Dort, wo Kurt und Marias silbergrauer Renault in der Garage steht, inmitten einer Kiefernschonung, nicht weit entfernt von Fürstenberg, ist Carolinenhof, die Siedlung. Sechs Häuser, Gärten, Kleinviehställe. Früher, vor dem Krieg, ist Carolinenhof ein Gut gewesen. Nach dem Krieg baute sich eine Division Russen ihre Kaserne am östlichen Rand der Schonung hin. Kurt und Maria, die Flüchtlinge aus Hinterpommern und Schlesien, übernahmen Mitte der Fünfziger das Herrenhaus des Gutes, und aus dem Schafstall wurden Wohnungen für die sozialistischen Landarbeiter der LPG Dabelow.
Maria kommt ans Gartentor, 70 Jahre alt wird sie im Juni. Kurzgeschnittenes graues Haar, Seitenscheitel, tiefe Längsfurchen im Gesicht. Schnell kommt sie gelaufen, vom Haus her, mit straffen, kurzen Schritten, zierlich, die Augen wach, sie macht das Tor weit auf. "Schönen guten Tag."
Kurt ist da, ihr Mann seit 50 Jahren, groß, massig, alles Fett, früher einmal muss er gertenschlank gewesen sein. Er sieht runter auf das Beet, in dem er steht, eine der Tulpenpflanzen liegt breitgetreten unter ihm, und Kurt fragt sich, weshalb. "Angenehm", sagt er, "DDR", und gibt die Hand. Dann schiebt er die Brille den Nasenrücken hoch, seine Lieblingsgeste, sie steht ihm, gemütlich macht er sie.
Maria geht voran, sie geht die Treppe hoch, in den Flur und von da aus in die Küche, sie bittet Platz zu nehmen, sie zeigt auf die Polsterbank am Fenster, mit schöner Gebärde. Kurt sitzt bereits auf dem Stuhl, auf dem er immer sitzt, er packt den Kuchen aus, Käsekuchen, es ist nachmittags um vier, Kaffeezeit, ein großes Paket, aus dem Tiefkühlfach, seit dem Morgen aufgetaut.
Kurt schneidet den Kuchen, dann hievt er sich ein Stück auf den Teller, der vor ihm steht. Maria stellt den Kaffee hin, für jeden einen großen Pott, türkisch gebrüht, so mag sie ihn, Kurt auch. Sie setzt sich mit auf die Bank, verteilt die Stücken Kuchen, die Kurt geschnitten hat. "Später", sagt sie, "zum Abendbrot, mache ich uns was Ordentliches, Kasslerbraten mit Salzkartoffeln und Gemüse."
Die ersten Kuchenkrümel kleben an Kurts hellgrauem Pullunder, dick, fettig, süß. Maria tadelt mit Blicken, die Krümel machen Flecken, die nachher nicht mehr rausgehen. Kurt schiebt den Bauch unter den Tisch, senkt den Kopf und kratzt mit dem Daumennagel am Pullunder rum.
"Wenn Sie man nicht von der Stasi sind", sagt Kurt von unten rauf. "Die kamen auch immer so an und saßen dann so da, so brav, und fragten." Ein Scherz, natürlich, er lenkt von der Krümelei ab, und Kurt freut sich.
"Mensch, Opa." Maria schlägt über den Kuchenteller hinweg mit der Hand nach ihm. Zu spät. Ein weiteres Stichwort ist gefallen. Nicht um Kurt und Maria wird es gehen und wie sie ihren Lebensabend verbringen, tief in der südmecklenburgischen Provinz. Die Zeiten sind nicht so. Um Politik wird es gehen, um die Deutsche Demokratische Republik und was von ihr übrig ist.
"Nein", sagt Kurt. "Den Honi wollen wir nicht wiederhaben. Der Honecker ist tot, wie der Kaiser, der Führer, alle tot, und alle haben sie uns beschissen. Heute bescheißen sie uns wieder, die da oben. Aber warum gucken die nicht wenigstens einmal nach hier drüben? Nach dem, wie es bei uns gewesen ist? Die Schulbildung, die Kindergärten, die Polikliniken, die Arbeitspolitik?"
Still ist es im Haus, keine Uhr tickt, keine Tür schlägt. Draußen leuchtet die Sonne in jeden Winkel, es ist wie ein Aufstöbern, wie ein Erwachen. Frühling. Durch die große getönte Scheibe der Küchentür ist etwas vom Wohnzimmer gegenüber zu sehen. Ein Teppich, ein Buffet, eine beige Couch.
"Ach, Opa", sagt Maria. "Hör doch auf damit." Sie steht auf, stellt sich an den Herd hinter Kurt. "Die DDR wird bald vergessen sein. Dann, wenn unsere Generation mal nicht mehr sein wird." Keine Regung, wie sie das findet. Sie scheint es eben festgestellt zu haben.
"Nein, Oma. Vor dem Nichts haben wir gestanden, nach dem Krieg, das kann man nicht einfach so vergessen." Kurt will sich zu Maria umdrehen, aber der Bauch ist unterm Tisch, Kurt scharrt mit dem Stuhl. "Alles kaputt, niemand hat geholfen. Im Gegenteil. Getriezt haben sie uns, die da oben, wir mussten alles allein machen und das schnell. Jetzt wieder. Alles kaputt, niemand hilft, nur Getrieze. Als hätten wir den 3. Weltkrieg verloren. Die Menschen, sich selbst überlassen, das Land, ausgebrannt."
Es geht ihnen gut, sie könnten zufrieden sein, wenn sie es sein wollten. Zwei Autos in der Garage, neben dem Renault ein Suzuki, der Renault "für gut", wie Maria sagt, der Suzuki für den Alltag. Kurt hat seine Rente, aus über 40 Jahren Arbeitsleben, und den Renault hat er gerade erst von der Auszahlung der Lebensversicherung gekauft. Maria arbeitet noch, sie will es so. Ihre Befähigung zum Führen öffentlicher Personenverkehrsmittel ist im Januar amtlicherseits um vier weitere Jahre verlängert worden.
Bus fährt sie. Einen Reisebus, für Braasch-Reisen in Neustrelitz, Fernreisen. Spanien, Griechenland, Italien, auch Norwegen war schon dabei. Das Frühjahr und den Sommer durch, zehn Tage am Stück oder mehr ist sie dann jedes Mal fort.
Beide wohnen sie im ehemaligen Gutshaus, das sie vor einigen Jahren an eine Familie aus Berlin verkauft haben. Ein gutes Geschäft. Die Familie ist ausschließlich an den Wochenenden da, sie bewohnt die eine Hälfte des Hauses, und Kurt und Maria haben lebenslanges Wohnrecht in der anderen, so steht es im Vertrag.
"Lebenslang", sagt Maria. "Wie das klingt." Als wollte sie sagen, die paar Jährchen noch, was, Opa?
Der Sohn war ewig nicht da, fällt ihr bei der Gelegenheit ein. Klaus-Dieter, irgendwo in Schweden ist er, hat dort Arbeit gefunden, hier nicht, vor sieben Jahren, und so lange war er nicht zu Hause. "Wie verschollen ist er." Er meldet sich nicht mehr, Marias Stimme ist sanft und leise. Kurt poltert los, er will nicht zeigen, wie nahe ihm Klaus-Dieter geht und dass er nicht mehr kommt, die Brille rutscht den Nasenrücken runter. "Da, der Schrödl Dieter, der ist bei einer Installationsfirma in Kiel. Und sein Sohn, der Stefan, arbeitet im Gefängnis in Hamburg-Fuhlsbüttel. Hin und zurück, Tag für Tag."
Maria hantiert am Herd, sie wird sich jetzt ans Abendbrot machen, so hat sie wenigstens was zu tun. Die Kartoffeln, die Möhren, das Schälen und das Kochen, das alles braucht seine Zeit.
"So sieht es aus bei uns", sagt sie. "Kaum einer, der Arbeit hat in der Nähe, wenn er überhaupt eine hat. Wir haben uns die DDR aufgebaut, aus dem Nichts, und dann der Russe mit seinen Reparationen. Dennoch, wir haben es uns schön gemacht. Der Westen hat uns alles zerschlagen. Wie nach dem 3. Weltkrieg, stimmt genau." Sie wendet den Kopf und blickt auf Kurts Rücken, zärtlich.
"Ach, wenn es nur das wäre." Kurt hat den Bauch unter dem Tisch hervorgezogen und schielt nach dem Kasslerbraten, den Maria gerade auf den Kühlschrank legt. "Die Mörder, die Diebe, die Kinderficker. Das alles läuft frei rum. Früher gab es so was nicht. Früher hieß es, was den Menschen nicht nützt, soll ihnen auch nicht schaden." Kurt macht eine Bewegung mit dem Kinn, faltet die Hände. "Und ab ging es."
Maria lässt Kurt meistens reden. An ihr hat er seine Grenze. Sie sind so viele Jahre verheiratet, und seit langem sind sie allein, aufeinander bezogen, durch niemanden gestört. Sie will, dass er redet, viel mehr als das Reden ist ihm nicht geblieben. Jetzt fuchtelt sie mit den Armen hinter seinem Rücken. Lass ihn reden, soll das heißen. Gerede, weiter nichts. Aber Kurt merkt, wenn er dabei ist, zu weit zu gehen und Maria zu verärgern. Jetzt ist es soweit. Jetzt, da er hinzufügt: "Schade, dass wir keine Steinbrüche mehr haben."
Maria fängt zu zischeln an, den Kopf vorgestreckt, bereit zuzuschnappen. "Genug jetzt", ist zu hören. "Muss denn das sein?" Kurt zuckt zusammen, aber er tut so, als hätte er nicht verstanden, er legt die Hand ans Ohr.
"Die Betriebsfeste", sagt er unvermittelt und blinzelt listig, "weißt du noch", und hat Maria augenblicklich wieder auf seiner Seite.
"Oooch, waren die nicht schön", sagt sie und stupst Kurt mit dem Ellenbogen in die Seite. Sie ist versöhnt, sie liebt ihn wieder. Sie lässt das Schälmesser sinken und die angefangene Kartoffel, die Zunge fährt über die Lippen, als könnte sie den Geschmack jener Zeit zurückholen. Gut schmecken würde es, ja. Marias Augen glänzen.
Dann fallen ihr die Jahre ein, die zwischen damals und heute liegen, und dann der neue Staat, der Staat BRD, den sie beide nicht gewollt haben, Kurt und Maria, "wir wollten den Westen nicht, nein, wir nicht", und sie schält an der Kartoffel weiter, mit schnellen, ruckartigen Bewegungen. Der Braten ist schon in der Backröhre, ein Vier-Pfund-Stück, saftig, dunkelrot.
Kurt hat Akkordeon gespielt, wenn der VEB Kraftverkehr Neustrelitz Betriebsfest hatte. Sie haben getanzt, gelacht, getrunken, Kurt und Maria, mit den anderen zusammen. Maria war beinahe die einzige Frau im Betrieb, die einzige Fahrerin ohnehin, es gab nur noch die Lisa aus der Buchhaltung und die Herta aus dem Materiallager. Friede, Eintracht, Gleichklang herrschten an solchen Abenden, und dafür lebten sie. Für dieses eine Mal im Jahr, 40 Jahre lang. Was sind dagegen die Stasi gewesen, die Mauer, die ständige Kontrolle. Der ideologische Wahn, von der Einheitspartei verordnet und durchgesetzt. Kleinigkeiten? War nicht überhaupt alles schön?
"Und jetzt, he?" Kurts Stimme verliert ihr gemütliches Timbre, sie wird spitz. "Die Kontrolle? Deine Geldkarte, dein Handy, sie wissen zu jeder Sekunde, wo du bist, was du tust. Diese Macht hat die Stasi nie gehabt." Kurt lehnt sich zurück, er dreht den Kopf, er will Marias Blick auffangen, er will Bestätigung. "Heute, der perfekte Überwachungsstaat", sagt er noch einmal in ihre Richtung, laut. Maria ist mit den Kartoffeln fertig, ihr Blick, unsicher, sie sucht nach etwas, womit sie Kurt Recht geben kann.
"Heutzutage", sagt sie dann, und ihr Blick trifft schließlich das Gewürzregal, den Pfeffer wird sie gleich brauchen. "Heutzutage ist es fast wie in der DDR. Einige schaffen den Reichtum, den Rest ernährt der Staat. Bloß hatte man in der DDR das Gefühl, gebraucht zu werden. Heute, arbeitslos, wertlos. Damals hatte jeder eine Arbeit. Jeder musste arbeiten." Kurt und Maria, Arbeiterklasse, Aufbaugeneration Ost. Hart. Aber gerecht. So versteht sich diese Generation.
Kurt war erst Schmied und dann in der Partei, SED-Parteiinstrukteur, untere Ebene, und wäre nach der Vereinigung fast Bürgermeister der Gemeinde Dabelow geworden, zu der Carolinenhof gehört. Fast, wenn Kurt gewollt, wenn er kandidiert hätte, die Leute hatten ihn bereits vorgeschlagen. Er hatte sich für eine neue Straße von Carolinenhof nach Altthymen eingesetzt, fünf Kilometer lang, asphaltiert, er hat sie erkämpft, Meter für Meter, gewissermaßen. Gegen den Willen des Landrates in Fürstenberg. Der war aus dem Westen nach Mecklenburg-Vorpommern gekommen. Der neue Feind war der alte Feind.
Kurts Kampf für die Straße hatte die Leute beeindruckt, sie wollten Kurt, aber Kurt wollte nicht, nicht im Staat BRD. "Früher die Rothäute, die hundertfünfzigprozentigen SED-Chefs. Und heute die neuen Bonzen. Nein, du, nicht mehr mit mir."
Maria fuhr Bus in Neustrelitz, Arbeiterberufsverkehr, fast 30 Jahre lang. Sie schaffte die Leute aus der Umgegend morgens zur Arbeit und abends wieder zurück. Und manchmal Reisende ins sozialistische Ausland, Ungarn, Polen, die Tschechoslowakei. Die Arbeit gefiel ihr. Sie beherrschte eine Maschine, die Straße, den Verkehr. "Ich habe von Kind an Busfahrerin werden wollen."
Draußen zieht sich die Sonne zurück, ein farbentrunkenes, genussvolles Verlöschen am Horizont. Drinnen drei Teller auf dem Tisch, Besteck, zwei Flaschen Bier, Kurt hat sie hingestellt und gleich geöffnet, "na, denn Prost, Mann". Maria wird Tee nehmen, Pfefferminz.
Nie sind die Stasi, die Mauer und alles, was damit zusammenhing, Gesprächsthema in der Familie Kurt und Maria Hoffmann gewesen, jedenfalls kein kritisches. Früher, als es die Stasi gab und die Mauer. Kurt und Maria wussten, wo die Front verlief und warum sie da war. Gute DDR-Bürger waren sie, und im Grunde sind sie es noch immer. Vielleicht sogar mehr als sie es damals je gewesen sind.
"Warum nicht." Maria beobachtet die Möhren in der brodelnden Butter, es beginnt zu duften, nach Sicherheit, Geborgenheit, Behaglichkeit. "Schön, alles war nicht in Ordnung, und am Ende ging es den Bach runter, aber Gerechtigkeit war da." Sie sticht mit der Gabel in die Kartoffeln, sie sind gleich durch.
Kurt steht auf, der Kassler, er nähert sich dem Herd, öffnet die Backröhre. Schnuppert. Auch gleich durch.
"Ja. Gerechtigkeit." Kurt hat plötzlich eine lange zweizinkige Gabel und ein schweres Messer in der Hand, das Tranchierbesteck für den Braten, es fährt durch die Luft. "Jetzt müssen wir dankbar sein für die Almosen, die der Westen uns rüberschiebt." Kurt setzt sich auf den Stuhl, auf dem er immer sitzt, mit Blick auf das Fenster, im Rücken die Tür.
Maria trägt auf. Die Kartoffeln, die Möhren, die Soße in der kleinen Schüssel. Das Fleisch zuletzt. Vor Kurt stellt sie es hin.
"Wunderschön", sagt Kurt und guckt den Braten an. Er zerteilt ihn, bedächtig, ein Ritual. Jeder der Schnitte sitzt, auch die um den Knochen rum. Das Ritual des Familienvorstandes, ein inniger Moment. Maria guckt Kurt an. Der nimmt sich als erster ein Stück. "Nun langt zu", sagt er und wünscht: "Guten Appetit".
Als der VEB Kraftverkehr Neustrelitz 1990 schließen musste, setzte sich Maria in ihren Wartburg und fuhr los. Zu Holiday-Reisen, nach Westberlin, sie wollte einen Job, sie wusste, dass sie Leute suchen, die Erfahrung im Führen von Bussen haben. Maria wusste auch, eine Gangschaltung ist immer ein "H" und ein Lenkrad immer rund. Im Osten wie im Westen. Überall auf der Welt.
"Was? Aus Dunkeldeutschland kommen Sie?" sagten sie zu ihr. "Nein. Lernen Sie erst mal arbeiten."
Zwei alte Leute, könnte man sich sagen. Was für Sachen die erzählen. Was für Erinnerungen die haben. Abseitig, unwichtig, könnte man sich weiter sagen. Man könnte es hin und her schieben. Oder von sich wegschieben. Dableiben würde es dennoch. Auch über Kurt und Marias Leben hinaus.
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