Gesundheit als Quadratur des Kreises

Zwischen Ärzten und Kassen Bis zu den Wahlen heißt die Aufgabe für Ulla Schmidt, alle Beteiligten bei Laune zu halten und zugleich grundlegende Entscheidungen zu vermeiden

Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hat bislang vor allem die Interessen von Ärzten und Pharmaindustrie bedient. Gleichzeitig will sie die Beitragssätze stabil halten. Wie beides zusammenpassen soll, ist unklar. Der Ausweg aus dem Dilemma dürfte auf Kosten der Versicherten gehen: Nach der nächsten Bundestagswahl droht eine Teilprivatisierung des Gesundheitssystems.

Ruhe schaffen ist derzeit erste Ministerpflicht. Wenn es nach dem Kanzler geht, soll Ressortchefin Ulla Schmidt das Thema Gesundheitspolitik vor allem aus dem Bundestagswahlkampf heraushalten. Das verlangt zweierlei: dass erstens die Beitragssätze stabil bleiben und zweitens die betroffenen Akteure, vor allem Ärzte und Patienten, sich öffentlich nicht zu stark über die damit verknüpften Versorgungsrestriktionen und Verteilungskonflikte beklagen. Die Ereignisse der zurückliegenden Wochen deuten darauf hin, dass beides kaum miteinander zu vereinbaren sein wird.

Konsens ist das Zauberwort, mit dem die Gesundheitsministerin die Zeit bis zum Oktober 2002 überbrücken will. Diesem Ziel dient vor allem der neu geschaffene Runde Tisch, an dem wichtige Akteure des Gesundheitswesens sitzen. Das Gespräch zwischen den Beteiligten soll helfen, neue Lösungen für alte Probleme zu finden. Allerdings ist unklar, wie dies angesichts der bekannten Interessengegensätze funktionieren soll. So geht es beim Runden Tisch wohl eher darum, die Beteiligten bei Laune zu halten und zugleich grundlegende Entscheidungen zu vermeiden.

Spürbarer Anstieg der Arzneimittelkosten im vergangenen Quartal

Als Ulla Schmidt im Januar 2001 an die Spitze des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) trat, hatte sie es vor allem mit zwei akuten Problemen zu tun: mit den Folgen des Arzneimittelbudgets und mit den Verwerfungen, die durch die freie Kassenwahl und die damit etablierte Wettbewerbsordnung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eingetreten waren. Das BMG hatte es zunächst als vordringlich angesehen, den Konflikt um die kollektive Haftung der Ärzteschaft für eine Überschreitung ihrer Arzneimittelbudgets zu entschärfen. In der Ärzteschaft war dieser Kollektivregress auf scharfe Kritik gestoßen. Die Kassen hingegen sahen darin eine effektive Möglichkeit, die Arzneimittelausgaben zu begrenzen. Sie verwiesen darauf, dass die Ärzte sonst dazu neigten, ihre Leistungen ohne medizinische Begründung auszuweiten. Dass die Arzneimittelausgaben allein nach der Ankündigung Schmidts, den Kollektivregress abzuschaffen, in den ersten drei Monaten dieses Jahres teilweise um mehr als 10 Prozent gestiegen sind, werten die Kassen heute als Beleg für diesen Zusammenhang.

Grundsätzlich liegt das Problem der Budgets darin, dass ihr Umfang nicht an einem gesundheitlichen Versorgungsbedarf, sondern an der Beitragssatzstabilität - einer volkswirtschaftlichen und damit der Gesundheitsversorgung wesensfremden Bestimmungsgröße - ausgerichtet ist. Ob die gegenwärtige Form der Ausgabenbegrenzung bereits zur Rationierung von Arzneimitteln geführt hat, ist in der gesundheitspolitischen Diskussion allerdings umstritten. Die zum Teil erheblichen - und nicht durch unterschiedliche Krankenziffern erklärbaren - regionalen Unterschiede bei der Verordnung von Medikamenten werden als Hinweise auf eine partielle Überversorgung interpretiert. Dem stehen allerdings die sich häufenden Rationierungserfahrungen von Patienten gegenüber. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass ein Teil der auf GKV-Kosten verordneten Medikamente unwirksam ist. Hier könnte wohl am besten eine Positivliste Abhilfe schaffen, also eine Beschränkung der von den Kassen zu erstattenden Präparate auf solche, deren Wirksamkeit nachgewiesen ist.

Die Bundesregierung hat mittlerweile einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der die Abschaffung der ärztlichen Kollektivhaftung vorsieht. Statt finanzieller Sanktionen sieht dieser ein Steuerungskonzept vor, das neben der Festsetzung des Ausgabenvolumens auch die Definition von Versorgungs- und Wirtschaftlichkeitszielen umfasst, die zu konkretisieren der gemeinsamen Selbstverwaltung aus Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen vorbehalten sein soll. Das den Ärzten zustehende Verordnungsvolumen hat sich dem Gesetzentwurf zufolge künftig an Richtgrößen zu orientieren. Dabei wird dem Arzt in Abhängigkeit von der Zahl seiner Patienten eine Ausgabenobergrenze auferlegt, die zudem nach Altersstufen und Krankheitsarten differenziert wird. Überschreitet er diese Grenze nur geringfügig, soll er beraten, bei einer erheblichen Überschreitung unter Umständen finanziell zur Verantwortung gezogen werden. Dabei darf allerdings der Bestand der Praxis nicht gefährdet werden.

Im Risikostrukturausgleich fehlt der Faktor "Krankheit"

Ob auf diesem Wege die Ausgabenentwicklung wirkungsvoll eingedämmt und zugleich die Qualität der Arzneimittelversorgung verbessert werden können, darf allerdings bezweifelt werden. Die Ärzteschaft lehnt im Grunde genommen jeglichen Eingriff in ihre professionelle Autonomie ab und verfügt über genügend Verhandlungsmacht, entsprechende Restriktionen zu blockieren oder zu verwässern. Für die Regierung könnte sich das Ziel, rigide Ausgabenobergrenzen zu definieren und dabei die Ärzteschaft nicht gegen sich aufzubringen, als eine Quadratur des Kreises erweisen, da die Ärzte eine völlige Abschaffung der Budgets anstreben. Letzter Ausweg: Einer Politik, die um das Wohlwollen der Ärzteschaft buhlen und zugleich die Beitragssätze stabil halten will, bliebe letztlich wohl nur der Weg, einen Teil der Krankenbehandlungskosten auf die Patienten abzuwälzen.

Wohl noch größere Bedeutung als die Abschaffung des Kollektivregresses aber hat die zweite Reform in der Gesundheitspolitik, die Organisationsreform der GKV. Mit der freien Kassenwahl wurde zugleich ein finanzielles Umverteilungsverfahren zwischen den Kassen ("Risikostrukturausgleich") eingeführt, um das gezielte Werben "günstiger Risiken" (gesunder, junger Versicherter) die Attraktivität zu nehmen: Kassen mit einem überproportionalen Anteil junger, gut verdienender Versicherter müssen seitdem an Kassen mit risikoreicherer Klientel einen Teil ihrer Einnahmen abführen. Da aber der Faktor "Krankheit", das heißt der Gesundheitszustand der Versicherten, nicht in den Finanzausgleich einging, kann der Risikostrukturausgleich den Anreiz zur Risikoselektion nicht in ausreichendem Maß entgegenwirken. Einige Krankenkassen waren bei der Umwerbung "guter Risiken" besonders erfolgreich und konnten daher zum Teil sehr niedrige Beitragssätze anbieten, während andere auf ihren "schlechten Risiken" sitzen blieben. Ohne staatliche Eingriffe drohte ein Teufelskreis aus immer neuen Beitragssatzanhebungen und Mitgliederabwanderungen.

Vor diesem Hintergrund war eine Reform der Kassenwahl und des Risikostrukturausgleichs überfällig. Das Bundesgesundheitsministerium einigte sich mit den Krankenkassen auf ein Konzept, das zunächst eine Reform der Kassenwahl vorsieht: Die Wahlfreiheit wird bis zum Ende dieses Jahres ausgesetzt, der 30. September als bisheriger Stichtag für den Kassenwechsel abgeschafft und stattdessen ab dem 1. Januar nächsten Jahres eine generelle sechswöchige Kündigungsfrist zum Monatsende bei einer obligatorischen Mindestbindung von 18 Monaten an die neue Kasse eingeführt. Darüber hinaus wurden Maßnahmen zu einer stärkeren finanziellen Umverteilung zwischen den Kassen vereinbart: Die Behandlungskosten für besonders teure Patienten sollen teilweise auf die Solidargemeinschaft aller Krankenkassen umgelegt werden, finanzielle Anreize für die verbesserte Versorgung chronisch Kranker ("Disease Management-Projekte") eingeführt und langfristig der Faktor "Krankheit" beim Finanzausgleich zwischen den Kassen berücksichtigt werden. Die Veränderungen bei der Kassenwahl haben bereits den Bundestag passiert, der Gesetzentwurf zur Reform des Risikostrukturausgleichs wurde letzte Woche vom Kabinett verabschiedet.

Vor einem Systemwechsel in der Krankenversicherung

Allerdings ist große Skepsis angezeigt, ob diese modifizierten Steuerungsmechanismen allein stark genug sind, um Kassen zu veranlassen, die Umwerbung "günstiger Risiken" zu stoppen. Ohne umfassende Disease-Management-Projekte für chronisch Kranke ist auch der Anreiz zur Risikoselektion keineswegs beseitigt und die versichernde Krankenkasse hätte nach wie vor die Hauptlast für die Versorgung besonders teurer Versicherter zu tragen.

Außerdem hat die Bundesregierung auf Betreiben der Grünen die ursprünglich geplante und mit den Kassen verabredete Einführung eines Mindestbeitragssatzes von 12,5 Prozent zurückgenommen, der einen Kassenwechsel künftig finanziell weniger lukrativ gemacht hätte. Zusätzlicher Druck erwächst nun auch daraus, dass zwei große Ortskrankenkassen mit mehreren Millionen Versicherten ihre Beitragssätze deutlich angehoben haben: die AOK Hessen von 13,8 auf 14,8 Prozent, die AOK Baden-Württemberg von 13,5 auf 14,2 Prozent. Das Ziel, den durchschnittlichen allgemeinen Beitragssatz in der GKV stabil zu halten, dürfte damit kaum noch zu realisieren sein.

Nichts ist in der Gesundheitspolitik besser geeignet, bei den Verantwortlichen Alarmstimmung auszulösen. Dennoch ist mit einer großen Gesundheitsreform in dieser Legislaturperiode nicht mehr zu rechnen - sehr wohl aber nach der Bundestagswahl. Allen gegenteiligen Beteuerungen aus den Koalitionsfraktionen und dem Gesundheitsministerium zum Trotz droht dann eine umfassende Privatisierung der Krankenbehandlungskosten. Für den Gesundheitsbereich wird hier vermutlich das nachvollzogen werden, was in der Rentenpolitik in dieser Legislaturperiode vorexerziert wurde. Die Existenz eines Kanzleramtpapiers, das eine Trennung in kollektiv finanzierte Grund- und privat finanzierte Wahlleistungen erwägt, ist ein deutlicher Hinweis auf eine solche Entwicklung - und keineswegs der einzige. Dass ein solcher Systemwechsel am Widerstand aus den Koalitionsparteien scheitern wird, darf wohl kaum erwartet werden. Realistischer ist wohl die Bemerkung Horst Seehofers, der den Abgeordneten der Koalitionsparteien prophezeite: "Spätestens nach dem Befehl aus dem Kanzleramt fallen Sie wie Dominosteine um." Aber viele werden auch gar nicht erst umfallen müssen. Ulla Schmidt zumindest hat ihre Tauglichkeit für Privatisierungsstrategien im Bereich der sozialen Sicherung bereits unter Beweis gestellt - war sie doch maßgeblich an der Durchsetzung der Riester-Reform in der SPD-Bundestagsfraktion beteiligt.

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