Ticken wie Jungs

Bildung Grundschullehrer werden? Ist nichts für Männer. Einige Hochschulen wollen jetzt gegensteuern
Ausgabe 39/2017

Den Kindern aus Wipperfürth im Bergischen Land ist ihr Anliegen wichtig. „Mann, werd Lehrer!“, steht auf den selbst gemalten Plakaten, die die Viertklässler in den Gymnasien und Gesamtschulen der Umgebung aufhängen. Die Arbeitsgruppe Mentos, Abkürzung für „Men to school“, will so Abiturienten, aber auch Betriebspraktikanten in der neunten oder zehnten Klasse für den Beruf des Grundschullehrers motivieren. Der Anlass für die ungewöhnliche Aktion: Der einzige männliche Pädagoge der Schule hatte gekündigt.

In den Klassenzimmern herrscht Lehrermangel. Die nicht gendergerechte Sprache ist an diesem Punkt eine korrekte Beschreibung, denn viele Kinder erleben erst auf der weiterführenden Schule einen männlichen Pädagogen. Im Bundesland Nordrhein-Westfalen, zu dem Wipperfürth gehört, sind nur neun Prozent der Lehrkräfte an Grundschulen Männer. Anderswo liegen die Zahlen zum Teil etwas höher, im deutschlandweiten Schnitt hat sich die Quote in den letzten Jahren bei rund zwölf Prozent eingependelt. Vor vier Jahrzehnten war das Geschlechterverhältnis in der Primarstufe noch nahezu ausgeglichen. Und auch an den Gymnasien, lange eine Männerdomäne, stellen Frauen mittlerweile mit knapp 60 Prozent die Mehrheit der Lehrenden.

Leihlehrer, die begeistern

Die niedrige Zahl männlicher Studienanfänger im Grundschullehramt signalisiert keine Trendwende. An einigen Hochschulen sind deshalb Projekte entstanden, die gezielt um mehr Männer werben. Solche Initiativen gibt es zum Beispiel an den Universitäten in Hamburg und Hildesheim. An der Uni Bremen läuft seit inzwischen fünf Jahren „Rent a Teacherman“. Das europäisch ausgezeichnete Modellprogramm vermittelt männliche Studierende in Bremen und Bremerhaven an Grundschulen, an denen ausschließlich Frauen unterrichten. Die Honorare der Hilfskräfte auf Zeit bezahlt der Senat für Bildung und Wissenschaft der Hansestadt. „Weder Jungen noch Mädchen sollten in Kindergarten und Grundschule den Eindruck bekommen, dass es ausschließlich Frauensache ist, sich um kleinere Kinder professionell zu kümmern“, betont Projektleiter Christoph Fantini vom Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften.

Jungen brauchen männliche Vorbilder auch außerhalb der Familie; Mädchen brauchen Männer ebenso, als das andersgeschlechtliche Gegenüber: Das klingt banal, wurde in der pädagogischen Fachdiskussion aber lange vernachlässigt. Manche feministisch orientierte Forscherinnen interpretierten den Ruf nach mehr Männern als Abwertung von Frauenarbeit.

Der Soziologe Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin wendet sich gegen die These, die Lehrerinnen seien „für den geringeren Schulerfolg der Jungen verantwortlich“. Anders sieht das Klaus Hurrelmann, früher Jugendforscher an der Universität Bielefeld, der jetzt an der Hertie School of Governance lehrt. Er fordert eine Quote zugunsten männlicher Bewerber in pädagogischen Berufen, nur so lässt sich seiner Meinung nach die „Diskriminierung von Jungen in der Schule“ beseitigen. Fragwürdige Unterstützung erhält Hurrelmann von männerrechtlich orientierten Gruppen: Diese betrachten männliche Schüler pauschal als „Bildungsverlierer“, obwohl Faktoren wie soziale Schicht und Migrationshintergrund eine größere Rolle spielen als das Geschlecht. Das Thema landet im Minenfeld der Gender-Debatte.

Mit der zugespitzten theoretischen Kontroverse können die Praktiker wenig anfangen. „Ich raufe nicht die ganze Zeit mit den Jungs und spiele auch nicht ständig mit den Schülern Fußball“, sagt ein Lehramtsstudent über seine Erfahrungen bei „Rent a Teacherman“. „Wir treffen ständig auf Lehrerinnen und Schulleiterinnen, die begeistert darauf reagieren, dass wir ihnen männliche Studenten schicken“, berichtet der Bremer Projektleiter Fantini. Die Teachermen leisten Unterstützung etwa im Sexualkunde-Unterricht oder assistieren als männliche Betreuer bei Klassenfahrten. Fantini vermeidet das Reizwort Quote, hält es aber für sinnvoll, dass „an allen Grundschulen, außer an Zwergschulen, mindestens zwei Lehrer arbeiten“.

Viele im Unterricht gewünschte Verhaltensformen seien von weiblichen Normen geprägt, glaubt Andreas Scholten, der viele Jahre als Grundschullehrer im westfälischen Münster gearbeitet hat und inzwischen in eine Schulbehörde gewechselt ist. „Sich lange mit etwas beschäftigen, Gefühle zulassen, in der Runde was sagen“ seien Anforderungen, „die manche Jungs nervös machen können“. Vor allem bewegungsorientierte Schüler gelten dann als „Störer“. Als Konsequenz folgen Disziplinarstrafen und schlechte Noten.

„Frauen wissen nicht, wie Jungs ticken“, formulierte 2006 plakativ der Lehrer Frank Beuster in seinem Buch Die Jungenkatastrophe. Der Titel ist übertrieben, doch die Aktivitäten Beusters, der die Hamburger Carl-Cohn-Grundschule leitet, sind bemerkenswert. Sein Kollegium besteht mittlerweile aus genauso viel Lehrern wie Lehrerinnen, er hat systematisch männliche Pädagogen eingestellt. Das Schulklima habe sich durch „mehr Heterogenität“ deutlich verbessert, berichtet Beuster. Diesen Eindruck „bestätigen auch die Kolleginnen“.

Angst vor Basteln und Gesang

Eine „Pädagogik der Vielfalt“, wie sie immer wieder gefordert wird, könne in „männerfreien“ Räumen nicht funktionieren, hieß es auf einer Fachtagung an der Uni Bremen im September 2017. Nach fünf Jahren „Rent a Teacherman“ zog die Veranstaltung Bilanz – und stellte eine zentrale Botschaft in den Mittelpunkt: Eine nennenswerte Masse von Männern an den Grundschulen stelle, ähnlich wie bei der Förderung von Frauen in Führungspositionen, ein wichtiges Korrektiv dar – nicht weil Lehrer „besser“, sondern weil sie anders sind und die Schulsituation bereichern.

Was hält männliche Studienanfänger trotz aller Appelle davon ab, sich als Grundschullehrer ausbilden zu lassen? Sie werden später, genauso wie Frauen, bis zu 500 Euro weniger verdienen als ein Pädagoge am Gymnasium, was die Bildungsgewerkschaften zu Recht skandalisieren. Eine andere Hürde ist die Furcht vor einem Prestigeverlust im privaten Umfeld. „Wenn ein Mann mit uns singen muss, dann ist ihm das vielleicht unangenehm“, sagt ein Schüler aus dem Wipperfürther Mentos-Projekt.

Die beruflichen Vorstellungen männlicher Jugendlicher sind nach wie vor von traditionellen Rollenvorstellungen geprägt. Der Kern der Arbeit an einer Grundschule liegt in der Didaktik, in der persönlichen Zuwendung und im Herstellen emotionaler Nähe – Fähigkeiten, die nach alten Geschlechterstereotypen eher Frauen zugeordnet werden. Zusätzlich abschreckend wirkte in diesem Kontext die (wichtige) Diskussion um sexuellen Missbrauch, die männliche Pädagogen pauschal mit Pädokriminalität in Verbindung brachte.

Hochschullehrer Fantini wünscht sich einen Imagewandel. Er betont die fachlichen Herausforderungen im Grundschullehramt. „Leider ist bei jungen Männern in der Phase der Berufsorientierung immer noch das Bild im Kopf, dass es um Einmaleins, Singen und Basteln geht.“ Dabei würden „auch unter dem Aspekt der Bildungsgerechtigkeit“ in der Primarstufe entscheidende Impulse gesetzt. „Die weiterführenden Schulen tüfteln eigentlich nur noch an dem herum, was vorher geklappt hat und was nicht.“ Dieses Profil der Grundschule müsse man herausstellen: „Dann sagen gerade Männer, die politisch engagiert und vielleicht auch noch mutig sind: Das ist für mich als Mann eben kein Kinderkram!“

Eine bundesweite Werbekampagne für mehr männliche Grundschullehrer, wie sie das Familienministerium für den Erzieherberuf im Projekt „Mehr Männer in Kitas“ unterstützt hat, ist bisher nicht in Sicht. Das liege „am föderalen System in Deutschland, die Länder wollen im Bildungsbereich sehr autark sein“, kritisiert Fantini. Zum Teil werde „dieses Argument von Seiten der Politik aber auch vorgeschoben, um nichts zu investieren“. Der Gründer von „Rent a Teacherman“ findet es aufreibend, sich „ständig um neue Projektmittel kümmern zu müssen“. Dabei hat seine Initiative erste Erfolge vorzuweisen: Die Zulassungszahlen männlicher Bewerber für das Grundschullehramt sind in Bremen seit dem Projektstart von 17 auf inzwischen 22 Prozent gestiegen. Und die Bildungssenatorin hat auf der Bilanztagung die weitere Finanzierung zugesagt.

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