Thomas Leif: Herr Prof. Trabert, was ist Ihre Bilanz nach vier Stunden medizinischer Betreuung von armen Menschen?
Gerhard Trabert: Leider hat sich heute wieder in vielfältiger Weise bestätigt, dass es gut ist, dass es uns gibt, da das derzeitige Gesundheitsversorgungssystem zu große Lücken aufweist. Das zeigt zum Beispiel der Patient, der aus dem Strafvollzug entlassen wird oder die Menschen in dieser Unterkunft (eine Unterkunft für Geflüchtete, d. Red.), die weggeschickt werden, obwohl sie krank sind, und von den niedergelassenen Kollegen nicht behandelt werden, da sie kein Krankenversicherungsdokument besitzen. Dies alles verstehe ich häufig nicht mehr.
Und das persönliche Gefühl? Gestresst? Genervt? Ein bisschen kaputt nach so vielen Stunden?
Ich fühle mich müde und (lächelt) ich bin manchmal vermutlich auch etwas genervt, ja, gestresst. Ich habe dennoch ein gutes Gefühl, dass wir als Team präsent sind und dass wir hier sind. Dies jede Woche erneut psychisch auszuhalten ist nicht immer einfach. Die besonders belastende Erfahrung und Erkenntnis dabei ist, dass es brutale Realität ist, dass zahlreiche Menschen nicht in unserem normalen Gesundheitssystem aufgefangen und betreut werden.
Aber ist das nicht eine paradoxe Situation? Schließlich kompensieren Sie die Not durch Ihre private Arbeit. Damit füllen Sie die Lücke und die anderen können so weitermachen wie bisher.
Das ist richtig. Insofern sind wir Teil des Problems, ja. Das ist eine uralte These, die in der Sozialarbeit schon immer sehr kontrovers diskutiert wurde: Man muss die Verelendung sich weiter entwickeln und gewähren lassen, weil sich erst dann, durch die größere Sichtbarkeit von Not und Ungerechtigkeit und den dadurch möglicherweise erhöhten Handlungsdruck, im System vielleicht etwas ändert. Das Problem dabei ist allerdings: ich kann keinen Menschen einfach so im Stich lassen. Ich muss die Existenz sichern. Ich muss für die Menschen da sein. Das verstehe ich auch als meine ärztliche Ethik und soziale Verantwortung als Mitmensch. Aber ich muss selbstkritisch mit mir und diesem spezifischen Gesundheitssonderversorgungsangebot umgehen, das auch ausgrenzende Facetten aufweist, da es nicht systemimmanent arbeitet. Entsprechend muss ich parallel immer wieder fordern, dass die Menschen im System, im Gesundheitssystem, versorgt werden.
Aber das Gegenteil passiert doch zunehmend: Flüchtlinge werden offenbar häufig abgewiesen. Der eine sagt, er hat keine Röntgenaufnahme bekommen. Der andere wurde vom Hausarzt weggeschickt. Sie bleiben dazwischen. Das heißt, Sie kompensieren die Lücke, die andere lassen, oder?
Wir sehen es als unsere Aufgabe, den Patienten, der im Mittelpunkt unseres Handelns steht, zu seinem Recht zu verhelfen. Wir werden unser Netzwerk nutzen und versuchen Möglichkeiten zu finden, dass bei dem Patienten die notwendige Röntgenaufnahme durchgeführt wird. Dies ist frustrierend, aber zugleich eine Stärke unserer kritischen Haltung und Position. Denn aufgrund unserer Nähe zu diesen praktischen Problemsituationen sind wir sehr authentisch, können kompetent die Probleme benennen und kritisieren und lassen die problemorientierten Fragen somit wieder zurück ins System einfließen.
Hilfe und Druck quasi, das ist ihr Konzept?
Das ist vollkommen richtig, ja.
Was haben Armut und Gesundheitsversorgung miteinander zu tun?
Es ist leider eine seit Jahrzehnten bekannte Beziehungskonstellation, ohne dass die Politik hier etwas unternimmt. Im Gegenteil, die unzureichende Gesundheitsversorgung von sozial benachteiligten Menschen nimmt in unserer Gesellschaft stetig zu. Es gibt die These, Armut macht krank und Krankheit macht arm. Beides trifft zu. Wir wissen, aufgrund zahlreicher Studien und Expertisen, dass Armut bei Kindern zu einer zunehmenden Erkrankungsrate führt und dass bei Erwachsenen Krankheit und insbesondere chronische Erkrankungen häufig zu Einkommensarmut führt. Dies bestätigen zunehmend die Deutsche AIDS-Hilfe oder auch die Deutsche Krebshilfe. Bei den Gründen für eine Verschuldung, steht Krankheit mittlerweile an vierter Stelle. Das ist in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Menschen mit einem mittleren Einkommen in diesem reichen Deutschland, die jedoch chronisch krank sind, verarmen zunehmend. Meines Erachtens ist dies ein deutlicher Hinweis darauf, dass es strukturelle Fehler und Defizite in unserem Versorgungssystem gibt.
Aber wir haben doch das beste Gesundheitssystem der Welt.
Das stimmt. Aber leider nur noch für einen Teil der Gesellschaft.
Und für den Rest?
Nein, schon lange nicht mehr. Wir haben schon jetzt eine Drei-Klassen-Medizin. Für einen Teil der Bevölkerung ist unser Gesundheitssystem hervorragend, aber für immer mehr Menschen ist es zu hochschwellig, wird die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen immer mehr von der ökonomischen Lebenssituation des Erkrankten abhängig. Unser Gesundheitsversorgungs- und Sozialleistungssystem ist krank und verursacht selbst Krankheit, Krankheitsverschlimmerung und Ausgrenzung.
Gibt es denn überhaupt Armut in Deutschland?
Natürlich gibt es Armut. Ich habe immer wieder das Gefühl, dass die existierende Armut in unserer Gesellschaft heruntergespielt und negiert wird. Natürlich haben wir Armut und sie nimmt zu. Dabei bedeutet diese Armut gerade nicht das, was vielen von Armut betroffenen Menschen immer wieder relativierend unterstellt wird, nämlich dass es lediglich um den Verzicht von Konsumgütern ginge. Nein, Armut in Deutschland bedeutet, dass die davon betroffenen Menschen früher sterben. Wenn man das reichste mit dem ärmsten Viertel unserer Bevölkerung vergleicht, sterben Männer, die von Armut betroffen sind, elf Jahre und Frauen acht Jahre früher.
Woran liegt das, dass um das Thema Armut so ein heftiger Streit tobt?
Weil daran deutlich wird, dass diese Gesellschaftsform, so wie sie momentan praktiziert und gelebt wird, humanitär bei zahlreichen Menschen versagt. Das ist ein Armutszeugnis für die Entscheidungsträger, für die Politik. Es gibt kein Armutsbekämpfungskonzept. Es wird nur darüber gesprochen, während die Verelendung in unserem Land weiter zunimmt. Das wird durch die Menschen, die von Armut betroffen sind, immer wieder deutlich. Es geht um die Tatsache, dass der Reichtum und die Armut in dieser kapitalistisch orientierten Demokratie zunimmt. Dass wir in Deutschland seit Jahrzehnten eine politisch gewollte Umverteilung von unten nach oben haben. Finanziell Wohlhabende werden steuerlich entlastet, während die Allgemeinbevölkerung steuerlich immer mehr belastet wird. Bertold Brecht fasst dies sehr treffend in dem Satz zusammen: "Wäret ihr nicht arm, wären wir nicht reich." Reichtum verpflichtet, so steht es schon im Grundgesetz. Wer über Armut redet, muss auch über Reichtum sprechen und dazu ist die etablierte Politik nicht bereit.
Was bringen Armuts- und Reichtumsberichte? Tausende von Seiten, Stapel von Papier?
An sich – wenn diese Berichte von unabhängigen Teams, wissenschaftlichen Experten durchgeführt werden – sind diese Berichte wichtig und notwendig, um analytische Erkenntnisse zu erhalten. Diese liefern uns dann wiederum Hinweise auf die Ursachen von Armut, auf strukturelle Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsprozesse. Wir benötigen diese Daten und Fakten, um Armut konzeptionell bekämpfen zu können. Wenn man nur darüber redet, wenn man diese Armutsberichte verwaltet und sie damit keine Konsequenz für die Realität haben, dann bringen sie nichts.
Vier Armutsberichte wurden bereits vom Bund veröffentlicht, der fünfte folgt wohl im Sommer. Dazu dutzende in den Ländern. Haben sie Konsequenzen?
Ich sehe innerhalb des politischen Diskurses keine Konsequenzen. Gerade der letzte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verharmlost Faktoren, die zu einer Verarmung führen. Das Thema Arbeitslosigkeit, Armut und Krankheit, ist eines der vielen Beispiele, die diese Verharmlosungsstrategie bzw. das Negieren von wissenschaftlich belegten Fakten deutlich macht. Die Suizidquote bei arbeitslosen Menschen ist zwanzigfach höher als bei Erwerbstätigen. Die Depressionsrate ist deutlich erhöht. Darüber finden Sie kein einziges Wort in diesem Armutsbericht. Genau wie über die Gesundheitsreform, die Zuzahlungen, die zunehmenden Eigenbeteiligungen, diese Entsolidarisierung im Gesundheitssystem, die Aufgabe der Parität, das Festschreiben des Arbeitgeberanteils an den Krankenversicherungsbeiträgen und die dynamische Anpassung, sprich einseitige Erhöhung der Arbeitnehmerbeiträge. Dies alles sind Faktoren, die viele Menschen weiter ausgrenzen und von einer adäquaten Gesundheitsversorgung entfernen. Dies wird nicht thematisiert und nicht bekämpft.
Wenn das so ist, warum werden solche Berichte überhaupt noch mit großen Aufwand geschrieben?
Wie schon erwähnt, sind von der Politik unabhängige wissenschaftliche Berichte und Analysen zum Thema Armut wichtig. Leider ist diese Unabhängigkeit von der Politik bei den bundesdeutschen Armuts- und Reichtungsberichten nicht gegeben. Die Berichte haben eher eine Alibifunktion. Man hat einen Bericht, der an der Oberfläche vielleicht ein wenig analytisch mögliche Ursachen reflektiert. Meist wird aber auch in diesen politisch bestimmten Armuts- und Reichtumsberichten das Phänomen Armut individualisiert. Diese Berichte dienen nicht einer kritischen gesellschaftsstrukturellen Analyse, sie reflektieren nicht die wirklichen Ursachen, sie führen vor allem zu keinen Konsequenzen innerhalb der aktuellen Politik.
Warum nicht?
Seit über 20 Jahren widme ich mich praktisch und theoretisch dem Thema Armut in unserer Gesellschaft. Mittlerweile ist es für mich Realität, dass diese Ignoranz systemimmanent politisch gewollt ist. Dass die etablierte Politik, dass die wirklich Mächtigen in dem Land, dass Finanz- und Wirtschaftkapitalismus, es nicht wahrhaben wollen, oder auch billigend in Kauf nehmen, dass unser Gesellschaftssystem, unsere Versorgungsstrukturen defizitär sind und dass man damit Armut produziert und vielleicht auch produzieren will – als Abschreckungspotential in unserer Gesellschaft: Funktionierst du nicht nach den Spielregeln einer Konsum-und Leistungsgesellschaft, wirst du mit Armut bestraft.
Und warum wehren die Armen sich nicht? Das Statistisches Bundesamt sagt zwar, 18 Prozent sind arm und armutsgefährdet, aber es passiert doch politisch nichts.
Ich vermute dass viele betroffene Menschen zutiefst frustriert sind. Dass sie durch diese Ausgrenzungs- und Stigmatisierungspolitik, durch zahlreiche persönliche Erfahrungen der Geringschätzung, der Entwürdigung, der Diskriminierung, diese Suggestion, defizitär zu sein, häufig verinnerlicht haben. Sie glauben wirklich, sie seien selbst schuld an ihrer Situation. Wobei die Schulddiskussion, die persönliche Schuldfrage, in diesem Kontext für mich nicht im Zentrum stehen darf. Ob strukturell oder persönlich verursacht – unsere gesellschaftliche Verpflichtung ist es, zu unterstützen, zu begleiten, Menschen wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückzuholen. Viele von Armut betroffene Menschen wehren sich nicht, weil sie einfach am Boden sind, weil man sie auf den Boden drückt und ihnen nicht hilft wieder aufzustehen.
Und warum sind diese Entwicklungen offenbar kein Thema für die Spitzenpolitik?
Die Betroffenen stellen nicht unbedingt das Wählerpotential der etablierten Parteien dar. Viele Armutsbetroffene sind so resigniert, dass sie auch nicht mehr zur Wahl gehen. Zudem beinhaltet eine wirkliche Armutsbekämpfungspolitik immer auch ein Umverteilen von ökonomischen und finanziellen Ressourcen von oben nach unten. Von Armut betroffene Menschen haben eben keine Lobby. Dennoch kann ich doe Untätigkeit der Politik nicht wirklich nachvollziehen. Ich verstehe nicht, warum das abendländische Menschenbild einer humanistisch-christliche Einstellung, auf die wir uns doch immer wieder in unserer Gesellschaft berufen, bei den etablierten Parteien so wenig von Bedeutung ist.
Sie verfolgen ja auch eine Doppelstrategie: Einerseits arbeiten Sie mit den Behörden, reden mit Politikern, aber Sie verweigern sich auch, wenn man Sie zu sehr umarmen will.
Ja, das ist richtig. Mittlerweile bin ich für mein Engagement im Armutskontext mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt worden. Zum einen habe ich häufig das Gefühl, instrumentalisiert zu werden. Es wird sozusagen etwas gegen Armut getan, wenn man Menschen, die sich in diesem Armutsfeld engagieren, auszeichnet. Es geht aber nicht um mich, um die Menschen die sich engagieren, es geht um die von Armut Betroffenen. Sie müssen im Mittelpunkt stehen. Die Ehrung von Engagierten hat somit wiederum fast eine ausgrenzende Facette bezüglich der Betroffenen. Dieses Empfinden macht mich sehr wütend und zugleich auch ohnmächtig. Diese Nähe zur Politik versuche ich dann aber auch zu nutzen und einzusetzen, um noch nachhaltiger bestimmte Forderungen in die politische Diskussion einbringen zu können. Ob mir dies wirklich gelingt, vermag ich nicht zu beurteilen.
Das klingt etwa so: "Ach, der liebe Trabert, die Heilige Johanna der Schlachthöfe, der macht alles richtig, der ist toll." Ein Symbolbild auf einem Denkmal?
Ja, in dieser Hinsicht haben Sie vollkommen recht: Ich sehe meine Rolle und Funktion dabei auch sehr kritisch. Der Hype, der dann zum Teil um meine Person gemacht wird, ist schwer zu ertragen. Die Gefahr ist sehr groß, dass ich selbst auch ein Teil des Problems darstelle, weshalb sich nicht wirklich etwas verändert. Ich bin schon frustriert und deprimiert, weil ich das Gefühl habe, dass sich nichts nachhaltig ändert. Die Ausgrenzungs- und Unterdrückungsstrukturen werden immer brutaler in unserer Gesellschaft. Der Einkommensstarke, der Vermögende wird gefördert und immer vermögender. Der Einkommensschwache, der vielleicht sehr sensible Mensch, der eben nicht alles systemkonform macht, der sehr einfühlsam ist, für den ist in unserer brutalen Leistungsgesellschaft dann sehr schnell kein Platz. Ihnen begegne ich begegne bei meiner Arbeit, bei meinen ärztlichen Sprechstunden.
Und warum machen Sie trotz der Frustration weiter?
Weil es für diesen Kampf, für dieses Engagement keine Alternative gibt. Die betroffenen Menschen benötigen diese konkret praktische Hilfe, sonst ist ihre Existenz physisch wie psychisch gefährdet. Zudem habe ich die Illusion oder die Vision, dass unsere Arbeit, ein Zeichen setzen kann. Dass es in unserer Gesellschaft etwas anderes von zentraler Bedeutung gibt, dass Gleichwürdigkeit und respektvoller Umgang miteinander im Zentrum stehen muss und nicht die Profitmaximierung. Hoffnung diesbezüglich ist immer wieder das Feedback zahlreicher Bürgern, wenn ich bei meiner Tour durch die Innenstadt, von wildfremden Menschen, die mich erkennen, angesprochen werde, mit den Worten: "Das ist toll, was Sie machen." Es geht mir dabei nicht um diese Form der Anerkennung, aber es geht mir um die Solidarität. Ich glaube und hoffe, dass unsere Einstellung zu einer sozial gerechten Politik von immer mehr Menschen geteilt wird, die stärker sowie nachhaltiger von der Politik einfordern, endlich die Entscheidungen in Richtung Armutsbekämpfung zu überdenken.
Das heißt, man braucht so einen Strohhalm Optimismus, um diese Arbeit überhaupt zu machen?
Absolut. Man nennt das dann wohl ein Zufriedenheitsparadoxon. Die eigene Situation wird positiver eingeschätzt als sie sich in der Realität darstellt, um überhaupt weiter in dieser Welt existieren zu können. Diese Selbstsuggestion betreibe wahrscheinlich auch ich. Wer aber kein Optimist bleibt, kann strukturell nicht wirklich etwas verändern.
Und wenn Sie jetzt politisch handeln könnten, was wäre Ihre Strategie gegen Armut?Was wäre Ihre ganz pragmatische, banale Lösung?
Der Reichtum muss unverzüglich umverteilt werden. Momentan erleben wir immer noch eine Umverteilung von unten nach oben. Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer. Wir brauchen aber eine Umverteilung von oben nach unten. Wir müssen eine Vermögenssteuer einführen. Wir brauchen eine höhere Einkommenssteuer. Wir brauchen ein solidarisches Gesundheitssystem, ein Beispiel hierfür wäre das Konzept der Bürgerversicherung. Wir müssen die Parität bei der Zahlung der Krankenkassenbeiträge wieder herstellen. Wir brauchen bezahlbare Mietpreise – über zwei Millionen Wohnungen stehen leer –, der soziale Wohnungsbau muss wieder praktiziert werden. Wir brauchen Löhne, von denen die Menschen leben können. Ich hätte da noch zahlreiche weitere Vorschläge.
Die Umsetzung aller Vorschläge liegt in ganz weiter Ferne, oder?
Das mag bei den derzeitigen politischen Machtverhältnissen so sein. Die Forderungen von heute sind aber die Realität von morgen. Wir dürfen nicht aufhören für eine sozial gerechte Gesellschaft zu kämpfen. Wir dürfen Armut nicht akzeptieren im viertreichsten Land dieser Erde.
Sogar die Grünen haben Teile dieser Ziele aufgegeben.
Ja. Die Sozialdemokraten, die Grünen, alle geben sie diese Werte auf. Deshalb müssen wir die etablierten Parteien, gerade auch die, die sich ein "C" auf ihre Fahnen schreiben, kritisieren, hinterfragen. Wir müssen das politische Machtdenken skandalisieren, Lobbyisten entlarven, politische Entscheidungen enttabuisieren.
Und wer bleibt dann noch übrig? Wer soll das umsetzen, was Sie im Kopf haben?
Ja, das ist natürlich eine zentrale Frage. Ich weiß es derzeit nicht wirklich. Ich selbst bin in keiner politischen Partei, und versuche damit auch, ein Schubladendenken bezüglich meiner Ansichten bei mir selbst oder auch bei den Gegnern zu verhindern. Die linke Partei sagt viele Dinge, die ich in diesem Kontext für sehr gut erachte. Ich glaube, wir brauchen wieder eine starke außerparlamentarische Opposition. Wir dürfen uns das nicht gefallen lassen und wir müssen vielleicht noch mehr auf die Straße gehen und unsere Forderungen demonstrierend kundtun. Wir müssen uns dabei auch gegen menschenverachtende rechtspopulistische und rassistische Gruppierungen wie die AfD entschieden zur Wehr setzen.
Aber die politische Stimmung scheint doch so zu sein, dass die Leute lieber ihren zweiten Skiurlaub planen als auf die Straße zu gehen.
Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich auf das Gros der Menschen zutrifft. Die sogenannte Willkommenskultur, die den geflüchteten Menschen doch von der Mehrheit der Menschen in Deutschland entgegengebracht wird, deutet auf eine besondere menschliche Ressourcce hin. Da ist eine hohe Sensibilität gegenüber der Situation der Menschen vorhanden. Es gibt eine repräsentative Umfrage, in der man die bundesdeutsche Bevölkerung fragte: "Wollen Sie, dass alle Menschen eine adäquate medizinische Versorgung bekommen?" – Flüchtlinge, Wohnungslose, Papierlose, und weitere Personengruppen. Über 60 Prozent haben mit "Ja" geantwortet. Und fast 50 Prozent haben gesagt: "Ich bin sogar bereit, einen eigenen Beitrag zu leisten. Pro Monat vier Euro." Dies lässt mich hoffen, dass in unserer Gesellschaft doch eine Solidarität und ein Potential an Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit vorhanden ist, das noch stärker aktiviert werden muss.
Sie haben heute ausgerechnet hier, wo früher das Armenzentrum war, und wo heute Flüchtlinge leben ihren Bus stationiert. Ist das auch ein Zeichen dafür, dass die Flüchtlinge von heute die neuen Armen sein werden und wir einen neuen Kampf haben zwischen den ganz Armen und den Flüchtlingen?
Sie betonen wieder mein Engagement. Ich bin die Spitze eines Eisberges von Aktivisten, Mitarbeitern und engagierten Menschen. Wir sind ein Team. Das ist mir sehr wichtig. Ich bin lediglich ein kleiner Teil dieses Teams.
Es darf auf keinen Fall Armut gegen Armut ausgespielt werden. Die zu uns geflüchteten Menschen zeigen die Versäumnisse der Vergangenheit und der Gegenwart bezüglich einer wirklichen Armutsbekämpfung auf.
Was nicht sein darf, das nicht sein kann?
Ich hoffe nicht. Ich sehe darin sogar eine mögliche Chance, Armut insgesamt ohne Differenzierung zu bekämpfen. Die Notwendigkeit, hier strukturelle Akzente zu setzen wird noch deutlicher. Ich sehe in dieser neuen Herausforderung die Möglichkeit, darauf aufmerksam zu machen, dass wir schon lange ein Armutsproblem haben. Eine Lösung ist, wie schon erwähnt, eine radikale Umverteilung von Vermögen von oben nach unten. Wir haben genügend finanzielle Ressourcen in unserem Land. Zehn Prozent der Bundesbürger verfügen über 52 Prozent des Vermögens in Deutschland. Damit können wir Armut nachhaltig bekämpfen. Und wir müssen es ohne Konkurrenz bezüglich der Lebenssituation von geflüchteten Menschen tun. Wir müssen es im Bezug auf die Lebenssituation wohnungsloser Menschen, im Bezug auf die privatversicherten Älteren, die die Beiträge nicht mehr zahlen können, im Bezug auf die alleinerziehenden Mütter, und auf viele weitere Menschen am Rande unserer Gesellschaft tun. Das ist alles möglich.
Einige Tafeln schlagen bereits Alarm, fühlen sich überfordert, sprechen von einer Obergrenze an Lebensmitteln. Die "Flüchtlingskrise" ist hier bereits angekommen.
Ich habe bezüglich dieser Realität schon etwas Angst, und befürchte, dass dies von rechtspopulistisch-rassistischen Gruppierungen, wie der AfD, benutzt wird, um zu hetzen und Ängste zu schüren. Diese Diskussion spiegelt im Prinzip nur wider, dass man die Armut lange Zeit einfach nicht beachtet hat. Jetzt werden die politisch Verantwortlichen dazu gezwungen sich mit menschenrechtskonformen Versorgungsstrukturen zu beschäftigen und diese umzusetzen. Menschen am Rande unserer Gesellschaft fühlen sich häufig nochmals benachteiligt, da man sie schon zuvor nicht beachtet und geachtet hat. Jetzt geht es aber darum, das Bewusstsein insgesamt zu schärfen. Ich glaube fest daran, dass wir das Potential und die Möglichkeit besitzen, umfassend etwas im Sinne sozialer Gerechtigkeit zu verändern.
Das heißt die sogenannte Flüchtlingskrise macht Armut in der Gesellschaft insgesamt sichtbarer?
Genau dies wäre mein Wunsch und meine Hoffnung: dass das Thema Armutsbekämpfung, Inklusion, gerechte Verteilung von Vermögen und Einkommen wieder mehr auf der Agenda steht. Und dass wir alle, besonders natürlich die politischen Entscheidungsträger, sich differenziert Gedanken machen, wie wir Armut mit all seinen verschiedenen Facetten bekämpfen müssen.
Das klingt nach Zynismus.
Ob dies Zynismus ist, weiß ich nicht. Vielleicht ist es eine Krücke, die ich brauche um weiter aktiv agieren zu können.
Das klingt nach einer gewissen Zufriedenheit.
Ich bin überhaupt nicht zufrieden. Ich werde zunehmend wütend und ich spüre auch in mir eine gewisse Form der Radikalisierung. Wir müssen noch mehr demonstrieren, noch mehr deutlich machen, wie sich die Lebenssituation für viele Menschen in unserer Gesellschaft darstellt. Wir müssen uns solidarisieren mit von Armut und Ausgrenzung betroffenen Menschen. Und wir müssen gewaltfrei – aber trotzdem radikaler – genau dieses Thema auf die Agenda unserer Gesellschaft und der politisch Verantwortlichen bringen.
Für Ihre Arbeit haben sie schon ein Bundesverdienstkreuz erhalten.
Dafür kann ich mir aber nichts kaufen und vor allen Dingen können sich die Menschen dafür nichts kaufen. Das brauche ich nicht. Ich wirke so brav, bin es aber gar nicht. Unser Verein "Armut und Gesundheit in Deutschland" ist aus Protest schon aus Arbeitsgruppen von Landesministerien ausgetreten. Ich persönlich habe auch schon einmal eine Auszeichnung abgelehnt. Das Problem für mich ist, Widerstand zu leisten ohne sich zu verweigern. Stéphane Hessel, dieser tolle Franzose, der in der Résistance gegen das Nazi-Deutschland kämpfte, der im KZ Buchenwald inhaftiert war und bei der Deklaration der Menschenrechte mitarbeitete, hat in seinem Aufsatz "Empört euch", der sich u.a. gegen den europäischen Finanzkapitalismus wendet, gesagt: "Leistet Widerstand und schafft Neues. Schafft Neues und leistet Widerstand." Die Aussage dieses Satzes ist für mich Programm. Ich kann mich sehr gut mit diesem Statement identifizieren. Ich will Widerstand leisten gegen diese Entwicklung, aber ich will eben nicht nur kritisieren. Ich will auch aktiv werden mit all den Mitstreitern und Menschen, die sich gerade auch in unseren Projekten beteiligen. Es sind immer mehr Kolleginnen und Kollegen, Sozialarbeiterinnen, Ärzte, Hebammen, die sich solidarisieren. Das ist wichtig, notwendig und eine schöne Erfahrung für mich.
Wenn alle im Gesundheitssystem so effizient arbeiten würden wie "Armut und Gesundheit", dann hätten wir geringere Krankenkassenbeiträge?
Das ist richtig, aber da gibt es noch ganz andere Kritikpunkte an unserem Gesundheitsversorgungssystem. Wir brauchen die Medikamentenpositivliste. Da kann man, und dies hat selbst Seehofer erkannt, 2,5 Milliarden Euro pro Jahr sparen. Bisher hat die Pharmaindustrie diese notwendige Gesundheitsreform verhindert. Wir haben die höchste Herzkatheter-Rate weltweit. Der Herzkatheter ist eine absolut wichtige und notwendige Diagnosemöglichkeit, aber eben nicht in diesem Umfang. Das zeigen Untersuchungen in Frankreich und den USA. Wir haben die höchste Rate von Hysterektomien, der operativen Entfernung der Gebärmutter. Da Operationen besser bezahlt werden als konservative Therapieverfahren. Unser Gesundheitssystem muss die Prävention, die Salutogenese im Zentrum platzieren, und nicht die kurative Medizin. Dies sind alles Dinge, die wir wirklich kritisch diskutieren müssten. Fazit: In unserem Gesundheitssystem wird viel Geld verschleudert.
Das heißt, es gibt noch genug zu tun für Sie?
Für uns alle, (lächelt) nicht nur für mich. Über Reichtum zu reden, ist ein gesellschaftliches Tabuthema.
Wenn Sie die Chance hätten, sagen wir mal, der Kanzlerin bezogen auf Armut, Gesundheit und Reichtum einen großen Plan zu vermitteln. Was wäre die Leitidee?
Ich würde ihr empfehlen, in die Lebenswelt der von Armut betroffenen Menschen einzutauchen. Mit den betroffenen Menschen zu sprechen. Wirklich zu erfahren, was es persönlich und konkret bedeutet, in Deutschland einkommensarm zu sein. Ich glaube, die Politik ist so weit entfernt von der Lebensrealität sozial benachteiligter Menschen, dass sie gar um die Tragik dieser Menschen weiß. Denn es geht um Menschen. Es geht doch nicht um die Reichen, um die Vermehrung und Absicherung von Reichtum. Und ich würde noch etwas ganz Wichtiges fordern. Bitte redet über dieses Thema wertschätzend und würdevoll. Ich höre immer wieder wie von sozial Schwachen, von Illegalen, von Wirtschaftsflüchtlingen gesprochen wird. An der Sprache werdet ihr sie erkennen. Das Phänomen Armut wird über die Sprache, die Formulierungen individualisiert und wieder werden die strukturellen Gründe verdrängt. Da habe ich immer das Gefühl, die Leute wissen gar nicht, wovon sie reden. Oder vielleicht doch, und diese Sprache ist eben ganz bewusst gewollt.
Leif trifft ...: Sendung am 16.3.2016 um 20.15 Uhr "Das arme Deutschland - kein Wohlstand für Alle" von Thomas Leif und Harold Woetzel
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.