Berliner Republik?

Kommentar Karlsruhe beerdigt den Solidarföderalismus

Das ist eine Zäsur in der bundesdeutschen Nachkriegsordnung - nach dem Karlsruher Richterspruch ist eine Haushaltsnotlage nicht länger dadurch gekennzeichnet, dass ein Land chancenlos in der Zinsfalle sitzt. Eine Haushaltsnotlage ist seit der Abweisung der Klage Berlins erst dann erreicht, wenn ein Land keine Kredite zur Bedienung der Zinsen mehr erhält, also alles öffentliche Vermögen verkauft hat und die gesetzlich vorgeschriebenen Ausgaben nicht mehr tätigen kann. Mit dieser Neuinterpretation der Haushaltsnotlage wurde der Solidarföderalismus juristisch beerdigt und höchstrichterlich der Wettbewerbsföderalismus ausgerufen. Man darf die Entscheidung neoliberal nennen, ohne sich deshalb der Richterschelte verdächtig zu machen. Berlin, so die Richter, sei noch nicht arm und verschuldet genug, um von einer Notlage sprechen zu können. Berlin möge sich bitte selbst helfen.

Wie allerdings ein Gemeinwesen in der Lage sein soll, Schulden von über 60 Milliarden Euro abzubauen, wenn der Landesetat pro Jahr knapp 20 Milliarden beträgt und von den Einnahmen nur etwa die Hälfte aus eigener (Steuer-)Kraft generiert wird, haben die Richter zwar nicht im Detail gesagt, aber angedeutet. Berlin leiste sich "Luxus", den andere Bundesländer nicht haben. Dazu zählen auch "Überausstattungen" bei Kultur und Wissenschaft. Und so lange die bestehen, könne Berlin nicht erwarten, dass andere helfen. Der Richterspruch spiegelt eine weit verbreitete Stimmung wieder, der zufolge der Begriff Berliner Republik eigentlich auf den Index gehören müsste. Stoiber, Koch Co. artikulieren ein Ressentiment der alten Bundesrepublik, die mit einer Hauptstadt im Osten nichts anzufangen weiß. Und im Osten selbst regt sich offenbar immer noch alter Berlin-Neid aus DDR-Tagen. Während der Beifall der Länderchefs aus dem wohlhabenderen Südwesten von einer zwar rabiaten, aber durchaus konsequenten Haltung im Verteilungskampf zeugt, ist der Applaus ostdeutscher Ministerpräsidenten mehr als kurzsichtig. Bedient doch Karlsruhe eine Art von föderalem Wettbewerb, der die grundgesetzlich garantierten gleichen Lebensverhältnisse nur noch auf Hartz IV-Niveau anerkannt wissen möchte. In einem solchen Wettbewerb wird vor allem dem gegeben, der schon hat.

Dieses unsolidarische Prinzip lässt sich sehr deutlich am Beispiel Hochschulpolitik veranschaulichen. Von den 130.000 Studierenden in Berlin kommt mehr als die Hälfte aus anderen Bundesländern. Damit finanzieren die Berliner Steuerzahler auch wohlhabenden Ländern wie Bayern oder Baden-Württemberg die Ausbildung ihrer Abiturienten, weil die traditionell weit unter eigenem Bedarf Studienplätze anbieten und diese zuletzt sogar massiv abgebaut haben. Was so an der Lehre auf Kosten anderer gespart wurde, floss in die Forschung und wird jetzt mit zusätzlichen Bundesmitteln in der Exzellenzinitiative belohnt. Damit nicht genug - inzwischen hat auch die Bundesregierung erkannt, dass wir nicht weniger, sondern mehr Hochschulabsolventen brauchen. Der von Frau Schavan initiierte Hochschulpakt verspricht mehr Bundesmittel für neue Studienplätze. Er belohnt damit jene reicheren Länder, die schon vor dem Stichjahr 2005 ihr Lehrangebot reduziert haben und es nun mit Bundeshilfe wieder aufbauen dürfen. Und er bestraft andere Länder wie Berlin, die seit 2005 wegen der Haushaltszwänge Studienplätze abbauen mussten oder wegen der demographischen Entwicklung nur schwer die jetzigen Kapazitäten halten können.

In der Logik von Karlsruhe sähe die "Lösung" so aus: Berlin baut seine "Überausstattung" ab und schließt eine Universität, die dann in Bayern oder Baden-Württemberg neu aufgebaut wird. So spart Berlin 300 Millionen Euro - und könnte damit gerade mal den Zinsanstieg eines Jahres kompensieren. Man muss kein Berliner sein, um die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens zu erkennen. Sinnvoller wäre ein auch von mir favorisiertes System der Hochschulfinanzierung, in dem das Geld des Landes, in dem das Abitur abgelegt wurde, den Studierenden folgt. Auch so hätten wir mehr Wettbewerb. Aber einen Wettbewerb der Hochschulen und Länder um Studierende - unter fairen Bedingungen.

Berlin gibt inzwischen nicht mehr aus als es einnimmt. Der Primärhaushalt (ohne Zins und Tilgung) ist ausgeglichen. Daran hat die Linkspartei mitgewirkt. Dazu steht sie, nicht aber zur Vernichtung der Zukunft Berlins. Bildung, Wissenschaft und Kultur sind die einzigen, wirtschaftlich und gesellschaftlich relevanten Chancen der Stadt - zugleich strategische Felder der bundesdeutschen Zukunftsdebatten. Es lohnt sich für die Linke, hier Politik zu machen. Wenn die Bedingungen stimmen, auch weiter im Berliner Senat.

Thomas Flierl ist Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Berlin.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden