Ballern bis zum Umfallen

Mediensucht Wenn PC-Spiele krank machen

Ballern und Punkten mit der Play-Station, interaktive Online-Spieleplattformen, virtuelle 3D-Phantasiewelten, das bringt schnelle Entspannung und persönliche Bestätigung. Das scheinbar harmlose Vergnügen im Kinderzimmer ist mittlerweile zum medizinischen Fall geworden. Immer leistungsstärkere PCs und kostengünstige Flatrates lassen die Massive Multiplayer Online Role Play Games (MMORPGs) zum Gesundheitsproblem werden. Denn anders als bei früheren PC-Spielen schließen sich in der modernen Internet-Phantasiewelt der Elfen, Hexen oder Roboterarmeen Hunderte von Nutzern online in "Spiel-Gilden" zusammen, um gemeinsam in Echtzeit Strategie-Probleme zu lösen.

Viele Mediensüchtige fühlen sich in dieser weltweiten gaming community sprichwörtlich zu Hause und permanent zum Spiel verpflichtet. Wenn die Mitspieler auf der anderen Seite der Erdkugel Verstärkung brauchen, dann muss nachts der Wecker gestellt werden, um einer Verabredung mit der Gilde nachzukommen. Das Gehirn registriert durch die interaktive Lösung von Problemen oder einfach nur durch die sich ständig erhöhende Punktezahl schnelle Bestätigung.

Der Hannoveraner Psychiater Wolfgang Bergmann hat sich auf die Therapie von Mediensüchtigen spezialisiert. Einerseits gibt er Entwarnung, denn nicht jeder, der viel spielt, ist gleich süchtig. Eltern würden da oft überängstlich sein. Andererseits kommen immer mehr männliche Jungendliche zu ihm in die Praxis, die zwar einerseits auffallend oft begabt und intelligent, gleichzeitig aber unausgeschlafen und nervös sind. "Wenn da einer bisher ganz freundlich an seiner Familie interessiert war und plötzlich unruhig wird und nicht schnell genug in seine autistische Kinderzimmerspielhöhle zurück kann, sollte man aufmerksam werden. Wenn die Freunde immer seltener kommen und nicht vermisst werden, und wenn er nicht mehr an seiner körperlichen Erscheinung interessiert ist, dann ist da ein seelischer Zerfallsprozess im Gange", warnt Bergmann.

Dazu kommt eine merkliche Leistungseinbuße im schulischen Bereich. Der Schlaf-Wach-Rhythmus verschiebt sich oder wird desolat. Mediensüchtige verlieren die Kontrolle über ihre tatsächliche Spielzeit. Das Vokabular beschränkt sich auf das wenige noch für die virtuelle Kommunikation Notwendige. Für Bergmann trifft die technische Verführbarkeit durch moderne Web-Games meist auf eine psychische Vorveranlagung. "Das Computer-Spiel ist eine nicht widerständige Welt. Dieses phantastische Gleiten hat primärnarzisstische Züge. Diese Jugendlichen haben noch mit 18, 19 Jahren starke regressive Anteile. Sie essen nur noch weiche weiße Dinge, also alles, was an frühkindliche Ernähung erinnert, was man so einschlucken kann, was nicht widerständig ist. Es besteht eine tiefe Bindung an Mama. Und meist will auch die Mutter nicht loslassen", weiß Bergmann.

Nur wenige Psychologen und Beratungsstellen haben sich bislang auf die Therapie Mediensüchtiger eingestellt. Wichtig sei es, so der Psychiater, nicht einfach Verbote auszusprechen, sondern die Süchtigen in ihrem Tun und Können erst einmal ernst zu nehmen. Den PC einfach wegzusperren oder andere Sanktionen zu erteilen, kann zu massiven Ängsten, Aggressionen bis hin zu Suizidversuchen führen. Die von Pädagogen und Politikern so oft geforderte Medienkompetenz fehlt in der Regel erst einmal den Erwachsenen.

Bei Suchtsymptomen sollten Eltern auf jeden Fall professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Allerdings könnte auch der Gesetzgeber endlich auf die massenweise Gefährdung durch Medien reagieren. Auch Mobil-Telefone üben weiterhin einen großen Reiz aus. Der Soziologe Raphael Gassmann von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen in Hamm schlägt etwa vor, dass Jugendliche bis 18 Jahren im Medienbereich per se als schuldenfrei gelten sollten.

Suchtexperten fordern eine kritischere Haltung gegenüber Medien. Anders als bei vielen stofflichen Süchten werde etwa die PC-Spiel-Sucht viel zu selten erkannt oder leichter toleriert, weil der Computer für Außenstehende eher mit Bildung und modernem Arbeitsmarkt in Verbindung gebracht wird. In Deutschland liegen bislang noch nicht einmal fundierte wissenschaftlich-epidemiologische Daten zur Abhängigkeit von PC, Handy oder Fernsehen vor. Erste stichprobenartige Befragungen etwa an der Berliner Charité und dem Universitätsklinikum Mainz lassen ein pathologisches Computerspiel-Verhalten bei bis zu zwölf Prozent der Jugendlichen befürchten. In Sachen Mediensucht-Therapie und -Forschung ist Deutschland noch ein Entwicklungsland.

"Wir haben", so die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing, "noch keine Klassifikation, das heißt die Mediensucht ist noch nicht als diagnostisches Störungsbild anerkannt und die Therapie damit auch nicht über das Solidarsystem finanzierbar".

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