Thomas Leif: Sie haben vor einigen Jahren für den damaligen Ministerpräsidenten Roland Koch in der Hessischen Staatskanzlei gearbeitet und ihn beraten, was war der konkrete Auftrag?
Jürgen Borchert: Der Anlass für den Job bei Herrn Koch war, dass ich der Architekt der Verfassungsbeschwerden war, die zum Pflegeurteil 2001 führten. In dem Pflegeurteil hat das Verfassungsgericht für die Pflegeversicherung festgestellt, dass die Kindererziehung den Geldbeiträgen völlig gleichwertig ist. Und deswegen muss der Gesetzgeber das auf der Beitragsseite berücksichtigen. In dem Urteil haben sie auch gesagt, dass das der Anlass für den Gesetzgeber sein muss, sämtliche Systeme auf diese Beitragsgerechtigkeit hin zu untersuchen. Da hat Herr Koch vor dem Hintergrund dieses spektakulären Urteils damals offenbar gedacht, dass er innenpolitisch von mir profitieren kann, weil er damals noch den Parteivorsitz und die Kanzlerkandidatur anstrebte. Als er merkte, dass er gegenüber Merkel ins Hintertreffen kommt, hat er den Plan fallen lassen. Das war der Anlass und das war mein Thema aus vielen Jahren. Familienpolitik, Strukturreform des Sozialstaats. Kinderarmut ist das schlimmste, das dieser Gesellschaft passieren kann.
Zur Person
Jürgen Borchert ist ein deutscher Sozialrichter und Politikberater. Er war bis Dezember 2014 Vorsitzender Richter des 6. Senats des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt
Renten vor dem Absturz – ist der Sozialstaat am Ende? Schon vor fast 23 Jahren haben sie das in einem Buch geschrieben. Was hat sich seitdem geändert?
Man wusste praktisch seit Mitte der 1980er Jahre, worauf das ganze zusteuert. Dass ein System, das seinen Nachwuchs verliert und gleichzeitig den Nachwuchs in eine immer größer werdende Armut schickt, keine Zukunft haben kann. Wirtschaftspolitisch, gesellschaftspolitisch, bildungspolitisch – wo immer man hinguckt, ist diese Gesellschaft eine Gesellschaft des Raubbaus an der Nachwuchsgeneration – physisch und psychisch, bildungsmäßig und alles, was dazugehört.
Das gilt auch für die Rentenversicherung?
Aber selbstverständlich. Die Rentenversicherung (RV) ist ja unmittelbar vom Nachwuchs abhängig. Denn anders, als die Leute sich das vorstellen, verführt durch die Versicherungsthermologie, ist die RV ja ein System, was nur das laufende Volkseinkommen umverteilen kann. Also nur das, was in gegebenen Wirtschaftsjahr produziert wurde, ist für die Verteilungszwecke vorhanden, und sonst nichts. Man kann nicht für die Zukunft ansparen, für die Alterssicherung einer ganzen Generation, das funktioniert nicht. Das war übrigens der ordnungspolitische Grund in den 1950er Jahren, aus dem wir damals kein kapitalgedecktes System eingeführt haben. Weil kluge Leute ausgerechnet haben, dass wir dann ganz Belgien aufkaufen müssen. Die Rentenversicherungsträger würden die französische Wirtschaft aufkaufen, und schließlich wären sie der Gesamtkapitalist in Europa. Und aus diesen ordnungspolitischen Gründen hat man damals das Umlageverfahren eingeführt. Nell-Breuning, einer der Väter der RV, hat das damals in die politische Rhetorik gekleidet: Wenn ihr den totalen Sozialismus wollt, müsst ihr Kapitaldeckung einführen. Da haben die Leute erst mal gestutzt, bis er ihnen das vorgerechnet hat.
Aber Sie sind doch auch ein Anhänger der Umlagefinanzierung.
Aber selbstverständlich. Es gibt überhaupt keine Alternative dazu. Auch das Kapitaldeckungsverfahren funktioniert letztlich wirtschaftlich betrachtet wie ein Umlageverfahren.
Warum sind in ihren Konzepten Kinder so wichtig und warum sind sie aus Ihrer Sicht benachteiligt?
Das System der Zukunftssicherung setzt immer voraus, dass wir eine Nachwuchsgeneration haben, die gut ausgebildet, willens und in der Lage ist, die Alten zu versorgen. Daran hat sich seit den Vor-Rentenversicherungszeiten nichts verändert.
Gilt dieser Status heute noch?
Natürlich. Real gilt dieser Status noch. Er wird nur durch die Rentenversicherungen geleugnet.
Und warum?
Er wird durch die RV geleugnet, weil das ganze Wirtschaftssystem auf der Verleugnung der Reproduktionsnotwendigkeiten beruht. Wir haben – genauso wie wir eine Umweltzerstörung haben – einen Raubbau an der Innenwelt, der so aussieht, dass wir nämlich meinen, wir könnten auf Kinder verzichten. Alles, was Kinder angeht, ist in dieser Gesellschaft doch unter ferner Liefen angesiedelt.
Die Lösung ist der Aufbau der 2. und 3. Säule der Privaten Rentenvesicherung?
Eine private Säule kann uns gar nicht aus diesen Schwierigkeiten heraus helfen, weil sie nicht den Produktionsfaktor Arbeit kreiert. Wir haben ja keinen Kapitalmangel. Ganz im Gegenteil würde ein weiterer Ausbau der Kapitaldeckung wirtschaftlich höchst unliebsame Folgen zeitigen, vor denen wir uns schwer in Acht nehmen müssen. Das können wir heute schon beobachten. Stellen Sie sich mal vor, sie wären ein Manager dieser Fonds, die diese Riesensummen anlegen müssen, die da zusammenkommen. Rein anlagetechnisch geht das nur, in dem sie die Summen an die börsenfinanzierten Unternehmen ausgeben. Sie stecken das in Aktienpakete. Das erleben wir heute. Wir haben eine Hyperinflation an den Börsen, an den Kapitalmärkten, und wir haben gleichzeitig Liquiditätsmangel, Kreditmangel bei den kleinen Mittelständern, vor allen Dingen bei den Handwerkern. Das zweite, was man sich überlegen muss: wenn wir alle sparen und den Gürtel enger schnallen – das bedeutet ja Kapitaldeckung –, dann müssten wir Konsumverzicht üben. Und Konsumverzicht bedeutet, dass der Hub und Schub der Volkswirtschaft – der ja aus Konsum, also Nachfrage, Investition und Staatsverbrauch besteht – dieser Aggregate aus dem Takt gerät. Und das bedeutet, dass wir mehr Arbeitslosigkeit haben.
Wie bewerten Sie den Erfolg der privaten Zusatzversicherungen?
Wir wissen, dass die Rentenreform 2001 unter der massiven Einflussnahme der Lobbyisten der Finanzmärkte zustande kam. Damals standen einige Lebensversicherer am Rande des Abgrunds, und die Mannheimer Versicherung war ja bereits illiquide. Das heißt man hat dringend nach einer Möglichkeit gesucht, der Versicherungswirtschaft unter die Arme zu greifen. Und der zweite Grund ist, dass man mit der Rentenreform 1992 die sogenannte Dreischulterformel geschaffen hatte, die die wachsenden demografischen Altenlasten verteilen sollten auf die Schultern der Rentner, die weniger Rente kriegen, auf die Schultern der Beitragszahler, die mehr Beiträge zahlen müssen und in dem Ausmaß, in dem die Beiträge steigen mussten, sollte gleichzeitig der Bundeszuschuss angehoben werden. Das führte dazu, dass die Leistungen aus dem Bundeshaushalt an die Rentenversicherungen zum dicksten Posten im Bundeshaushalt wurden. Das wollte man abbremse. Deshalb kam die RV mit der Riesterrente. Die hat dazu geführt, dass wir seitdem 15 Mrd. an Riesterförderung ausgegeben haben und der Staat das 10-fache beim Bundeszuschuss gespart hat.
„Man schreckt davor zurück den Bürgern die ganze Wahrheit zu erzählen.“
Bewerten Sie politisch, was Sie gerade erklärt haben?
Politisch ist das natürlich ein Ausweichmanöver. Man schreckt davor zurück, den Bürgern die ganze Wahrheit zu erzählen. Sie müssen nämlich damit anfangen, dass das RV-System niemals eine Versicherung ist und auch keine sein kann. Eine Versicherung ist gekennzeichnet dadurch, dass Sie bei einem Einzelfall, der von der sozialen Norm abweicht, die Sicherung gewährleistet. Das war zu Bismarcks Zeiten völlig klar. Allgemeine Lebenserwartung von 40 Jahren und Renteneintrittsalter von 70 Jahren, das war die absolute Ausnahme, das konnte man versichern. Heute ist es umgekehrt, und es ist die soziale Norm, dass wir alle das Rentenalter erreichen. Das kann man nicht versichern.
Was wäre denn heute die ganze Wahrheit bezogen auf die Rentenversicherung?
Das wir einfach mal feststellen, dass wir in der RV nur so viel erwarten können, wie wir heute in die Jugend investieren. Das ist die Grundlage unserer zukünftigen Alterssicherung, und das muss sich endlich mal in den Köpfen durchsetzen.
Wird nicht ausreichend investiert, in die Jugend, in die Kinder, in die Familien?
Gerade hier in Berlin müssen Sie mal rumlaufen. Wenn sie mal schauen, was die Prachtgebäude aus dem letzten Jahrhundert, aus der Gründerzeit sind, da sehen sie überall öffentliche Infrastruktur. Vor allem Schulen. Daran konnten Sie sehen, was damals wichtig war. Wenn Sie sich heute in Berlin umgucken, verfallen die Schulen ringsherum. Und am wenigsten wird in Nachwuchs investiert.
Warum ist diese Investition in Kinder, Familien und Ausbildung so wichtig? Können Sie erklären, warum das die Grundlage für die Rentenversicherung ist?
Weil die Rentenversicherung aus dem Arbeitsertrag der Nachwuchsgeneration stammt. Wer aufhört zu arbeiten, lebt zu 100% von dem, was die jungen Leute produzieren. Und das ist das Entscheidende: dass die jungen Leute erstmal da sind. Wir haben mittlerweile die Geburtenzahl seit 1964 halbiert. Und zweitens: dass gut ausgebildet wird. Da stellen wir fest, dass Deutschland das Wunder fertiggebracht hat, die Geburtenzahlen zu halbieren und gleichzeitig den Anteil der Kinder in der Sozialhilfe um das 16-fache zu steigern. Mit der Konsequenz, dass wir heute jedes vierte Kind, das die Schule verlässt, mit einem Bildungsstand in das Arbeitsleben entlassen, bei dem es am Lesen, Schreiben, Rechnen hapert, und deswegen noch nicht einmal Hilfsarbeiter-Tätigkeiten in Frage kommen.
„Sozialstaat und Demokratie sind siamesische Zwillinge.“
Warum sagt kein führender Politiker, was sie gerade ausgeführt haben?
Weil es eine heikle politische Botschaft ist, den Leuten zu sagen, ihr seid seit 30, 40 Jahren belogen worden. Man darf aber auch nicht die politische Gefahr unterschätzen, die darin liegt, was die RV jetzt aufbeschwört. Wenn wir uns überlegen, dass der Sozialstaat und die Demokratie siamesische Zwillinge sind, und wenn wir uns überlegen, was es bedeutet, dass immer mehr Menschen bei steigenden Beiträgen sehen, dass ihre Renten unter Grundsicherungsniveau landen, dann wissen wir, was die Stunde für die Demokratie geschlagen hat. Vor allem weil die Alten die Wählergruppe sind, die dominant ist.
Und welche Stunde hat geschlagen?
Die Stunde, in der die Demokratie wirklich wackelt. Die Menschen haben auf breiter Front Existenzängste. Und Existenzängste führen immer zu Extremismus-Reaktionen. Die Leute radikalisieren sich. Man konnte in den 1930er Jahren wunderbar beobachten, was in Deutschland los war, als die breite Masse Existenzangst kriegte. Da waren Möglichkeiten für radikale Parteien fürs Abfischen gegeben. Und etwas ähnliches erleben wir jetzt – vor allen Dingen mit Nachholeffekt – in Deutschland.
Nun sagen selbst führende Politiker, dass die Einführung etwa der Riesterrente, als eine private Säule, wunderbar funktioniert und mit 16 Millionen Verträgen ein gutes Ergebnis erzielt hat.
Wo hat denn die Riesterrente je eine Bewährungsprobe bestehen müssen? Wir wissen, dass die Riester-Fonds unter den gleichen Problemen leiden, unter denen die Finanzmärkte weltweit leiden. Und wir haben ja schon einige Fonds gehabt, die in der Finanzmarktkrise 2008 beinahe über die Wupper gegangen wäre und nur durch Steuerleistungen dieses Fiasko verhindert werden konnte.
Ganz aktuell: Was ist ihre Kritik an der Riesterrente? Etwa 20% der Verträge werden nicht mehr bedient, wurden gekündigt oder storniert.
Die Riesterrente ist vom Konzept her schon völlig irrsinnig. Weil Kapital in reichlichem Maße sowieso schon vorhanden ist. Wir müssen die Leute nicht noch mehr zum Sparen anhalten. Deutschland leidet unter Nachfrageschwäche, und die Riesterrente ist ein direkter Weg dazu, die wirtschaftsaggregate Nachfrage, Staatsverbrauch und Investition völlig aus dem Takt zu bringen.
Riester-Rente: „Hokuspokus“
Genau die Zielgruppe, die für eine Zusatzversicherung gewonnen werden sollte, steigt jetzt aus.
Die Riesterrente hat von Anfang an darunter gelitten, dass die, die sie am dringendsten nötig gehabt hätten, am wenigsten freie Mittel haben, um da nochmal anzusparen. Und diese ganze Staatsförderung, dieser ganze Hokuspokus, hat nur die Tatsache verschleiern sollen, dass die Riesterrente mit einem ganz anderen Zweck und einer ganz anderen Zielrichtung eingeführt wurde, nämlich um a) der Versicherungswirtschaft, die damals kränkelte, unter die Arme zu greifen und b) den Bundeshaushalt zu entlasten. Dass man mit der Riester Rente nicht nennenswert einen Beitrag zur Altersvorsorge leisten könnte, muss damals eigentlich auch jedem klar gewesen sein. Die Rentenversicherer selbst, die Vertreter der umlagefinanzierten, gesetzlichen Rente, haben sich von Anfang an gegen die Riester Rente ausgesprochen, haben später ihre Kritik abgemildert, weil sie selber ins Fadenkreuz gerieten.
Heute gibt es auch massive Kritik an der Riesterrente. Die Gewerkschaften, die Parlamentarische Linke in der SPD-Fraktion u.a. Gruppen wollen sie ablösen oder zumindest auslaufen lassen. Ist das das richtige Ziel?
Ich bin der Meinung, wir brauchen keine kapitalgedeckten Anwartschaftsformen in der Alterssicherung. Man sollte das Geld, das man in Riester reingesteckt hat, zu 100% in die Bildung der Nachwuchsgeneration investieren, da haben wir 100 mal mehr davon.
Wie sehen Sie das Thema einer neue private Säule der betrieblichen Altersversorgung (BAV). Ist das der geeignete Weg, um nochmal Geld für die Rente zu mobilisieren?
Wer den Betriebsrenten das Wort redet, der sollte sich anschauen, was in der Schweiz passiert ist. Die Schweiz hat 1989 die obligatorische zweite Säule der Betriebsrenten eingeführt. Die erste Konsequenz, die die Schweiz dann in der Schweiz selbst führte, war eine Aufblähung der Immobilienpreise, so dass diese Blase dazu zwang, die Inlandsbindung der Kapitalien zu lockern und zu gestatten, auch im Ausland nach Anlageformen zu suchen. Die sind dann alle, wie die Lemminge, nach Südostasien gegangen, und sind von der Tigerstaatenkrise erwischt worden, mit der Konsequenz, dass sie Mitte der 1990er Jahre praktisch wieder bei Null anfangen mussten. Dann sind sie in den neuen Markt gewechselt, sind am Neuen Markt erwischt worden und zum dritten Mal bei der Krise 2007-09.
Noch einmal, warum halten Sie die betriebliche Säule als Zusatzsäule für nicht tauglich?
Weil sie nur kapitalgedeckt funktionieren kann, und Kapitaldeckung ist die Verschärfung eines Problems, das uns heute schon furchtbar zu schaffen macht. Die Empirie in der Schweiz zeigt: es funktioniert nicht. Jede Form, in der wir versuchen, solidarisches, gesellschaftliches Teilen durch Kapitalmarktinvestitionen zu ersetzen, liefert unsere Gesellschaft den Kapitalmarktgesetzen aus. Und nichts ist zur Zeit so volatil und unsicher wie der Finanzmarkt.
Kapitalmarkt verschärft die Probleme der Rentenversicherung
Heißt ihre Analyse-Formel: Der Kapitalmarkt mit seiner ganzen Volatilität und seinen Unwägbarkeiten ist für die Stabilität der Rentenversicherung ungeeignet?
Ungeeignet! Der Kapitalmarkt mit seinen Risiken führt dazu, dass sich die Risiken aus der demografischen Entwicklung durch die Unsicherheiten der Kapitalmärkte nochmal verschärfen.
Das sieht der Gesamtverband der Versicherungsindustrie aber anders.
An fünf Fingern einer Hand ist abzuzählen, was passiert. Sass wir bei einer schrumpfenden Nachwuchsgeneration und gleichzeitigem Bildungsverfall in dieser Generation nicht darauf hoffen können, dass wir in Deutschland eine wirtschaftlich strahlende Zukunft haben werden – und die ist ja Voraussetzung für eine gute Alterssicherung.
Wenn sie ihre vorgetragene Kritik bündeln: welches Zukunftspanorama sehen Sie für die Rente?
Wenn wir uns fragen, wie wir aus der Sackgasse kommen, in die wir uns reinmanövriert haben, dann muss man nach meiner Überzeugung zwei Maßnahmen mit Verve angehen. Das erste ist, dass wir aus dem Klassensystem bei der Alterssicherung raus müssen. Dass die Abgeordneten Gesetze machen, die Beamten diese vollziehen und die Richter, die zu diesen Fragen Recht sprechen, dass die alle nichts davon mitkriegen, wie diese Gesetze sich am eigenen Leib anfühlen, das ist ein Skandal sondergleichen. Diese Zwei-Klassen-AV muss beendet werden.
...indem alle einzahlen.
Wir müssen es machen, wie die Schweiz es in der Alterssicherung macht. Alle Gruppen, alle Einkommensklassen müssen rein ins System. Das war mein Vorschlag, den ich schon vor 20 Jahren gemacht habe, dass wir das System steuerähnlich, nach dem Muster des Solidaritätszuschlages Ost, nämlich als Zugschlag zur Einkommenssteuer, finanzieren. Das alleine verspricht uns Transparenz. Und Transparenz ist die Grundvoraussetzung für ein solidarisches Miteinander. Weil man nur dann solidarisch ist, wenn man die Verantwortung für den Mitmenschen „wahrnehmen“ kann. Bei etwas, das so unübersichtlich ist, ist es nicht möglich.
Kleinere Einkommen werden härter belastet als Hochverdiener
Das heißt, man könnte davon ausgehen, dass die Intransparenz, die Undurchschaubarkeit des ganzen Systems gewollt ist?
Es ist jedenfalls auffallend, dass wir in Deutschland einen Konsens vieler politischer Lager haben, dass man sich scheut, an dem Punkt Rente Klarheit und Wahrheit gelten zu lassen. Das fängt an beim Begriff der Versicherung, bei dem jeder eigentlich erkennen müsste, dass der Versicherungsbegriff vorne und hinten nicht passt. Es geht weiter über die Tatsache, dass man die Finanzierung der Rentenversicherung so organisiert hat, dass letztlich die Niedrigverdiener am härtesten belastet werden. Das ist nämlich die Konsequenz aus Beiträgen eines Beitragssatzes mit linear proportionalen Beiträgen. Dass der 1000 EUR Verdiener ebenso wie der 5000 EUR Verdiener den selben Beitragssatz bezahlt, führt mit der Beitragsbemessungsgrenze von jenseits 70.000 Jahresverdienst dazu, dass die kleineren Einkommen viel härter belastet werden als die Hochverdiener. Ein solches System verstößt von A bis Z gegen die Grundsätze der Verteilungsgerechtigkeit.
Aber selbst Arbeiter mit einem geringen Einkommen werden an die Grenze der Grundsicherung kommen.
Vor allen Dingen ist es kein sinnvolles System, wenn Sie sich klarmachen, dass bei steigenden Beiträgen – und die werden in den nächsten 10 Jahren rasant steigen, auf 23, 24, 25% bei sinkenden Leistungen, Leistungen, die unter das Grundsicherungsniveau auf breiter Front absinken – dieses System alle Rationalität für die Beteiligten verliert. Sie werden sich betrogen fühlen, sie werden sich von diesem Staat abwenden – und das ist die Stunde der Extremisten.
Ein wesentlich späteres Renteneintrittsalter ist also sicher?
Wenn wir das beim Rentenalter belassen, dann ist das so. Aber wenn Sie die Stimmen aufmerksam hören, dann registrieren sie sicher auch, dass wir jetzt davon reden, man solle den Alten doch die Freiheit lassen, zu arbeiten so lange sie wollen. Wenn die Alten später, oder bereits jetzt, arbeiten müssen, dann werden sie arbeiten. Und das bedeutet, dass wir zur Zeit eine schleichende Abschaffung des Rentenalters als solches erleben.
Und warum beschwert sich kaum jemand über diese Entwicklung?
Weil das alles für sie nicht begreifbar ist.
Dann haben aber auch „Sie“ versagt. Dann haben Sie offenbar nicht ausreichend vermittelt, was auf die Rentner und Rentnerinnen zukommt?
Was ich tun konnte, habe ich getan. Ich habe versucht, diese Fragen dem Bundesverfassungsgericht auf den Tisch zu legen, und wir haben die Urteile auf dem Richtertisch präsentiert bekommen. Dass die Kindererziehung äquivalent zu behandeln ist in den Alterssicherungssystemen. Und das ist der springende Punkt, den alle in den Reformdiskussionen in Deutschland zur Zeit verleugnen.
Rente: zentrales Thema 2017
Kann das Thema „Rente“ noch ein Streitthema werden?
Natürlich. Ich nehme an, dass wir im Wahlkampf 2017 ein zentrales Thema Rente erleben werden. Das ahnt die Politik mittlerweile auch. Dass Entwicklungen – wie beispielsweise das Erstarken der AfD – damit zu tun haben, da versagt die Politik.
Noch hat die AfD das Thema Rente nicht herausgehoben.
Die Führungspersonen der AfD arbeiten am Thema Rente. Das kann ich ihnen versichern. Es sind bereits viele Anfragen an mich herangetragen worden. Ich verweise dann immer auf meine Arbeiten. Da steht alles drin.
„Ich predige in jeder Kirche.“
Aber die AfD würden sie nicht beraten?
Ich berate alle Parteien. Da bin ich wie der Apostel Paulus. Ich predige in jeder Kirche.
Ganz egal wie rechtsextrem sie abrutscht?
Das, was ich zu sagen habe, ist doch das Gegenteil von Rechtsextremismus. Es ist ja nicht nur so, dass ich die AfD berate oder beraten habe, ich habe alle Parteien quer durchs Parteienspektrum – angefangen von der Linken bis zur CSU – in der Rentenfrage beraten.
Und was haben die intensiven Beratungen bislang gebracht?
Das war häufig sehr enttäuschend. Ich konnte feststellen, dass die führenden Politiker in Sachen Rentenversicherung sehr genau wissen, was los ist.
Sie wissen es, aber Sie handeln nicht, um das Problem zu lösen.
Das ist die Quintessenz.
Warum ist das so?
Weil sie Wählermathematik betreiben. Es ist doch klar, dass ein Politiker – so wie wir Politik betreiben, mit dieser repräsentativen Demokratie – immer auf die Quantitäten schaut. Und das ist der große Fehler unseres Systems: dass wir ideal funktionieren, wenn es darum geht, Partikularinteressen, die einen starken Patron haben, zum Durchbruch zu verhelfen. Ob das Automobil-, Chemieindustrie oder starke Wirtschaftsverbände sind, da sehen wir, dass alles prima funktioniert. Dieses System funktioniert aber gerade dort nicht, wo es um die grundlegendsten Fragen der Gesellschaft geht. Gerade beim Nachwuchs. Der Nachwuchs wählt nicht. Das sind Kinder. Das sind Fragen, für die man keine Patrone findet. Da passiert etwas ganz Verrücktes: Je fundamentaler die Interessen sind, die wir eigentlich im Auge haben müssten, desto vielstimmiger wird das Konzert der Einzelinteressen, die sich der Verwirklichung des fundamentalsten Interesses entgegenstellen.
Das ist ein verheerender Befund.
Dass die Demokratie, wie wir sie praktizieren, an den Existenzfragen scheitert. Wir müssen uns schleunigst überlegen, wie wir Korrektive einbauen.
Haben Sie noch einen Funken Hoffnung, dass sich das Rentensystem ändern lässt und es insgesamt mehr Verteilungsgerechtigkeit geben wird?
Die Verteilungsfrage ist in verschiedenen Schattierungen im letzten Jahr auf der Tagesordnung gewesen. Und ich hoffe sehr, dass wir eine Partei haben, die dieses Thema in den Vordergrund stellt, weil sie so alle anderen Parteien zwingt, auf dieses Thema einzusteigen. Dass in den grundlegenden Fragen in diesem Staat etwas faul läuft, kapieren die Bürger. Die Chance zur Korrektur haben wir jederzeit. Diese RV ist über Nacht eingeführt worden. Kein einziger der Rentner, der 1957 plötzlich zu den Wohlhabenderen in diesem Lande gehörte, hat jemals Beiträge für dieses System gezahlt. Das System ist über Nacht geschaffen worden. Und wir müssen es notwendigerweise, binnen kürzester Zeit, wieder korrigieren.
Gibt es eine Chance, dass die höchsten Gerichte grundsätzlich intervenieren, weil sie die einzelnen Argumente zur Kenntnis nehmen?
Es ist tatsächlich so, dass die Politik bei Verteilungsfragen versagt. Die einzige Instanz, die sich an Verteilungsfragen noch ran wagt, ist des Bundesverfassungsgericht (BVG). Das BVG kommt aber auch nur bei Familienfragen an den Kern dieser Probleme ran. Und insofern sind die familienpolitischen Urteile des BVG auch wegen des Kontextes zur Verteilungsfrage besonders bedeutsam. Dass das, was man bei Familien verbietet, natürlich in den Strukturen verboten wird – und die Strukturen belasten gewöhnlich Niedrigeinkommen hstärker als die höheren Einkommen. Das ist eine Grundkrankheit in unserer Gesellschaft: dass in einem sogenannten Solidarsystem eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet, dass die Schwarte kracht. Das ist ein Skandal.
Zweifel gibt es bei Ihnen nicht? Sie wälzen sich gegen den Stein und der Stein wird immer größer und erdrückt Sie?
Resignation ist nicht mein Naturell.
Es gibt also bei Ihnen auch so eine Art resignative Reife?
Ich hatte einen Lehrer, Oswald von Neo-Breuning, der mit 101,5 Jahren immer noch am Ball war und seine Hoffnung nicht aufgegeben hat. Wer keinen Mut zu träumen hat, hat keine Kraft zu kämpfen.
Wenn man ihrer Analyse folgt, lassen sich die ungelösten Rentenprobleme leicht populistisch ausschlachten?
Das ist doch ganz logisch zu erklären. Die Leute haben Zukunftsängste, und Zukunftsangst macht empfänglich für radikale Botschaften. Das ist der eigentliche Entstehungsgrund für die AfD: dass wir von den etablierten Parteien eine Politik erlebt haben, die die wesentlichen Zukunftsfragen immer hat schleifen lassen und den Bürgern ein X für ein U vorgemacht hat. Und dafür müssen sie jetzt einen Preis zahlen, und ich hoffe, dass das jetzt endlich mal zum Aufwachen führt.
Würden Sie auch für die AfD in den Bundestag ziehen?
Da würde ich wahrscheinlich vorziehen, eine eigene Partei zu gründen.
Das Gespräch führte Thomas Leif
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