Über die Not des (auto-)biografischen Schreibens ist in den letzten Monaten viel diskutiert worden. Viele, vor allem junge Autoren verwechseln Literatur mit (auto-)biografischem Schreiben, dabei ist Literatur in der Regel das Erfinden von Geschichten und nicht die Wiedergabe einer mehr oder weniger merkwürdigen Jugend. Neben diesen Adoleszenzbekenntnissen steht die Renaissance des Familienromans, mal geht es um die ganze Sippe wie im aktuellen Roman Houwelandt von John von Düffel oder in Stephan Wackwitz´ literarischer Ahnenforschung Ein unsichtbares Land, dann um den Versuch von Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders (s. Freitag 42/ 2003) eine im Krieg gebliebene Generation sichtbar zu machen.
Zur Vergewisserung einer vermeintlich beschädigten Identität gehört, nicht untypisch für eine Literatur der Jahrhundertwende, eine gegen alle aktuellen Krisengefühle gerichtete Spurensuche im Vertrauten, Privaten, Intimen. Neben den Körpertexten, dieser experimentellen Spielwiese für alle Gewalt-, Sexualitäts- und Flüssigkeitsmaniacs, findet diese Ambition nicht unerwartet ihren Ausdruck in der Auseinandersetzung mit den Vaterfiguren. Was vor mehr als zwanzig Jahren mit Christoph Meckels Suchbild (1980) und Peter Härtlings Nachgetragene Liebe (1980) als scharfe Abrechnung begann, findet seine Fortsetzung heute in Romanen wie Dagmar Leupolds letzten Herbst erschienenem Roman Nach den Kriegen.
Fast 20 Jahren nach seinem Tod entstand hier eine Annäherung an einen Vater, Rudolf Leupold, der zu Lebzeiten weitgehend fremd und unbekannt geblieben war. Dagmar Leupold verbrämt und verrätselt nichts, sie nennt Namen, Orte und Situationen und problematisiert ihre Erzählposition stets mit offenem Visier. Das imponiert und schafft Vertrauen in ein Bemühen, aus der Situation eines Todes Ansätze und Linien zu finden, über ein erstes Profil hinaus in das Wesen eines Menschen vorzudringen, es sich zu erschließen. Es geht hier nicht um das Scannen oberflächlicher Eindrücke, ein Verfahren, das offenbar dem Vater durchaus eigen war; im Gegenteil, die Autorin macht es sich schwer, wechselt drei Mal die Perspektive, aus der erzählt wird, wie um ganz sicher zu gehen, nichts dem Zufall überlassen zu haben. Dahinter steht natürlich eine Ahnung beziehungsweise ein Wissen, dass der Vater eventuell in nationalsozialistische und antisemitische Aktionen verwickelt war. Damit könnte diese private Angelegenheit, ähnlich wie bei Timm, als Generationenkonflikt gelesen werden.
Der Antrieb zur Gestaltgebung des Vaters wird aus mehreren Defiziten entwickelt: die Erzählerin verpasst seine Beerdigung, sie lebt in den USA und konnte ihn in seinem Sterben nicht begleiten, überhaupt tut sie sich schwer im Umgang mit dem Tod. Schon vor seinem Leiden, er war zeitlebens Kettenraucher und stirbt nun an Lungenkrebs und Arteriosklerose, glich dieser einzelgängerische, oft mürrische Mensch eher einem Phantom als einem liebenswerten, realen Menschen. Das schien selbst ihm so gegangen zu sein, denn er plante einen Roman zu schreiben, durch den "sein Leben eine Form und ein Format erhalten (hätte), da er ungeschrieben blieb, schien es ihm immer vergeblicher und ungestaltet."
In drei Etappen zeichnet die Erzählerin die Konturen dieses Lebens nach: mit einer kleinen Rahmenhandlung, einer Kindheitserinnerung und einer sich am Tagebuch des Vaters und anderen Quellen orientierenden Spurensuche und Interpretation. Die ersten beiden Teile überzeugen durch eine behutsame, einfühlsame Rekonstruktion der familiären Umstände. Erzählt wird vom kriegsversehrten Mann, seiner alternden Hülle und seiner Eitelkeit, den oberschlesischen Wurzeln, der extravaganten Kleidung und seinem Dünkel, irgendwie adlig zu sein, den fränkischen Bundesbrüdern, der piefigen Atmosphäre der sechziger Jahre mit Kubakrise und dem Eau de Cologne namens 4711, Lurchi-Heften, Schleiflackmöbeln und Päckchen für die Ostzone. Der Vater arbeitet als Lehrer, promoviert spät, liebt Bridge und Schach, übt sich in strategischem Denken und schreibt mathematische Fachbücher. Das scheint nicht wenig zu sein, um einen Menschen, der zudem eine Familie gegründet und ein Haus gekauft hat, zu charakterisieren, und doch heißt es: "Ich wußte fast nichts über ihn."
Die Erzählerin liest sein Kriegstagebuch, seine literarischen Fingerübungen, manche Notizen. Aus ihnen sucht sie - vergleichend und ergänzend mit anderen zeitgeschichtlichen und literarischen Quellen - seine Verwicklung in den Nationalsozialismus zu rekonstruieren und zu ergründen. Seitenweise werden nun Originalpassagen zitiert, befragt, kommentiert und interpretiert. Die Recherche ergibt, dass dieser aufgrund seiner Herkunft - als Deutscher in Polen, als Flüchtling in Deutschland - sich zeitlebens benachteiligt fühlende Mann als Schulrat in besetzten Gebieten tätig war, Kontakt zu Rudolf Wiesner und seiner "Jungdeutschen Partei" hatte, 1941 in die NSDAP eintrat, 1943 in Serbien kämpfte, verwundet wurde und in britische Kriegsgefangenschaft geriet. Mysteriöse Tagebucheintragungen deuten auf "geheimzuhaltende Erschießungen" hin, konkrete Verbrechen können ihm nicht nachgewiesen werden. Nach dem Krieg lebt der Vater als reformfreudiger, linksliberaler Pädagoge ein unauffälliges, politischem Revanchismus fernes Leben. So weit, so gut.
Ob sich nun hier das Bild einer Generation reflektiert oder nicht, scheint eher zweitrangig. Problematisch ist diese Recherche - die gut die Hälfte des Romans einnimmt - eher in literarischer Hinsicht. Zäh liest sich das, eher wie ein Aufsatz. Die Dokumente verfügen nur über eine bedingte Strahlkraft, natürlich leidet das sprachliche Niveau, auf das sich die Autorin nun einlässt, darunter, die Leselust geht verloren. Mit dem politisch korrekten Ansatz, möglichst umsichtig, klug und objektiv die Sache anzugehen, pulverisieren sich die literarischen Glanzlichter der ersten beiden Teile. Etwas mehr Mut und Zorn hätten dem Roman an dieser Stelle gut getan.
Dagmar Leupold: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens. C. H. Beck, München 2004. 223 S., 17,90 EUR
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