Erbarmen, die Evangelikalen kommen! Oder sind sie vielleicht schon längst unter uns? Zur Fußballweltmeisterschaft 2006 reisten nicht nur Millionen Sportbegeisterte nach Deutschland, sondern auch über 10.000 hochgläubig-fundamentalistische Christen, die ihre Umwelt zu Jesus bekehren wollten. Das behauptet zumindest der Dokumentarfilm „Jesus liebt Dich“, der vier evangelikale Missionare der „Youth with a mission“ über Monate bei ihrer Vorbereitung und beim Einsatz beobachtet hat.
Cody reist mit seinem Pastor Scott aus New York an, um das Bekehren zu lernen. Auf dem Hauptbahnhof Frankfurt am Main spricht der rastlose Gershom aus Sambia in Ermangelung anderer Gesprächspartner mit der Stimme aus der Notrufsäule, um sein aus dem Lautsprecher krächzendes Gegenüber von Jesus zu überzeugen. Der deutsche Missions-Organisator Tilman sagt: „Wollt ihr Gottes Armee beitreten? Da gibt’s keine Demokratie mehr“.
In Gottes Armee gibt es keine Demokratie
Zu sehen sind junge Leute aus aller Welt mit militantem Gotteseifer. Immer wieder wollen sie auch für das Filmteam beten und es bekehren. Regisseur Robert Cibis zeigt sich fasziniert vom irrationalen Moment dieser Missionare. Alles wird dem Glauben unterworfen. Die Wohlfühlbotschaft „Jesus liebt dich“ ist denkbar einfach. Dauernden Umgang wollen sie aber nur mit denen haben, die sich auch bekehren lassen. „Evangelikale stellen einen Gegenpol im Supermarkt der religiösen Angebote dar“, meint Cibis. Seine Kollegin Lilian Frank hat Angst, dass Evangelikale immer mehr Positionen in der deutschen Gesellschaft besetzen könnten.
Nüchtern betrachtet, ist das Fußball-Sommermärchen längst vorbei und Deutschland ist nicht einem allgemeinen Jesus-liebt-dich-Taumel anheim gefallen. Für die Evangelikalen bleibt die Bundesrepublik vorerst ein religiöses Entwicklungsland. Dabei ist der Begriff „Evangelikale“ ein schwammiger und unter Religionswissenschaftlern umstrittener Oberbegriff für eine inhomogene Strömung strenggläubiger radikaler Christen aus einem ursprünglich protestantischen Milieu. Pfingstler, Charismatiker und Fundamentalisten melden fantastische Zuwachsraten vor allem in den USA, Lateinamerika und in Afrika, von denen die etablierten Kirchen hierzulande schon lange nur träumen können. 500 Millionen Evangelikale sollen es weltweit schon sein.
Die Ursprünge liegen im Pietismus
Vereinfacht gesagt, liegen die Ursprünge des Evangelikalismus im Pietismus begründet, der heute noch traditionell im Südwesten Deutschlands starken Rückhalt genießt, und sich im 18. Jahrhundert als Methodismus und Puritanismus auch in England und später in den USA etablierte. Heute schwappt von dort wie auch von den bereits bekehrten Gebieten in den Entwicklungsländern eine Missionswelle nach good old europe zurück. Zugrunde liegt ein voraufgeklärtes Weltbild: Die Bibel wird als absolut irrtumsloses und unfehlbares Gotteswort begriffen.
Dagegen lehnen Evangelikale eine historisch-kritische Theologie, wie sie an hiesigen Universitäten gelehrt wird, gläubig ab. Sie bekämpfen die unbiblische Evolutionstheorie, Abtreibungen, Pornografie, Feminismus und Homosexualität. Evangelikaler wird man nicht einfach als Baby durch gewöhnliche Kindstaufe, sondern zentral ist das bewusste persönliche Erweckungserlebnis, die Geisttaufe. Mission ist für sie „geistliche Kriegsführung“. Die Welt ist für sie dualistisch: Auf der einen Seite Jesus' christlich beseeltes Sonnenreich, auf der anderen Seite die Menschen im Dunkeln, die erlöst werden müssen. In den Vereinigten Staaten sind diese rund 50 Millionen konservativen Christen mit rund 20 Prozent der Wählerschaft längst ein nicht zu umgehender Machtfaktor.
Die EKD hat dem evangelikalen Wachstum nichts entgegenzusetzen
Auch in Deutschland haben konservative Evangelische ihre eigenen Strukturen geschaffen. Bereits 1846 gründete sich die „Evangelische Allianz“ als Sammelbewegung rechter Frei- und Landeskirchler. Seit 40 Jahren sendet der Evangeliums-Rundfunk vom hessischen Wetzlar aus sein konservativ geprägtes Missionsprogramm, und mit der Nachrichtenagentur Idea wurde eine Gegenöffentlichkeit zum landeskirchlich geprägten Evangelischen Pressedienst (EPD) geschaffen. Hinzu kommen millionenschwere Investitionen wie der „christliche Familiensender“ Bibel-TV und sein Jugendableger [tru:]-tv.
Die Kirchenfürsten können sich diesem, verglichen mit den depressiven Statistiken ihrer eigenen Landeskirchen, erfolgreichen evangelikalen Wachstum kaum entziehen. So schrieb Bischof Wolfgang Huber schon vor Jahren freundliche Grußworte für den in Berlin stattfindenden Jesus-Marsch, auf dem die dubiosesten Gruppen freudetrunken gleich zu Zehntausenden durch die Hauptstadt zogen, um die böse dämonische Welt frei zu beten. Sogar bis ins Kirchenamt der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) gelangen die Evangelikalen mittlerweile scheinbar mühelos. Anfang Dezember 2007 erhielt der EKD-Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber „für sein Eintreten für Mission“ eine Ehrung des Arbeitskreises Christlicher Publizisten (ACP). Der Vorstandsvorsitzende Heinz Matthias überreichte Huber im EKD-Kirchenamt in Hannover eine „Respektzuweisung“.
Dass die ACP von kirchlichen Weltanschauungsbeauftragten nicht nur als fundamentalistische Organisation eingestuft, sondern ihr auch eine Nähe zu rechtsradikalen Kreisen und dubiosen Sekten wie der Scientology-Organisation attestiert wird, scheint den obersten evangelischen Würdenträger in Deutschland nicht zu stören. Ein gutes Verhältnis zu den erfolgreichen Evangelikalen scheint im deutschen Protestantismus zum obersten Glaubensgrundsatz geworden zu sein.
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