Leer, ganz leer. Ein paar Krümel kullerten am Schachtelgrund, von einem Beutel, einem letzten, keine Spur. Der morgendliche Tee ist alle, sechs Uhr dreißig und zu früh für einen Blitzkrieg in der Kaufhalle gegen die Bauarbeiter vom Block. Meine Tochter schiebt die Unterlippe vor und lässt die halbe Müslipackung in die Schüssel rauschen. Der Morgen, wenn nicht der Tag, ist gelaufen. So hat es angefangen, vor drei Monaten, aus der Suche nach dem Tee ist ein Familiendramolett mit einigen Einsichten in die Planwirtschaft der Marktwirtschaft erstanden. Dass wir was verstanden hätten, kann ich nicht beschwören, das morgendliche Ritual, bevor das Kind zur Schule geht, zumindest ist gesichert - und nichts ist, wie man sagt, geblieben wie es war.
Ich schüttelte in einer verlogenen Geste der Ungläubigkeit die leere Packung vor dem Kind und dachte an Zeiten, in denen es als unfein galt, die Probleme, die der Alltag mit sich bringt, die Widrig- und die Widerwärtigkeiten, auszubreiten. Geplapper vom Herd und aus der Stube, simple Freuden, gewöhnlicher Ärger, Kinderkram und Küchenfrust, der schlechten Ton erzeugt, Nachrichten vom Spießerkosmos. Nichtigkeiten auf dem langen Marsch zum Ziel der Geschichte um die Ecke da vorn. Es hatte mich ja nie gestört, dass es nur einen einzigen Salat im Osten gab (keinen Eisberg beispielsweise, in den die Westbekanntschaft über Telefon knirschend biss mit Häme), nur milden Senf und weniger scharfen, Säfte nach Saison, wenn überhaupt, und auch Saison war nicht immer. Vom Problem der Südfrucht zu schweigen, es war nicht meins. Ich war noch kein Vierteljahrhundert auf dem Planeten, als die Mauer vor mir auseinander fiel. Ich steckte tief im Klassenkampf, der in meinem Fall in den Theaterkantinen und Kiezkneipen zwischen Mitte und Prenzlauer Berg ausgetragen wurde. Ich konnte nicht wissen, dass ich innerhalb der nächsten 16 Monate Frau, Familie, die "Heimat" benannte Republik verlieren würde. Verlieren, wie man so sagt. Egal, zwischen dem jetzt fehlenden Getränk um sechs Uhr fünfunddreißig und der Zeit, als man lediglich die Wahl zwischen Schwarz-, Kamillen-, Blasen-Nieren- oder Pfefferminztee derselben Firma hatte, lagen mehr als Teeplantagen.
Meine Tochter löffelte mit kaltem Vorwurf ihr mit kalter Milch vermanschtes Mahl und schwieg still. Ich sah auf die würfelförmige Teeschachtel, aus der es belebend nach Melisse roch, und wie ich lesen konnte, noch nach Zitronengras und Zitronenverbena, was immer das war. Auf der Stirnseite war eine Glastasse abgebildet, genauso eine wie die, von denen wir noch drei angeschlagene besitzen, und daneben lagen aus irgendeinem Grund zwei Orangenschalen herum und eine Blüte mir unbekannter Art, eventuell Hibiskus. Der Trick, meine Tochter, die in der 5. Klasse Bio lernt, nach der Herkunft der Pflanze zu befragen, um die Stimmung zu lockern, misslang. Keine Antwort, nur ein mürrisch aufstöhnendes Schmatzen. Ich hielt die Schachtel in der Hand, "Bioprodukt" stand dort in einem wichtig nachgemachten Stempel und "Kontrolliert durch DE-001-Öko-Kontrollstelle mit BCS-Ökogarantie", was auf Überblick deuten sollte, aber, war ich sicher, nichts als Produktmanagement war, wie sie es nennen. Wichtiger aber war, dass unten klein gedruckt "12 Teebeutel" stand, was mir bisher nie aufgefallen war. Ich hätte 20 geschätzt. Querüber stand Kaufkraft heischend "Kräuterteemischung mit belebender Wirkung!" gedruckt. Und die fehlte jetzt, wo es schon zehn vor sieben war.
Ich drehte die Schachtel wie einen magischen Würfel und fand auf der Rückseite, unter dem scheinheiligen Hinweis auf "strengste Qualitätskriterien, die gemäß EG-Bioverordnung allerhöchsten Biogenuss" garantierten, die Logos von vier bundesweit vertretenen Handelsketten, die unser morgendliches Wiederbelebungsgetränk zu führen versprachen. Biogenuss, stand da, vom allerhöchsten. Und da stand "EG". Das hatte ich noch in Staatsbürgerkunde bei Rolf Eggert gelernt, der aussah wie ein ausgebeultes Kupferfass mit Lutz-Rathenow-Bart und stets im FDJ-Hemd unterrichtete: dass EG auf jeden Fall der Feind war und nichts als der Feind. Und zwar der Feind von RGW, und RGW, das waren wir, ich, meine Klassenkameraden, meine Eltern daheim und die Kinder der Welt, von der "Georgi-Dimitroff-Oberschule" bis Kamtschatka. EG, das war schlimm, das war mindestens so schlimm wie BRD und fast so schlimm wie USA. Deswegen nahm Rolf Eggert im übernächsten Atemzug immer UdSSR bzw. DDR in den Mund, das war gut, und dann wurde einem gleich besser.
Besser wurde mir jetzt nicht, die Zeittöne im Deutschlandradio fiepten, die Tochter ließ den Löffel fallen und ging Zähne putzen. Ich knüllte resigniert die Schachtel zusammen und warf sie neben die Kochmaschine, wo ich sie gleich verbrennen würde, als ich die rotgedruckten drei kleinen "w" wahrnahm. Die Zyniker. Jeder Kräutertee hat seine Homepage, und was hab ich davon. Was auf meinem Schreibtisch steht, rangiert noch unter Schreibmaschine, zwar mit Strom, doch von Vernetzung nicht die Spur. www. nützte mir nichts, aber aus demselben altmodischen Logismus wie "EG" geschöpft, stand darunter "Service-Tel." und eine lange, sehr lange Nummer, irgendwo in Süddeutschland, wo ich bestimmt noch nie war.
Ich rief sofort an. Fünf nach sieben und der Apparat war schon besetzt, das imponierte mir. Und weil ich dachte, dass ich weiter wirkend meine jetzt schon ihre Stiefel schnürenden Tochter beeindrucken könnte, legte ich los. Wieso, weshalb, warum usf. Die Seelsorgerin der Unternehmensgruppe Tengelmann ließ mir zwei Halbsätze, um zur Sache zu kommen. Beim dritten merkte ich, dass sie vom Beschwerdesprudel ungerührt ihre Formeln durch den Hörer leierte. Es piepte, und das Band auf der anderen Seite war abgelaufen. Das große Kind schmiss die Tür zu.
Ich lief in die nächste Kaufhalle. Die, in der dasselbe Mädchen im Alter von fünf Jahren mit dem Kinderkorb und der Fahnenstange dran "Ich wähle Kaiser!" rufend durch die Gänge fuhr. Es hatte nichts genützt. Ich stand vor dem Teeregal. Übervoll, wie üblich, aber die von mir gesuchte Spezialität hatte ihren Platz irgendwo in der Gesundheitsabteilung, und die zog jedesmal um, wurde jedesmal größer, was wohl der Hausse im Geschäft zuzuschreiben war. Der Bio-Boom hatte Marken beseelt, die nicht mal ein Fünf-Minuten-Terrinen-Junkie in Verdacht eines Reformprodukts gehabt hätte. Heute morgen war das "Gute aus Biologischer Landwirtschaft" wieder näher in den Kassenbereich gerückt. Der "Morgengruß" war nicht dabei. Azubi Schölle, aus deren unverwechselbarem Angesicht die leuchtenden Augen des Emporkömmlings zwischen Grufti-Lidstrich, Aknehügeln und Piercingnarben funkelten, versprach mir gleich doppelt, sich um die Bereitstellung der Ware zu kümmern.
Als ich nachmittags die Service-Dame der Unternehmensgruppe Tengelmann am Ohr hatte, ließ die nur trocken wissen, dass mit dem Morgengruß kein Problem zu buchen wäre, ich solle nur immer beim Verkaufsstellenleiter (Kaiser's) bestellen, jede Bestellung wäre innerhalb von zwölf Stunden deutschlandweit lieferbar. Deutschlandweit, wiederholte sie. Als ich 24 Stunden später auf Azubi Schölle traf, ließ ich mich nicht länger hinhalten und verlangte ihren Chef. Ein silbergrauer Schnurrbartmensch erläuterte im unterdrückten Hessisch, dass der "Morgengruß" nicht lieferbar sei, weil er ... ausverkauft ist ... fiel ich ihm Zustimmung heischend ins Wort. Keineswegs, es handle sich schlicht um Lieferprobleme. Die Witterung, fügte er achselzuckend hinzu. Ich dachte nichts dabei und lief im Sonnenschein nachhaus. Und das war Anfang Januar. Wahrscheinlich hätte mich eine computerumstellungsbedingte Ausrede eher stutzig gemacht als die aufs Wetter bezogene. Wer kann schon für Wetter, und was wusste ich, was für ein Wetter im Morgengruß-Anbaugebiet war. Also überbrückten wir die nächsten Tage mit Brennesseltee in Erwartung einer neuen Lieferung. Denn an einen Engpass im Ausmaß der löchrigen DDR-Warenkette wollte ich nicht, noch nicht glauben.
Über die folgenden ereignislosen Wochen wurde der Teemangel zum Tagesthema zwischen meiner Tochter, meiner Freundin und mir. Unser Sohn war noch mit Muttermilch und Kümmeltee und seinem Schluckauf zufrieden. Während wir harmlos über den volkstümlichen Produktbezug und die friedfertige Ostwerbung für z.B. Birkenhaarwasser auf dem Haupthaar von Angelica Domröse witzelten, braute sich irgendwo in der Welt statt Morgengetränk ein wirtschaftliches Unwetter von den Ausmaßen eines Kakaokriegs zusammen. Malten wir uns jedenfalls aus. Meine Freundin meinte, wenn die Libelle in Australien mit dem Flügel schlägt, kann das in Amerika einen Orkan auslösen. Meine Tochter reduzierte es auf die alltägliche und unserer Situation angemessenere Frage, ob ein Säugling, der im Prenzlauer Berg furzt, in Tirol eine Lawine auslösen könnte. Kaum, dachte ich, aber wer kennt schon die Zusammenhänge. Vielleicht war ja die Zitronenverbenafarm in Mocambique fortgeschwemmt oder einer der ungezählten Kooperationspartner der Teefirma verunglückt? Ein Zulieferbetrieb pleite, die Papierfabrik für die Schachteln, oder die deutsche Druck- und Papiergewerkschaft im Streik? Die Farm gar fusioniert mit einem Mobilfunkunternehmen auf den Philippinen? Wir wussten es nicht, wir wussten gar nichts. Seit die Welt in Teile und aus ihrer kompakten Begrifflichkeit gefallen war, hatte ich den Überblick verloren. Es fiel mir wie Sand, wie Buddelkastensand aus den Augen. Wo gab es noch Produktpaletten und -beziehungen wie in der Planwirtschaft, wo solche Einheitlichkeit wie im Schwermaschinenbau "Ernst Thälmann", der neben einfamilienhausgroßen Karusselldrehbänken Stricknadeln, Fahrradspeichen und Schneebesen herstellte?
Nun, die in die Planwirtschaft projizierte Verbraucher-Produkt-Beziehung schoss auch oft übers Ziel hinaus und konnte auch zu wilden Blüten führen. So im Oktober 1979 im Ostberliner Vorort Adlershof. Ich trottete aus der Schule ziellos über die Dörpfeldstraße und erkannte schon von weitem den Menschenauflauf. Genauer gesagt, ein Hausfrauenauflauf. Sie standen Schlange vor dem Wäschegeschäft und kauften eine nach der anderen stapelweise Bettwäsche komplett. Sie kauften und liefen lachend aus dem Laden. Die ersten aber hatten schon zuhause ausgepackt und kamen stracks zurück. Sie drängten sich durch und warfen die Wäsche auf den Ladentisch zurück. Einige, die nicht nach drinnen kamen, schwenkten auf der Straße ihren Einkauf. Es dauerte, bis ich verstanden hatte. Schließlich, die Atmosphäre war gespannt. Vorabend vor dem Feiertag, am 7. Oktober wurde "DDR-30" gefeiert, und ich gehörte zum FDJ-Aufgebot, weil ich auch ein blaues Hemd und einen blauen Ausweis hatte. Ich hielt den Aufruhr zunächst für eine inszenierte Demo treuer Klassenkämpferinnen. Es war der Aufstand. Sie standen auf dem Bürgersteig wie eine Parodie auf den Oktober 1949. Zwar hatten sie Bettwäsche bekommen, zwar aus gutem Stoff, aber in Schwarz-Rot-Gold verarbeitet und nicht nur das: auch noch mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz bestickt. Patriotenbettzeug eben. Kein Witz, sie sollten sich auf Fahnentücher statt auf Laken betten. Von heute aus betrachtet, Kult, damals nackte Volksverarschung, und 1989 wäre das der Schlusspunkt gewesen. Nationalflaggenbettwäsche am 5. Oktober, das hätte in Leipzig einige Montagsdemonstrationen erspart. Wer von der "Spaßgesellschaft" spricht, kann von der DDR nicht schweigen.
Inzwischen hatten meine Tochter und ich uns an die Brennesselmischung gewöhnt. Brennessel wurde außerdem im Unterricht besprochen und zerpflückt, so dass wir bald unseren speziellen Tee, vermischt mit geraspelter Zitronenschale kochten. Ein Trost, der, wie sich zeigen sollte, nur vorübergehend war. Nach drei Tagen stellte sich ein gemeiner Ausschlag am Hals und an den Handgelenken ein, der uns schmerzhaft an den immer noch ausbleibenden "Morgengruß" denken und auf "Bad Heilbrunner Gletschertee" umsteigen ließ. Ein schwachbrüstiger Ersatz, der sich hinziehen sollte.
Wochen voller Reflexion und Sentiment, voll durstiger Hoffnung waren vergangen, als die Unternehmensgruppe Tengelmann erneut anrief. Der Tee, er wäre lieferbar, beschied die schon bekannte Stimme knapp, sogar in Oberammergau. Ein Irrtum, wie sich zeigen sollte. Nach einer weiteren vergeblich aufgegebenen Bestellung beim Filialleiter und 24 Stunden Wartezeit, rief ich zurück und hatte mein Fett: sie könne mir kaum glauben, dass ausgerechnet in der Bundeshauptstadt kein "Morgengruß" geliefert werde. Dennoch werde sie Recherchen anstellen.
Die Recherchen vergingen, der Winter ging auch. Ich begann von blühenden Kräuterteeplantagen zu träumen. Die Sommerzeit, April und Mai waren gekommen, aber immer noch kein Tee. Draußen schien die Sonne, drinnen blieb es lau. Die Laune schlappte, ich hatte den Säugling aufzumuntern und ein Morgenmagazin im Fernseher zu laufen, in der Hoffnung, als Thema des Tages meinem Morgengruß zu begegnen. Als ich schon überlegte, das Problem per Anruf in die Sendung zu bringen, klingelte (acht Uhr) die Unternehmensgruppe Tengelmann. Jede Strenge aus der Servicestimme war verflogen, kein Missmut zu entnehmen, nur pure Enttäuschung, als ich bezüglich der Recherchen das Wörtchen "Mangel" vernahm. Und mit einem Mal war ich mit sämtlichem Triumphgehabe westlichen Konsumverhaltens, mit aller klein- und großkriminellen Beschaffungskriminalität, dem erniedrigenden Osttarif der ÖTV, der Unternehmensgruppe Tengelmann, mit Kaiser's war ich versöhnt und mit Azubi Schölle für diesen Mangel-Moment ein Bruder im Geist. Ein Verwandter, dem es am Nötigsten mangelt. Ich habe die Schachteln mit der Glastasse und den Apfelsinenschalen nicht wieder gesehen, in keinem Teeregal Berlins oder sonst einer Stadt. Und natürlich wird das Leben mit dem Tee, wenn er jemals wieder da sein wird, nicht das gleiche Leben sein.
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