Die Einsamen

Alltag Gerhard, Heinz und Burkhard leben hinter einer selbst gebauten Mauer auf einem Hof in der Uckermark. Täglich zieht Gerhard die Mauer höher

Heinz schnappt sich die Hühner einfach so. Er packt sie an den Beinen und am Schwanz. Hat gleichzeitig die Flügel im Griff. Er zieht den Kopf so über den Hackklotz, dass er gestreckt daliegt, dann hackt er zu. "Gerhard", sagt er. "Letzte Nacht hat der Fuchs wieder eine Henne geholt." Sie sitzen in der Küche und rauchen. "Verdammt", sagt Gerhard. Er hat eine Mauer um den Hof gezogen. An manchen Stellen ist sie mannshoch.

In den letzten sechs Jahren hat er eine Million Steine vermauert. Große, eckige aus Granit, so groß wie Bowlingkugeln und kleine, so klein wie Murmeln. Ob es wirklich eine Million sind, weiß Gerhard nicht genau, jedenfalls sind es sehr viele. Eine Million ist ein Symbol. Wie die Mauer. Die Zeiten ringsum sind so.

Die Gegend zwischen Templin und Boizenburg hat sauber asphaltierte Straßen, Weiden links und rechts, auf denen fette Rinder grasen. Die Autos fahren schnell, drinnen sitzen junge Leute, die noch nicht aus der Schule sind und schon überlegen, ob sie sozialhilfeberechtigt sind oder eher Hartz-IV-Anwärter. Potzlow ist nahe, 20 Kilometer. Dort haben vor drei Jahren drei Jugendliche einen anderen gefoltert, totgetreten und die Leiche in eine Jauchegrube geworfen. Einfach so.

"Brauch jetzt Kaffee." Burkhard tritt an die Kaffeemaschine. Die Kanne ist leer. "Nie ist Kaffee da, wenn ich welchen will, versteh das nicht." Die Küchenfenster sind trübe. Der Fußboden weiß gekachelt und schmutzig. "Mach neuen", sagt Gerhard, ohne den Blick von der Zigarette zu nehmen. Gerhard, Heinz und Burkhard sind um die 50. Gerhard ist der Älteste. Er ist hoch gewachsen, Halbglatze, graues Haar, dicke Brauen, tief liegende Augen. Der Hof, das Federvieh, alles gehört ihm.

"Der Habicht. Wenn der kommt, und der Hahn nicht aufpasst, holt er sich was", sagt Heinz. Er macht mit der Hand eine kreisende Bewegung. Heinz´ Hände sind geschwollen. Sie haben einen komischen Glanz. Rechts fehlt der Mittelfinger. Er hat ihn im Sägewerk in die Kreissäge gebracht. Heinz sitzt zusammengesunken im Sessel. Er ist betrunken. Es ist halb fünf nachmittags. Sein rechtes Auge hängt und trieft.

Heinz kam vor fünf Jahren zu Gerhard. Das rechte Auge ist ein Glasauge. Als er sieben war, traf ihn ein Splitter von dem Keil, mit dem sein Großvater Wurzeln spaltete. Seine Mutter gab Gerhard 4.000 Mark, bevor sie starb. Sie wollte nicht, dass der Sohn im Heim endet oder auf der Straße. Gerhard bestellte für Heinz eine Laube aus Fertigteilen. Bei Neckermann. Seit die Laube da ist, hat Heinz Gerhards Hof nicht mehr verlassen.

Ein Tag ist wie der andere auf dem Hof. Kennt man einen Tag und eine Stunde, kennt man alle Tage und alle Stunden. Zu dritt wechseln Gerhard, Heinz und Burkhard kaum die nötigsten Worte. Einzeln sind sie nicht zu bremsen. Heinz hält zu Gerhard, Burkhard wird nur geduldet. Und dann kommt der Moment, wo sie sich wiederholen, dasselbe noch einmal erzählen.

Burkhard kam vor zwei Jahren zu Gerhard. Er hatte im Wald gehaust, in einer Mulde, unter einem umgestürzten Baum. Aß aus Mülltonnen und Abfalleimern. Die Polizei suchte ihn. Er sollte in ein Obdachlosenheim. Er war auf den Hof gekommen und hatte Gerhard angebettelt, ihn aufzunehmen. Die Stadt, das Heimpersonal, die Insassen. Burkhard hatte Angst. Gerhard wollte nicht. Er wollte ihn nicht auf dem Hof haben. Burkhard trank und klaute Hunde. Er soll, das sagen die Leute, was mit den Hunden gehabt haben, die er klaute. Es stimmt nicht. Aber es passt gut. Finden die, die es erzählen. Es gibt keine Intimsphäre, jeder redet über jeden, jeder will von sich ablenken, streut Gerüchte, nach allen Seiten. Burkhard ist auch ein Symbol. Er ist der Schwächste, der Angreifbarste von allen. Er hat nichts und niemanden.

Burkhard wohnt am anderen Ende von Gerhards Hof in einem Stall. Ohne Fenster, die Wände unverputzt. Drinnen sind Tüten, Kartons, Holz- und Metallteile. Wie Einrichtungsgegenstände. Statt einer Tür hat er ein Gatter und einen Vorbau aus Maschendraht und Tarnnetzen. Es sieht aus wie der Eingang zu einem Bunker. Burkhard wollte im Stall wohnen - er hat Gerhard darum gebeten. Er liebt die Unabhängigkeit.

Fahles Licht fällt durch die Fenster. Die Wolken sind bleifarben, es regnet viel, und der Wind fegt über die Hügelketten. Der Kaffee läuft in die Kanne. Heinz nimmt einen Schluck. Er grunzt, schraubt die Flasche mit dem Handballen zu. Eine Flasche Klaren trinkt er am Tag. Für heute ist Feierabend. Er hat die Betonmischung für Gerhards Mauer gemacht und Holz für den Wirt gehackt.

Täglich baut Gerhard an der Mauer, zieht sie höher. Begradigt Krummes, indem er es mit Steinen ausfüllt und Heinz´ Betonmischung dazwischenschmiert. Er mauert nach Augenmaß, nie nach Richtschnur. Heute sind es 20 Zentimeter, die er die Mauer höher gezogen hat.

Es ist nicht die Hühnerkacke auf dem Boden der Küche, nicht die randvollen Aschenbecher, nicht der Geruch, der sich in der Nase festsetzt. Es stört nicht einmal die Tristesse in den Worten und Gesten. Was einem seltsam vorkommt, ist, dass den dreien gegenüber keine Gefühle entstehen. Kein Mitleid, keine Abscheu, nichts. Man sieht sie an und denkt: Gerhard, Heinz und Burkhard haben die Probleme, die alle haben. Alkohol, Einsamkeit, Resignation, Depression, die Macht des Alltags. Träume und Sehnsüchte, die nie in Erfüllung gegangen sind. Die drei haben eine Möglichkeit gefunden, damit umzugehen. Sie bleiben innerhalb der Mauer, eingeschlossen mit dem, was sie bewegt.

Burkhard nimmt eine Tasse aus der Spüle, wischt sie mit der Hand aus und gießt sich ein, bis zum Rand. Er trägt Baseballkappe, Blousonjacke, Schnürstiefel und Jeans. Klein und kompakt ist er. Ein brauner Schleier liegt über seinen Sachen und seinem Gesicht.

Burkhard hatte nie ein Zuhause. Seiner Mutter war er gleichgültig, der Vater erkannte ihn nicht als Sohn an. Die Großeltern nahmen ihn auf. Der Großvater war Bürgermeister von Klaushagen. Jeden Morgen brachte er den Jungen zur Haltestelle und passte auf, dass er in den Schulbus stieg. An der nächsten Station, in Jakobshagen, stieg Burkhard aus und versteckte sich im Wald. Die Einsamkeit zog ihn an, schon immer.

Die Uckermark ist Moränenlandschaft. Die Steine in Gerhards Mauer sind das Erbe der Moränen. Jedes Jahr kommen sie unter dem Pflug, tonnenweise, und die Bauern laden sie auf Hänger und kippen sie auf Gerhards Hof. Gerhard braucht dann nur noch den Beton für die Fugen. Die innere Mauer, die Quermauer, will er durch weitere Mauern ergänzen, quer und längs, labyrinthisch. Der Hof ist fast so groß wie ein Fußballfeld. Beim Mauern kann Gerhard am besten denken. Mauern und denken. Es vertreibt ihm die Zeit.

Gerhard hat zwei Hunde, dackelartig, mit langem Fell. Die Hunde schnüffeln, bellen und wollen schmusen. Der Jüngere ist niedlich und fein. Gerhard fürchtete, dass Burkhard ihm die Hunde klaut. Das war der Grund, weshalb er ihn dann doch auf den Hof gelassen hat. Beim Mauern fiel ihm ein: Ehe Burkhard mir die Hunde klaut, nehme ich ihn bei mir auf, so habe ich ihn unter Kontrolle.

Die Moral fehlt. Es wird keinen Höhepunkt geben. Weder einen guten noch einen schlechten. Es wird so sein, wie es dann ist. Gerhard, Heinz und Burkhard bewegen sich am Rand. Die deutsche Einheit, die politischen und wirtschaftlichen Krisen der letzten Jahre haben sie nicht berührt. Sie wären unter allen Umständen so geworden, wie sie jetzt sind. Sie stehen für nichts als die Tatsache, dass es unter allen Umständen Außenseiter gibt, Sonderlinge, Verlierer. Solche, die schon unterlegen waren, bevor sie begonnen hatten. Die nicht einmal die Chance hatten zu sagen, ich steige aus.

Gerhard verwaltet Heinz´ Invalidenrente und Burkhards Sozialhilfe. Er ist selber invalid geschrieben, seit 16 Jahren, der Rücken. Gerhard besitzt ein paar Hektar Land, draußen, er macht eine Geste, als würfe er etwas sehr weit weg. Er weiß, wieso die DDR unterging. Wegen des Suffs und weil es nichts zu kaufen gab.

Er hatte nach Feierabend gesoffen und während der Arbeit vom Saufen geredet, er war Schlosser auf der LPG. Zur ersten freien Volkskammerwahl hörte er mit dem Trinken auf. Auf einmal fand er es schade um das Geld, das er vertrank. Im September 1989 sammelte er Unterschriften für das Neue Forum, für eine reformierte DDR. Die Stasi aus Templin kam ins Haus, nahm ihn mit und ließ ihn am nächsten Tag wieder frei. Die Flagge mit Hammer und Sichel hängt im Flur, fleckig und blass, und manchmal legt er Ernst Busch auf und hört die alten Kampflieder. Spaniens Himmel breitet seine Sterne.

Alle haben sie damals gesoffen, und die meisten saufen heute noch. Burkhard hat vor zwei Jahren aufgehört. Er musste aufhören, das war Gerhards Bedingung. Heinz kann nicht aufhören. Die Flasche bekommt er von Gerhard, jeden Nachmittag um halb vier. Sie haben ihn aufgegeben. Prost, sagt er, zeigt die Zunge und zwinkert mit dem guten Auge. Viele haben sich totgesoffen. Gerhard war dabei, als sein Bruder, Gastwirt in Klaushagen, röchelnd und heulend Schleimiges erbrach, bis er verstummte.

Heinz jüngerer Bruder hat sich im Suff erhängt. Heinz hat ein Foto von der Hochzeit des Bruders. Es ist das einzige persönliche Stück, das er besitzt. Er schaut es oft an, besonders die Frau. Er tut so, als wäre es seine. Er zeigt sie auf dem Foto, und beim Lächeln werden seine Wangen rund und frisch. Die Leberzirrhose ist schon da, und Burkhard meint, Heinz hat bloß noch zwei oder drei Jahre. Eines Morgens wird man ihn finden, mit verschleimtem, erstarrtem Gesicht, und niemand wird da sein, der um ihn trauert.

Das platte Land. Der Horizont. Das Grün. Der Sonnenuntergang. Das ist schon was. In der Stadt wären Heinz und Burkhard tagsüber auf der Straße und nachts in einem Heim. Bei Gerhard sind sie Heinz und Burkhard. Mit einem Gesicht, einem Leben, einer Geschichte. Ohne Gerhard wäre Heinz wahrscheinlich längst tot. Den Schnaps für ihn hat Gerhard unter dem Bett. Heinz würde vier Flaschen am Tag schaffen, wenn er sie bekäme. Aber Gerhard gibt ihm immer nur eine. Und lacht dabei über ihn.

Ohne Gerhard wäre Burkhard wahrscheinlich längst wieder im Gefängnis gelandet. Oder totgeschlagen. Er hatte in Boizenburg einen angeleinten Pitbull losgemacht und mitgenommen. Die Jungen von Jakobshagen, Klaushagen und Boizenburg machten Jagd auf ihn, über Tage hinweg, sie zogen in Gruppen über die Dörfer, sie hatten Spaß, und sie kriegten ihn. Er hatte sich versteckt, zuletzt in einer alten Scheune. Sie traten ihn zusammen. "Noch einmal, und ...", sagten sie zu ihm, als sie mit ihm fertig waren. Es war Selbstjustiz, und keiner hat es verhindert oder verhindern wollen.

Seit er bei Gerhard ist, hat Burkhard nicht nur einen festen Wohnsitz und einen Personalausweis. Er hat auch eine Aufgabe. Gerhard hat ihm einen Rasenmäher gekauft. 40 Euro zahlt Burkhard jeden Monat von der Sozialhilfe an Gerhard ab. Er mäht morgens ab acht Uhr das Gras im Umkreis von 30 Kilometern. Bei jedem, der ihn ruft. Er macht es ohne Geld. Er will es so. Er mäht auch dort, wo es gar nicht nötig wäre. Er ist stolz auf sein Mähen und den Krach, den er dabei macht.

Gerhard möchte nicht, dass es wie eine Wohngemeinschaft ist. Er ist störrisch, zieht die Brauen zusammen, er ist hier die Autorität, er will Ordnung, Abgrenzung. Die Mauer. Das Draußen soll draußen bleiben. Er will nicht, dass die Dinge ins Gleiten geraten. Sitzt man erst zusammen, kommt bald der Suff. Der Suff macht alle zu Ungeheuern. Am Abend holen sich Heinz und Burkhard bei Gerhard ab, was sie am nächsten Tag brauchen. Brot, Wurst, Margarine, Cola. Ab 20 Uhr ist jeder für sich. Gerhard im Haus, Heinz in der Laube, Burkhard im Stall. Drei Parabolantennen zeigen an, dass es so ist.

Es gibt niemanden, der anzuklagen wäre. Am wenigsten Gerhard, Heinz und Burkhard selbst. Sie sind da und werden ihr Leben bis zur letzten Sekunde leben, abgeschottet hinter der Mauer aus Feldsteinen und den täglichen Ritualen. Ohne Aussicht auf Besserung, Erlösung oder ein Entrinnen. Sie sind höflich, freundlich und nie überheblich oder verbittert, obwohl sie nie zum Zuge kamen. Irgendwie ist es, als wäre bei ihnen schon am Anfang das Ende abzusehen gewesen. Sie sind Menschen, die zurechtkommen wollen und müssen, mit den Mitteln, die sie haben.

"Gleich acht", sagt Gerhard. Er langt den Tabak und die Packung mit Hülsen, Filtern und der Vorrichtung zum Stopfen vom Regal. Nachher wird er vor dem Fernseher sitzen und Video gucken, heroische Filme, Der längste Tag oder Die Brücke von Remagen, und 150 Zigaretten dabei machen. Es ist der Tagesbedarf der drei. Die Abende auf Gerhards Hof sind lang und einsam.


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