Mark Lammert malt Bücher. Im Allzeitraum der elektronischen Medien rein anachronistische Idee, reaktionäres Tun. Keines dieser Bücher "erscheint" im uns bislang gewohnten Gebrauch dieses Mediums, sie bleiben sämtlich im Raum ihres Erzeugers: Jeweils gibt es nur ein einzelnes, nicht wiederaufgelegtes, nicht kopiertes, nicht vervielfältigtes Exemplar, das "bis zuletzt" die Handschrift des sich fortwährend selbst zerstörenden Autors trägt. Wir können so ein Buch, das mehr Schreib- als Lesebuch und dem Wortsinn seiner Herkunft nach noch eines ist, nur ausleihen oder ausgestellt betrachten. Von der althochdeutschen "Buch" bedeutenden Pluralform buoh, der gotischen, "Schrift" bedeutenden Pluralform des "Buchstaben" boka, die sich vom altisländischen, "Rune" = bÂkr herleitet, ist es erst in der Bedeutung der "geschriebenen Pergamente" zum eigentlichen Singular gelangt. Laut Brockhaus soll das Buch seiner Funktion nach "die graphische Materialisierung geistig-immaterieller Inhalte zum Zweck ihrer Erhaltung" sein. Die Bücher Mark Lammerts vermitteln neben optischer auch weiter greifbare Erfahrung. Sie sind vielmal durch die Hände des Malers gegangene, in festes Leinen gekleidete Bände, deren Inhalt ihr Autor als Text-Gebilde komponiert. Ein durchgeistigter Vorgang, dessen größtes Pensum Körperarbeit - Schreibarbeit bedeutet. Die Geste des Schreibens wird, wie es Vilém Flusser in seinem Gesten-Kanon festgelegt hat, zur Geste der Arbeit, die eine archaische ist.
Vielleicht ist das Buch, dessen Zukunft oft genug als Marginale des Kulturbetriebs annonciert wurde und dessen markantes Merkmal weiten Kreisen der Bevölkerung der Staub ist, die letzte sinnlich handhabbare Waffe im Kampf gegen den Zeitgeist, der gegenwärtig die virtuelle Erscheinungsform vorzieht. Vielleicht ist es vom Zeitgeist derart ausgehöhlt, dass sein Bestand in der Gegenwart nur eine Platzfrage ist, die Lösung den Computern in den Bibliotheken und IKEA vorbehalten. Lammerts Problem ist das vorläufig nicht. Ein halbes Hundert seiner Konvolute ist entstanden und in Arbeit. Bücher zur Farbe, Bücher zur Gestalt. Bücher zur Tages-, zur Welt- und zur Geschlechterpolitik. Bücher, mit dem Bild- und Wortmüll der Magazine vom Kiosk gefüllt. Bücher, die das breitgefächerte Repertoire des Malers und Graphikers begleiten, der sich die Kommentarmaschine seines Âuvres schafft. Leonardos spiegelschriftliche Kodizes schimmern durch die Seiten dieser Bücher, auf denen die Analogie der Welten versucht und wiederholt verworfen wird, wie der Maler es will. Rembrandts irdener Palette, Goyas Schattensinfonie der "Caprichos" und der "Tauromaquia", Bacons Schmerzensmännern, Giacomettis und Germaine Richiers Raum-Figurationen, Dürers und Novalis' Denkaufgaben, den Exzerpten Beuys' und Klees, Gertrude Steins, Jean Genets, Michel Leiris' und Nathalie Sarrautes Essay-Dichtung sind Seiten seiner Bücher zugeschrieben.
Im Branchencode der Galeristen als "Kunstbücher" gestempelt, sind die Bände zuerst das Material einer Selbstverständigung und der Arbeit am legasthenischen Erbgut. Lammert hat als Student an der Ostberliner Kunsthochschule damit begonnen, im Ansatz dem postsowjetischem Konzeptualismus verwandt. Das erste Buch datiert auf 1983: ein Dokument der Spaßgesellschaft-Ost, das mit der Wut der Farbe und der Strenge der Schrift Realien des Alltags übermalt und kalt beschreibt. Was als Umgehung unterrichteter Dogmen begann, wird als Reflexion und täglich absolviertes Pensum fortgeführt. Der Kunst- und Kulturkritiker Michael Freitag hat als früher Kenner und Erkenner der Bücher, um die es hier geht, den "bewußten Rückzug von Anfang an" als "existentiellen Versuch, sich gegen die Schnelläufigkeit einer bilderdurchfluteten Zeit zu stemmen" benannt. Was in der DDR der späten Jahre motorischen Impuls hatte, sucht heut bewusst Verlangsamung. Nach den Mühen der Ebene die Mühen des ganzen Geländes. Auf lange Sicht lässt sich Lammerts solitäre Buchproduktion als Totenpost zwischen Vergangenheit und Zukunft verstehen, damit etwas bleibt.
Wer in die Buch-Installationen dieses Malers gerät, bekommt eine Ahnung davon, was es heißt, in Platons Höhle zu sitzen, und die Schatten zu betrachten, die von den Reliquien der Prozession draußen an die Wand geworfen werden. Diese Reliquien sind die Zeichen unserer Schrift. Im Schein der "untergehenden Sonne des Alphabets" (Flusser) blicken wir auf die Felswand, voll Ungewissheit vor dem Neuen, das sich im Schattenriss dem Auge bietet. Dieses Neue ist vielleicht jenseits der Schrift, aber es wird ohne sie für uns nicht erreichbar sein, nicht, solang die Buchstaben die Bilder der gesprochenen Worte sind. Schreiben, hat Roland Barthes in seiner Lust am Text erfahren, ist das Kamasutra der Sprache. Daran wird man sich bei der Lektüre dieser Bücher, die als Alben angelegt sind, erinnern. Sie sind Arbeitsjournale, deren Wert proportional mit dem Verfallsdatum der Materialien steigt. Sie sind Zeitgefäße, deren Inhalt kontinuierlich zerstört wird gegen die konservatorischen Regeln der Bibliosophie und des Brockhaus. Die Zerstörung ist zugleich Erhalt. Der Autor beschreibt und -malt die Seiten seiner Bücher, bis das Material die Grenze setzt. Von hier an setzt der Leser die Autorschaft fort. Wie überhaupt der Motor dieses Malers die Lektüre ist, denn die Voraussetzung seines Schreibens ist das Lesen. Lammert schreibt Texte nicht "selbst", entwirft nicht, er kopiert - darin ein Nachkomme von Flauberts Kopisten Bouvard und Pécuchet. Wie diese ist der Maler in der Registratur eines kollektiven Gedächtnisses tätig. Das Prinzip lässt sich mit einem Wort benennen: Palimpsest. Die Erinnerung im Material. Und Erinnern heißt hier Tätigkeit.
Die Geste der Erinnerung wird zur Geste des Widerstands gegen Kunstformen, die im Zeitalter der totalen Reproduzierbarkeit keine Erinnerung an die Geschichte von Formen benötigen, und keine haben werden auf dem spurenlosen Weg durchs Datennetz. Im Universum der Readymades und Klone aller Nationen sind diese Bücher terrestrische Boten, die an der Fehlbarkeit des Menschen und seiner Antastbarkeit nicht zweifeln und an seine Würde glauben. Das kontinuierliche Registrieren der Demütigungen des Menschen ist dem Sehzwang des Malers geschuldet. In dieser Hinsicht sind seine Bücher Skizzenbücher. In der Kontinuität ihres Entstehens eine Chronik aus dem Ursprung der antiken Diptychen, die den Tod des Lesers wie des Autors mitschreibt. Der Leser erinnert sich über die Konnotationen seines historischen Bewusstseins. Dass Geschichtsbewusstsein Schriftbewusstsein ist, Geschichte eine Funktion des Schreibens, mithin der Literatur, dass die Schrift auch die Heilige und im Anfang das Wort ist, reflektiert der Maler, der hier schreibt. Wo die Seiten seiner Bücher in der Schrift auf Zeilen ausgerichtet, in Spalten geordnet bedeckt sind, wird die Zeitung zitiert. Erinnert als das Medium, das die Jahrhunderte eine Epoche lang verkoppelt hat, die trotz aller elektromagnetischen Manipulation die "Gutenbergsche" genannt werden kann. Erinnert wird, dass die Zeitung in unserer Zeit vom Informationsmedium zum Gedächtnismedium geworden ist, das festhält, was im Fernsehen bereits geschah und auf festen Platten längst gespeichert ist. Die Zukunft dieses Mediums wird der des Buchs näher kommen als Autoren-Journalisten lieb sein kann.
Walter Benjamin hat die Tätigkeit des Lesenschreibens seiner "Einbahnstraße" als Bewegung eingeschrieben. "Die Kraft der Landstraße ist eine andere, ob einer sie geht oder im Aeroplan darüber hinfliegt. So ist auch die Kraft eines Textes eine andere, ob einer ihn liest oder abschreibt. Wer fliegt, sieht nur, wie sich die Straße durch die Landschaft schiebt ... Nur wer die Straße geht, erfährt von ihrer Herrschaft und wie aus eben jenem Gelände, das für den Flieger nur die aufgerollte Ebene ist, sie Fernen, Belvederes, Lichtungen, Prospekte mit jeder ihrer Wendungen so herauskommandiert, wie der Ruf des Befehlshabers Soldaten aus einer Front. So kommandiert allein der abgeschriebene Text die Seele dessen, der mit ihm beschäftigt ist, während der bloße Leser die neuen Ansichten seines Innern nie kennen lernt, wie der Text, jene Straße durch den immer wieder sich verdichtenden inneren Urwald, sie bahnt: weil der Leser der Bewegung seines Ich im freien Luftbereich der Träumerei gehorcht, der Abschreiber aber sie kommandieren lässt."
Ich erinnere mich an einen Aufenthalt in Venedig im Frühsommer 1994. Die Oleander blühten in den Töpfen, und die Touristenbataillone wälzten sich über die Kanäle. Auf San Polo vor der Kirche stand ein Dunkelhaariger im schwarzen Anzug, der auf zwei Staffeleien seine Bilder ausstellte. Was ich in der Entfernung für den Straßenmaler hielt, ein Algerier vielleicht, ließ im Näherkommen Zweifel zu. Sämtliche Passanten, die sich dem Mann wohl in der gleichen Meinung näherten, lösten, sobald sie einen Blick auf seine Staffeleien geworfen hatten, sich auffallend schnell und konsequent von ihm. Auf die Tafeln waren verblichene Fotografien geklebt. Das Verblichene der Farben hatte Ähnlichkeit mit den Farben der Utopien, die ich aus der Kindheit kannte: das Rot der Arbeiterfahne, das Himmelblau der Pionierhorizonte. In der fremden Stadt lag die Assoziation zu den Titelbildern von Life und Time und Newsweek aus der Hohen Zeit des Kalten Kriegs allerdings näher. Die Fotos zeigten Kräne über einer Neubausiedlung irgendwo in einer Wüstenstadt. Die Last, die der Kran an seinem Ausleger über die Rohbauten schwenkte, stellte sich bei näherem Hinsehen als menschlicher Körper heraus. Am Haken hing ein Mann, die heraushängende Zunge war zu erkennen, der Fleck auf der Hose zwischen den Schenkeln. Auf den Fotografien daneben war es deutlicher, dort zogen Kräne die Last gleich mehrerer Gehenkter nach oben. Ich sah zum Dunkelhaarigen herüber, der teilnahmslos zu mir und dann zu Boden blickte. Auf der zweiten Staffelei waren Fotos mit Kindern zu sehen, arrangiert für einen Katalog der Folter. Eines, fünf vom Alter, vielleicht sieben Jahre, nicht erkennbar welchen Geschlechts, lag in einer grauen Zelle auf dem Rücken, einen Pappkarton über dem Kopf, die Schlitze für die Augen ausgeschnitten. Aus dem Karton führten Drähte abwärts zur Brust durch den geringelten Pullover in den Hosenbund des Kindes, die bloßen Füße in einer Pfütze auf dem Beton. Die Drähte führten aus den Hosenbeinen in einen präparierten Schuhkarton, aus dem ein blank polierter Hebel ragte, auf dem die Hand eines vermutlich männlichen Erwachsenen ruhte. Im Hintergrund war schemenhaft ein Maskierter in Uniform auszumachen. Als ich mich abwandte, stand der Mann neben mir, in unbeholfenem Englisch etwas von Menschenrechten im Iran murmelnd, schwitzend und peinlich berührt, als ob er mit etwas Obszönen handele, hielt mir ein Spendenformular hin, das ich mitnahm, als ich ging, und später weggeworfen habe, fast mit Angst.
Die Begegnung mit den Bildern des Iraners in der Atmosphäre der Lagunenstadt scheint beim Blättern in den Büchern dieses Malers auf. Ich halte es für sein Verdienst, dass seine Bücher an unheimliche Begegnungen erinnern. Zerstören, um zu Erinnern. Und um noch einmal Benjamin zu zitieren, dessen These Lammerts Bilderbücher und die Staffeleien des Iraners ins gleiche Schaufenster stellt: "In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen."
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