Zeit dürfte für Uwe Timm ein hohes, vielleicht das kostbarste Gut sein. Und das in vielerlei Hinsicht. Der am 30. März 1940 in Hamburg Geborene machte zuerst eine Kürschnerlehre und arbeitete dann drei Jahre lang in diesem Beruf, bevor er 1963 auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachholte. Nach einem Studium der Philosophie und Germanistik in Paris und München legte er 1971, im Jahr seiner Promotion, seinen ersten Gedichtband vor.
Dieser vergleichsweise späte Start in ein neues berufliches Feld sowie die Sorge während der ersten Jahre, nun Frau und Kinder vom Schreiben ernähren zu müssen, lassen ihn bis heute vorsichtig agieren, wenn Wünsche von Verlegern, Journalisten und Kollegen an ihn herangetragen werden, die sein Zeitbudget möglicherweise beeinträchtigen könnten.
Der sich erst Anfang, Mitte der neunziger Jahre einstellende große Erfolg mit der Verfilmung seines Kinderbuches Rennschwein Rudi Rüssel sowie mit dem Roman Die Entdeckung der Currywurst (1993) hat die Bodenständigkeit, Disziplin und Vernunft des aus einem kleinbürgerlichen Elternhaus mit preußischen Erziehungsmaximen stammenden Autors nicht ins Wanken gebracht. Dazu gehört wie selbstverständlich auch, dass sich der durchaus gesellige Uwe Timm von der eigenen Party noch vor Mitternacht verabschiedet, weil ja am nächsten Tag wieder zur gewohnten Zeit ein Sport- und Schreibprogramm zu absolvieren ist. Kein Wunder, dass Timm schon 1973 zusammen mit Uwe Friesel, einem Mitstreiter bei der gemeinsam gegründeten AutorenEdition, ein Lesebuch zum Thema Freizeit herausgegeben hat, dessen Untertitel Texte zu einem schönen Wort und unserer Wirklichkeit politische und persönliche Konnotationen reflektiert.
Neben diesen liebenswerten Eigenschaften des Menschen Uwe Timm steht für den Autor stets auch der Begriff der kritischen Zeitgenossenschaft im Zeitraum seines Interesses und seiner literarischen Arbeit. Sein Romandebüt Heißer Sommer (1974) um den Studenten Ulrich Krause zeigt bereits die Verfallsmomente der Studentenbewegung auf - wie auch der nachfolgende Roman Kerbels Flucht (1980). Rückblickend bewertet darin die Hauptfigur, der gescheiterte Germanistikstudent Christian Kerbel, der sich desillusioniert als Taxifahrer in München durchschlägt, seinen damaligen idealistischen Eifer und sein politisches Engagement als "wirkungslose Betriebsamkeit. Und ich kann von dieser Zeit in mir nichts finden, außer dem faden Gefühl, Zeit vertan zu haben. Ich bin ganz langsam an die Wand geschoben worden." Auch wenn sein 2001 erschienener Roman Rot viele Motive dieser Texte wieder aufnimmt und sie in einer für die Autorenexistenz Timms charakteristischen Weise zusammen führt - Ulrich Krause zum Beispiel, der in Heißer Sommer im Hamburger SDS die Anfänge der Revolte miterlebt, sitzt dreißig Jahre später als Lehrer für Deutsch und Geschichte im deutschen Osten und betreibt ein Antiquariat, "spezialisiert auf Theorie und Literatur der Achtundsechziger" -, so versieht Timm diese Darstellungen bewußt auch mit einer gehörigen Portion Selbstironie. Denn dumpfer Partei- und Ideologiegehorsam sowie eine selbstgefällige Political Correctness sind seine Sache nicht; ihm - und vor allem seinen Figuren - eignet eher ein gewisser anarchistischer, subversiver Drang, sich gegen die Verhältnisse zu wenden.
Trotzigkeit und Empörung gegen die Unvernunft zu allen Zeiten kennzeichnen den Armeeveterinär Johannes Gottschalk aus Morenga (1978), den Hochradpionier und Erfinder Franz Schröder aus Der Mann auf dem Hochrad (1984), die Hamburger Marktfrau Lena Brücker aus Die Erfindung der Currywurst (1993), den Bauingenieur Wagner aus Der Schlangenbaum (1986), den Anlageberater Peter Walter aus Kopfjäger (1989) und den Grabredner Thomas Linde aus Rot (2001); sie alle erscheinen, mehr oder weniger, als Wesensverwandte eines Autors, der Erfahrung, Skepsis und Erkenntnis zu den Koordinaten seines literarischen Kosmos erkoren hat. Dazu begibt er sich nach eigenen Angaben "heute mehr in die geschichtliche Ferne, um die zeitgeschichtliche Nähe besser zu verstehen".
Liest man Timms Bücher zusammen, findet man darin so etwas wie eine Mentalitätsgeschichte Deutschlands von 1945 bis heute. So kohärent präsentiert sich seine literarische Welt, die er mit jedem Buch fortschreibt und ergänzt. Der von Ulrich Greiner geforderte Büchner-Preis für Timm ist in der Tat mehr als überfällig, obwohl er ein Autor ist, der die Literaturkritik und die Literaturpreise nicht benötigt, um seine Leser zu finden.
Gemäß Timms poetologischem Selbstverständnis - "Tot ist nur, wer vergessen wird", und "Über wen erzählt wird, der bleibt in Erinnerung" - hat er in seinem jüngsten Buch den Versuch unternommen, eine im Krieg gebliebene Generation sichtbar zu machen, Am Beispiel meines Bruders (2003). "Ich denke", schrieb er bereits 1993, "dieses katastrophische Zeitempfinden wird auch ein neues Erzählen bedingen, im Alltag wie auch in der Literatur. Ein Erzählen, das versucht, dieses ganz alltägliche Leben aufzuspüren, das von der Auslöschung bedroht ist." So wie der Alltag vor sechzig Jahren bedeutete, in einem sinnlosen Krieg vielleicht sein Leben lassen zu müssen, so sind es heute eben Warentermingeschäfte, Medien- und Werbekampagnen, die unsere Zeit prägen. Dessen ungeachtet hat Uwe Timm den Anknüpfungspunkt seines Schreibens - den Widerstand der Studenten in den sechziger Jahren - stets mit sich getragen und immer wieder aufs neue reflektiert. So verwundert es nicht, dass sich sein im Herbst 2006 erscheinender Roman der Person Benno Ohnesorgs widmen wird.
Wie auch immer - für den stets neugierigen, allen sinnlichen Genüssen des Lebens zugeneigten Uwe Timm wird das Leben stets den Stoff bereit halten, den er für seine Texte sucht und braucht. Zum seinem Geburtstag wünschen wir ihm vor allem viel Zeit!
Zum Geburtstag erschien: Der schöne Überfluß. Texte zu Leben und Werk von Uwe Timm. Herausgegeben von Helge Malchow. Kiepenheuer, Köln 2005, 280 S., 19,90 EUR
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