Wird die Ökonomie schon bald zu einer "Bioökonomie"? Diese Einschätzung vertritt jedenfalls die Organisation für ökonomische Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die im letzten Jahr einen programmatischen Text mit dem Titel The Bioeconomy to 2030. Designing a Policy Agenda veröffentlichte. Fast gleichzeitig verabschiedete auch die EU-Kommission einen Aktionsplan, der eine ähnliche Zielsetzung aufweist. Der Akzent liegt hier auf den Potenzialen einer "wissensbasierten Bioökonomie", die die europäische Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der internationalen Konkurrenz stärken und zugleich Umweltschutzinteressen besser realisieren soll. Der EU-Kommissar für Wissenschaft und Forschung, Janez Potocnik, erläuterte das Projekt folgendermaßen: "Als Bürger des Planeten Erde ist es nicht überraschend, dass wir uns Mutter Erde - dem Leben selbst - zuwenden, um unsere Wirtschaftsordnungen in einer Weise zu entwickeln, die nicht nur unsere Lebensqualität erhöht, sondern diese auch zukünftigen Generationen erhält."
Beide Aktionsprogramme sollen neue Produkte und Dienstleistungen auf der Basis biowissenschaftlicher Innovationen fördern. Im Mittelpunkt steht daher eher die Schaffung und Regulierung von Märkten als eine grundlegende Neuausrichtung der Ökonomie, die der Titel "Bioökonomie" suggeriert. In dieser weitergehenden Bedeutung taucht der Begriff in einem ebenfalls 2006 erschienenen Buch auf, das im Unterschied zu den politischen Programmtexten von einer einschneidenden und strukturellen Veränderung ökonomischer Verhältnisse ausgeht. In Biocapital. The Constitution of Postgenomic Life untersucht der US-amerikanische Sozialanthropologe Kaushik Sunder Rajan das Verhältnis von biowissenschaftlichen Innovationen und Transformationen des Kapitalismus.
Ausgehend von der Einsicht der Wissenschafts- und Technikforschung, dass "Wissenschaft" und "Gesellschaft" nicht zwei einander äußerliche und getrennte Systeme oder Sphären darstellen, sondern sie sich wechselseitig konstituieren, analysiert das Buch die Ko-Produktion biowissenschaftlichen Wissens und politisch-ökonomischer Regimes. Seine empirische These ist, dass das Auftauchen der Biowissenschaften eine neue Gestalt und eine neue Phase des Kapitalismus markiert. Die Entstehung einer "Biotechnologie" und die Akzeptanz medizinisch-genetischer Krankheitsdeutungen seien nur mit Blick auf globale Produktions- und Konsumtionsbeziehungen im Rahmen einer kapitalistischen Ökonomie zu begreifen.
In theoretischer Hinsicht will Sunder Rajan Foucaults Konzept der Biopolitik mit der von Marx ausgehenden Kritik der politischen Ökonomie im Rahmen einer anthropologischen Analyse verbinden. Die Konstitution des "Biokapitals" soll wiederum aus einer doppelten Perspektive verfolgt werden. Den Autor interessiert zum einen, welche Formen von Entfremdung, Ausbeutung und Enteignung notwendig sind, um eine "Kultur biotechnologischer Innovation" zu ermöglichen; zum anderen fragt er, wie individuelle und kollektive Subjekte und Bürgerrechte durch diese Technologien zugleich geformt und beschränkt werden.
Biocapital beruht aus einer Vielzahl von Feldstudien, Beobachtungen und Interviews mit Wissenschaftlern, Medizinern, Unternehmern und Regierungsbeamten in den USA und in Indien und verbindet detaillierte ethnografische Forschungsarbeit mit übergreifender theoretischer Reflexion. Obwohl die Thematik des Buches insgesamt sehr breit angelegt ist, liegt der empirische Fokus der Untersuchung auf der Entwicklung von Pharmazeutika, insbesondere auf der Frage, wie sich deren Produktion durch die Genomforschung verändert hat. Ein wichtiger Teil der gegenwärtigen Pharmaforschung zielt auf eine "personalisierte Medizin", das heißt, auf die Entwicklung von Medikamenten, die auf die genetischen Merkmale des Patienten oder der Patientin abgestimmt sind (Pharmakogenomik).
Sunder Rajan zeigt, wie in diesem Feld wissenschaftliche Wissensproduktion nicht mehr von kapitalistischer Wertproduktion zu trennen ist. Zwei Risikodiskurse durchdringen einander in diesem Segment der Pharmaforschung: das medizinische Risiko von (zukünftigen) Patienten, an einer schweren Krankheit zu leiden, und das finanzielle Risiko der Pharma-Unternehmen, deren hohe Investitionen in therapeutische Entwicklungsprozesse sich schließlich in einer Ware realisieren müssen. Rajan beschreibt diese Branche als eine besondere Form des Kapitalismus: ein spekulativer Kapitalismus, der weniger auf der Produktion von konkreten Waren als auf Visionen und Erwartungen beruht und in dem die Hoffnung von Kranken auf neue Medikamente und der Hype von Risikokapitalisten um zukünftige Profite eine "organische" Synthese eingehen.
Wie Sunder Rajan am Beispiel eines Forschungskrankenhauses in Mumbai zeigt, reproduziert und erneuert dieser "Biokapitalismus" traditionelle Formen von Ausbeutung und Ungleichheit. In diesem Hospital führt ein Privatunternehmen pharmakogenomische Studien für westliche Pharmaunternehmen durch. Indien ist aufgrund der geringen Kosten und der genetischen Vielfalt der Bevölkerung ein besonders attraktiver Ort für solche Untersuchungen. Die Forschungseinrichtung befindet sich in einem Stadtteil Mumbais, in dem vornehmlich Menschen leben, die durch den Niedergang der lokalen Textilindustrie arbeitslos wurden und verarmten. Die meisten von ihnen haben kaum eine andere Wahl, als sich gegen ein geringes Entgelt als "Freiwillige" an klinischen Studien zu beteiligen und ihre Körper als Experimentierfelder biowissenschaftlicher Untersuchungen zur Verfügung zu stellen. Allerdings dürften sie kaum von den neuen Therapien profitieren, die möglicherweise aus dieser Forschung resultieren. Sunder Rajan zeigt überzeugend, wie globale Forschungsarbeiten und klinische Studien auf lokale Verhältnisse rekurrieren und im "Biokapitalismus" die Lebensverbesserung oder -verlängerung der einen an die systematische Ausbeutung der Körper und die gesundheitliche Schädigung anderer gekoppelt ist. Somit weist das "neue Gesicht des Kapitalismus", das der Autor beschreibt, durchaus vertraute Züge auf.
Kaushik Sunder Rajan: Biocapital. The Constitution of Postgenomic Life. Durham und London: Duke University Press, Durham 2006, 343 S., 24 EUR
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