NUR DIE BEITRAGSSTABILITÄT ZÄHLT Die neue Gesundheitsministerin Ulla ist den Ärzten entgegengekommen. Es besteht die Gefahr, dass sie sich von den Patienten entfernt
Keine Kollektivhaftung mehr für Ärzte, hat die neue Gesundheitsministerin Ulla Schmidt in ihrer ersten Bundestagsrede angekündigt. Offen aber blieb, wie die Bundesregierung ihr oberstes Ziel, die Beitragssätze stabil zu halten, erreichen will; und das bis heute. Werden nun die Versicherten zur Kasse gebeten?
Ulla Schmidt hat fürs Erste die Kritik von Ärzten, zunehmend aber auch Patienten, aufgenommen, die die Folgen der strikten Ausgabenbegrenzung, insbesondere durch die Arzneimittelbudgets, ins Visier genommen hatten. Für den Fall, dass Ärzte in einer Versorgungsregion das ihnen für die Verschreibung von Medikamenten zustehende Finanzvolumen überschreiten sollten, drohte dadurch eine kollektive finanzielle Haftung. Auch wenn die Regressdroh
uch wenn die Regressdrohung bisher keineswegs zu einer tatsächlichen Haftung geführt hatte, beklagten Funktionäre vor allem, dass Ärzte, die ihre Budgets einhielten, für ihre verordnungsfreudigeren Kollegen in die Tasche greifen müssten.Die Kassen, aber auch die bisherige Gesundheitsministerin Andrea Fischer sahen dagegen den Kollektivregress als eine effektive Möglichkeit, die Arzneimittelausgaben wirksam zu begrenzen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Ärzte ohne eine Budgetierung dazu neigen, Diagnostik und Therapie unbegründet auszuweiten, insofern gibt es zu diesem Instrument bisher keine Alternative. Dennoch besteht mit den gegenwärtigen Ausgabenbudgets ein grundsätzliche Problem: Ihr Volumen ist nicht an einem gesundheitlichen Versorgungsbedarf, der sich ermitteln lässt, sondern an der Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), also einer volkswirtschaftlichen und nicht der Gesundheitsversorgung wesenseigenen Bestimmungsgröße, ausgerichtet. Und die Beitragsstabilität scheint auch nach dem Wechsel an der Spitze des Gesundheitsministeriums das zentrale Ziel der rot-grünen Gesundheitspolitik zu bleiben.Ob die gegenwärtige Form der Budgetierung bereits zu Rationierungen in der Versorgungspraxis geführt hat, ist in der gesundheitspolitischen Diskussion heftig umstritten. Im regionalen, aber auch im internationalen Vergleich ergeben sich zum Teil erhebliche Unterschiede im Versorgungsniveau, ohne dass dies jedoch durch Unterschiede in Häufigkeit, Dauer und Schwere der Erkrankungen erklärt werden könnte. Dies trifft auch auf die Arzneimittelversorgung zu. Derartige Versorgungsdifferenzen werden als Hinweise auf eine partielle Überversorgung gewertet. Dem stehen freilich die sich häufenden und durchaus verbreiteten Rationierungserfahrungen von Patienten gegenüber, die mittlerweile Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden sind.Richtgrößen und Individualregress statt Budgetierung?Die Erfahrungen der Leistungsrationierung verweisen auf ein weiteres Kernproblem der praktizierten Budgetierung: Sie wirkt gleichsam als Heckenschnitt und ist nicht mit adäquaten Instrumenten der Feinsteuerung kombiniert. Selbst wenn das Gesamtvolumen für eine notwendige Versorgung ausreichen sollte, kann sie nicht gewährleisten, dass zielgenau diejenigen Leistungen identifiziert werden, die aus guten Gründen als überflüssig gelten können. Vielmehr wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die Folgen der Budgetierung nach unten durchgereicht und Leistungen im Praxisalltag vor allem denjenigen Patientengruppen vorenthalten werden, die sich in den Institutionen des Gesundheitswesens als am wenigsten durchsetzungsfähig erweisen. Weil dies in aller Regel auch die sozial Schwachen sind, bergen Budgets auch stets die Gefahr, soziale Ungleichheiten in der Versorgung zu verstärken. Dabei muss Rationierung nicht einmal auf eine explizite Vorenthaltung von Leistungen hinauslaufen. Sie fängt schon dort an, wo Ärzte den Patienten über effektivere Therapien nicht mehr informieren, wenn sie teurer sind als andere.Ungeachtet dieser Problematik hält die Bundesregierung am Grundsatz der Beitragssatzstabilität fest. Allerdings lässt sie die Frage unbeantwortet, wie sie dieses Ziel erreichen will, wenn sie selbst beginnt, die Budgets zu durchlöchern. Eine denkbare Alternative für den Arzneimittelsektor bestünde in der Einführung von Richtgrößen. Dabei würde dem Arzt in Abhängigkeit von der Zahl seiner Patienten eine individuelle Ausgabenobergrenze auferlegt. Beim Überschreiten dieser Grenze würde ein Individualregress greifen. Freilich würde eine solche Variante der Budgetierung die Ärzteschaft kaum besänftigen können, denn entscheidend ist aus ihrer Sicht, dass die Budgets überhaupt fallen. Das politische Ziel, einstweilen Ruhe in den Wartezimmern zu schaffen, würde die Bundesregierung damit sicherlich nicht erreichen. Da sie andererseits aber die Beitragssatzstabilität nicht antasten will, ist zu befürchten, dass bei der Suche nach weiteren Einsparmöglichkeiten der Blick die Versicherten nicht nur streift, sondern bei ihnen auch hängen bleibt.Was ist das medizinisch Notwendige im Leistungskatalog?Die jüngere gesundheitspolitische Debatte zeigt, dass dann ein anderer Eckpfeiler des Solidarsystems in der GKV wieder ins Wanken geraten könnte, an dem die rot-grüne Koalition bisher festgehalten hat: dem einheitlichen und gemeinsamen, alles medizinisch Notwendige umfassenden Leistungskatalog der Krankenkassen. Die Trennung in solidarisch finanzierte Grund- und privat zu finanzierende Wahlleistungen ist in der Regierungskoalition und den sie tragenden Parteien mittlerweile diskussionsfähig geworden. Es waren wohl die drohenden Beitragssatzanhebungen und die an Schärfe zunehmenden ärztlichen Proteste, die sie dazu veranlasst haben. Den Vorreiter machten die Grünen. Bereits im November vergangenen Jahres forderte ihr Parteirat eine "kritische Überprüfung des Leistungsumfangs" mit dem Ziel, "Überflüssiges, Fragwürdiges und Wünschenswertes zugunsten des medizinisch Notwendigen aus dem Leistungskatalog" zu streichen.Auch in der SPD deutet sich ein Meinungswandel an. Die neue Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, Gudrun Schaich-Walch, hatte sich schon in ihrer Eigenschaft als gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion in diesem Sinne geäußert. Dass die damalige stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ulla Schmidt SPD-intern der Reform der Rentenversicherung zur Durchsetzung verholfen hat, deutet ebenfalls darauf hin, dass es in der neuen Ministeriumsspitze wohl nicht an einer prinzipiellen Bereitschaft zu einem Systemwechsel in der Sozialpolitik mangelt. Jedenfalls verdichten sich die Anzeichen dafür, dass nach der Bundestagswahl 2002 eine Trennung des GKV-Leistungskatalogs in Grund- und Wahlleistungen ins Haus steht. Die Rücknahme des Kollektivregresses könnte ein Instrument sein, um den finanziellen Druck auf die Kassen zu erhöhen und dann mit dem Hinweis auf ansonsten unvermeidbare Beitragssatzanhebungen die Notwendigkeit schmerzlicher Einschnitte zu legitimieren.Und dies wird, wie auch schon unter der Vorgängerregierung, mit der Beteuerung verknüpft sein, alle medizinisch "wirklich" notwendigen Leistungen wie bisher im Rahmen der GKV finanzieren zu wollen. Ob aber vereinzelte Leistungen in der GKV einen gesundheitlichen Nutzen haben, lässt sich nie bestimmt sagen, sondern nur in Wahrscheinlichkeiten ausdrücken. Insofern ist die Definition des medizinisch Notwendigen immer eine politische Grenzziehung. Und deshalb wird auch bei der "Durchforstung" des GKV-Katalogs nicht das "medizinisch Notwendige" das Maß sein, sondern die Stabilität der Beitragssätze hier die unabhängige Variable werden.De facto wird mit der Debatte um das medizinisch Notwendige ein ordnungspolitischer Strategiewechsel vorbereitet. Die überdurchschnittlich häufig und stark Erkrankten - und damit eben die sozial ohnehin Unterprivilegierten - würden künftig im Falle einer Trennung des Leistungskatalogs einen größeren Teil ihrer Behandlungskosten privat finanzieren müssen. Ein solcher Wandel liefe darauf hinaus, auch die soziale Umverteilung von unten nach oben zu verstärken und das deutsche Gesundheitswesen stärker an den für das liberale Wohlfahrtsstaatsmodell typischen Merkmalen auszurichten.Thomas Gerlinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe "Public Health" am Wissenschaftszentrum Berlin
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