dänischer Literatur vor. Kirsten Hammann hatte zuvor mit "vera winkelivir" eine Kunstfigur zwischen Barbie und Lara Croft zum Leben erweckt und mit ihr ein Erzählexperiment durchgespielt, das deutliche Anleihen bei Video-Clips, Computer-Spielen und allem, was Pop heißt, verrät. Dagegen stößt man im Erzählungsband Wasserzeichen von Naja Marie Aidt, einer Dänin mit grönländischen Vorfahren, nicht nur auf ähnlich präzise Milieustudien wie bei Jan Sonnergaard, sondern auch auf den gleichen Sinn für die Geschichte als Kippfigur zum Phantastischen. Man kann nur hoffen, dass der Verlag realitätsfern genug bleibt und seine Versuche so schnell nicht aufgibt.Jan Sonnergaard: Radiator. Erzählungen. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Achilla-Presse, Bremen 2000, 210 S., 32,- DM
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