Nach dem Sieg Donald Trumps suchte Mark Lilla in der New York Times nach Gründen, warum sich so viele Deklassierte nur scheinbar überraschend für einen rechten Populisten entschieden hatten. Der Politikwissenschaftler verwies auf das Bündnis der Demokratischen Partei mit dem Finanzkapital an der Wall Street und den Digitalfirmen im Silicon Valley. Er kritisierte die abwertenden Äußerungen der Kandidatin Hillary Clinton über die Unterschichten, das habe wesentlich zu ihrer Niederlage beigetragen. Gerade die „Angry white men“, verunsicherte männliche Wähler aus ländlichen oder deindustrialisierten Regionen, seien in Scharen zu den Republikanern übergelaufen.
Catherine Liu, Hochschulprofessorin im kalifornischen Irvine und in d
e und in den Vorwahlen Unterstützerin des linken Demokraten Bernie Sanders, hat Lillas These noch während der Amtszeit Trumps vertieft. In einem erst jetzt auf Deutsch erschienenen Buch kritisiert sie eine neue hegemoniale Klasse von „Tugendpächtern“, die sich „mit Moral tarnt und Solidarität verrät“. Die verspätete Übersetzung der Streitschrift macht sie keineswegs uninteressant, denn die Parallelen zwischen der Situation in den Vereinigten Staaten und in Deutschland sind offensichtlich.Belehrung statt AugenhöheLius Sicht auf ein Milieu, das Tugenden exklusiv für sich in Anspruch nimmt, lässt schnell an die Auftritte grüner Spitzenpolitiker:innen wie Annalena Baerbock oder Robert Habeck denken. Im Predigerton belehren sie das Wahlvolk über vorgeblich alternativlose Corona-Maßnahmen und Waffenlieferungen. Staatschefs im globalen Süden müssen sich überhebliche, neokolonial anmutende Erklärungen einer deutschen Außenministerin über die Werte der westlichen Demokratien anhören. Bei nicht wenigen der so Adressierten scheitert der Versuch, mit moralischer Emphase kontroverse Positionen zu rechtfertigen. Wie in den USA düngt das den Nährboden für rechten Populismus; das derzeitige Umfragehoch der AfD ist kein Zufall.Ausgangspunkt in Catherine Lius Argumentation ist die sogenannte Professional Managerial Class (PMC). Diesen Begriff prägte das amerikanische Autorenpaar Barbara und John Ehrenreich schon 1977, im Sammelband „Between labor and capital“. Sie wollten ein gesellschaftliches Umfeld charakterisieren, das im marxistischen Denken als Kleinbürgertum bezeichnet wurde, die Soziologie würde heute eher von der „oberen Mittelschicht“ sprechen. Die PMC besteht aus erfolgreichen, gut qualifizierten Angestellten mit Hochschulabschluss, die aber keine Rentiers oder Kapitalisten sind. Es handelt sich um Fachleute mit spezialisierter Ausbildung, die von ständisch organisierten Verbänden zertifiziert und reguliert wird. Gemeint sind zum Beispiel die akademischen Berufe in Forschung und Lehre, in Verlagen, Zeitungen oder Sendern, im höheren öffentlichen Dienst, in Beratung und Jurisprudenz.Bereits die Ehrenreichs wiesen darauf hin, dass so die soziale Frage ins Hintertreffen gerate. In „Death of a yuppie dream“ von 2013 wird das Thema wieder aufgegriffen. Die wachsende PMC führt eine neue Art des Klassenkampfes, der sich nicht mehr gegen Kapitalisten oder den Kapitalismus, sondern gegen die Arbeiterklasse richtet, meint auch Catherine Liu. Diese benehme sich „nicht anständig“, sei „entweder politikverdrossen oder zu wütend, um höflich zu sein“. Die liberale Elite verachte die Unterschichten, halte sie für hoffnungslos rückständig und reaktionär.Moralische Prinzipien werden zum AccessoireDen Tugendpächtern werden, so Lius, die eigenen moralischen Prinzipien zum persönlichen „Accessoire“. Sie dienten vorrangig dazu, Überlegenheit gegenüber den angeblich Unwissenden zu demonstrieren. „Neoprotestantismus duldet keinen Widerspruch“, analysiert ganz ähnlich der deutsche Schriftsteller Navid Kermani, „seine schärfste Waffe ist die brutale Abwertung anderer Lebensweisen und ein bislang nicht dagewesener Kulturkolonialismus“. Auch Kermani moniert die Vorurteile der autoritär-ökologisch geprägten Mittel- und Oberschicht über das (Sub)Proletariat: Dessen Vertreter duschen, rauchen und trinken angeblich zu viel, sie essen Fleisch statt Gemüse, sie sind dick und bewegen sich zu wenig, lieben protzige Autos und sind nicht mit dem Fahrrad unterwegs. Und viele von ihnen, so spitzt Kermani zu, arbeiten dann auch noch in energiefressenden Branchen, „die man am liebsten gleich stilllegen würde“ – etwa in der Chemie-, Stahl- oder Aluminiumindustrie.Im PMC-Milieu redet man Liu zufolge „lieber über Vorurteile als über Gleichheit, über Rassismus als über Kapitalismus, über Sichtbarkeit als über Ausbeutung“. Sie kritisiert die Fixierung auf identitätspolitische Konzepte wie Gender und Race, die Kategorie Class werde vernachlässigt. Sie verweist auf marxistische Autoren wie den Literaturtheoretiker Fredric Jameson, der eine „kulturelle Wende“ im Verständnis sozialer Gegensätze konstatiert: Wirtschaftliche Rahmenbedingungen seien besonders an den Universitäten zugunsten von „Geschmäckern und Affekten“ in den Hintergrund getreten.Demokratiegefährdende IgnoranzFür die deutsche Ausgabe hat Liu ein Vorwort ergänzt, dennoch blieben manche Details in ihrem Buch US-spezifisch, wirken etwas insiderhaft. Die Autorin neigt auch zur steilen These – etwa, wenn sie der (in der Tat von Bürgerkindern dominierten) „Occupy“-Bewegung kurzerhand eine Geistesverwandtschaft zum neoliberalen Denken unterstellt. Ihre scharfe (Selbst)Kritik der Linken und Linksliberalen kann man dennoch, wenn auch nicht eins-zu-eins, auf die urban-grün geprägte Klasse der „oberen zehn Prozent“ in Deutschland übertragen. Liu fordert die globale PMC auf, sich endlich wieder an Prinzipien wie Gerechtigkeit und Solidarität zu orientieren. Sie will, wie von Bernie Sanders einst propagiert, die soziale Frage ins Zentrum der Politik zurückholen.Weder in den USA noch in Deutschland ist davon viel zu spüren – eine Ignoranz, die die Demokratie gefährdet. Längst nutzt die AfD das Wort „Moralpolitik“ als neuen Kampfbegriff. Doch die Kritik am Moralisieren der „Tugendpächter“ sollte man nicht den Rechten überlassen.Placeholder infobox-1