Die Stadt als Blindgänger

Levi-Strauss in Kreuzberg Michael Rutschkys urbane Anthroposophie in "Die Stadt als Roman"

Wenn man alle Städteschilderungen, die es gibt, nach dem Geburtsorte der Verfasser in zwei Gruppen teilen wollte, dann würde sich bestimmt herausstellen, dass die von Einheimischen verfassten sehr in der Minderzahl sind. Der oberflächliche Anlass, das Exotische, das Pittoreske wirkt nur auf die Fremde. Als Einheimischer zum Bild einer Stadt zu kommen erfordert, andere, tiefere Motive. Motive dessen, der ins Vergangene statt ins Ferne reist. Immer wieder wird das Stadtbuch des Einheimischen Verwandtschaft mit Memoiren haben; der Schreiber hat nicht umsonst seine Kindheit am Ort verlebt." Soweit zur guten Nachricht. Denn was Walter Benjamin dem Erzähler Franz Hessel in einer Rezension zu dessen Spazieren in Berlin 1929 zugute hält, lässt sich auch Michael Rutschky zugute halten, jedenfalls bedingt. Wo er über sich Auskunft gibt, heißt es: "... kommt aus Westberlin und wuchs in Westdeutschland auf, aber sein Großvater war von 1905 bis 1945 Fotograf in Berlin und hat die Stadt in zahlreichen Ansichten überliefert, die der Enkel seit seiner Kindheit kennt, so dass er sich als Ureinwohner betrachtet."
Der 1943 geborene Rutschky fotografiert auch. Wie man so fotografiert, wenn man gerade nichts anderes vor hat, und er hat 100 seiner Schwarz-Weiß-Bilder (von weit weniger als 100 Orten in der Stadt) 100 kurzen Texten zugeordnet, beziehungsweise 100 Texte 100 Bildern zugeschrieben. Wie man so schreibt, wenn man gerade nichts anderes zu tun hat. Man kann Rutschky wiederum zugute halten, dass er immer so schreibt, gewissermaßen unter dem Einfluss jener Kulturrevolte, die Rutschkys Generation derart geprägt hat. Das ambitioniert Nonkonforme eben, dass Außenminister und Außenseiter noch immer verbindet. Wie genau sich das verbindet, ist eben schwer zu sagen, aber der Autor des Ullstein-Bilderbuches Die Stadt als Roman kann einige Fundstücke der Suche nach zumindest Gliedern dieser Verbindung präsentieren. Angewandte Soziologie, formal der "Splitter"-Gattung des Jahrhundertwende-Wieners Peter Altenberg entfernt verwandt. Statt "Splitter" ließe sich hier "Faser" sagen, denn Rutschkys Blick auf die Stadt ist der Blick des Flaneurs über dem Teppich unter dem Teppich. Nicht eigentlich unter, eher in Augenhöhe Teppichkante auf der Suche nach Fusseln. Bei solcher Betrachtungsweise erscheint natürlich jede Arabeske im faszinierendsten Zwielicht.
Das Teppich-Bild ist nicht unangebracht, immerhin sind gut ein Fünftel der Aufnahmen "Irgendwo drinnen" verortet, vornehmlich Wartenburgstraße 18, Kreuzberg. Rutschky gilt als Pionier berlinischer Menschenerforschung im Zeitraum der Spaltung der Stadt und danach. Verdienste hat er als Herausgeber und Chefredakteur der 1996 eingegangenen Zeitschrift Der Alltag. Schönes Layout damals, schönes Konzept, nicht billig. "›Der Alltag‹ verteidigt den Alltag gegen den Sonntag. Am Sonntag werden die großen Reden geschwungen, über die Sinnkrise oder die nationale Identität oder die Tragödie der europäischen Kultur. Am Sonntag herrscht entweder Manie oder Depression. Im Alltag dagegen fühlen Sie Ihr Leben, und wir erzählen es Ihnen noch einmal, damit es nicht spurlos vergeht." War auf der Rückseite der vorletzten Ausgabe zum Thema "Wie erst jetzt die DDR entsteht" zu lesen.
Man könnte einwenden, dass man gerade sonntags das Leben fühlt, in der Pause zwischen den Verbindlichkeiten; doch wenn man´s genau nimmt, ist der Sonntag auch bloß einmal in der Woche Alltag. Dem Alltag ist der Soziologe immer auf der Spur, der zwischen den Stadtteilen wandernd, wenigstens in Berlin zwangsläufig zum Ethnologen mutiert. Lévi-Strauß in Kreuzberg-Friedrichshain. Und nebenbei in Duisburg, Düsseldorf, London, Krakau, Petzow, was der Stadt als Roman nur wenig mehr als Klammersätze bringt. Das Leben noch einmal erzählen? Damit es nicht spurlos vorübergeht? Die Spuren macht ja nicht die Erzählung, die geht gewöhnlich den Spuren nach, die das Leben (Liebe, Arbeit, Krieg und Sparzwang) hinterlässt. Die Spuren, die der Schreiber macht, sind ideell, sie entfalten maximal das, was Rutschky an anderer Stelle mit dem Begriff "Körperschema" vergleicht: Die zum Ich gehörig erlebte Raumgestaltung des eigenen Körpers. Unter Umständen kann die ganze Stadt dazu werden. Dass das nicht unbedingt ein Glücksfall sein muss, leuchtet jedem ein; als Methode für eine kurzweilige Untersuchung zum Thema "Die Stadt als Roman" mag es originell scheinen, "radikal persönlich"; "überraschend", wie der Klappentext verspricht, ist es weniger.
"An vielen Stellen", schreibt Rutschky, "verklärt und verdichtet sich die Stadt so gründlich, dass sie sofort weit mehr darstellt als sich selbst. Dort entsteht die Stadt als Roman." Eine Behauptung, die nicht jeder teilen wird, ich zum Beispiel würde "Idee" vorziehen, aber nur, wenn Metaphern Pflicht sind. Sind sie natürlich nicht, alles, was Rutschkys "als-Roman" betrifft, ist ad libitum zu betrachten. Kleinkunst bläst sich im Plauderton zu Großkotz auf, Stadtplan und Schnappschuss bilden mit den Randnotizen die typographische Melange des typischen Andenkenbuchs. Zielgruppe Alternativtourist in besten Jahren. Der Autor geht durch Straßen und Wohnzimmer der Stadt, voll Staunen selbstverständlich, aber noch mehr voller Mitgefühl, was ihn des öfteren veranlasst, Straßen und Wohnzimmern beruhigend die Hand auf die Schulter zu legen. Die wiederholte Wendung von der "Libido der Stadt" lässt Rutschky weniger als erfahrenen Psychologen, dafür als geilen Lustwandler auftreten, dessen Mit-Mantel-und-Hut-im-Schatten-Habit diesen Eindruck manifestiert. Die mehrmals formulierte Frage, ob sich in der und der Person an dem und dem Ort ein künftiger Regierungschef aufhalte, macht diesen Roman so gehaltvoll wie etwa die Wochenendbeilage des Berliner Tagesspiegel. Benjamin übernimmt von Hessel die Philosophie des Flaneurs: "Nur was uns anschaut, sehen wir. Wir können nur, wofür wir nichts können." Um das zu erkennen, muss man der Mann in der Menge sein, so gut wie der, der ihn beobachtet. Ein einsames, anstrengendes Geschäft, das nach Jahren nicht gesicherter Existenz zu Bitternis und Rührseligkeit führen kann. Rutschky zeigt angenehm von beidem nichts, aber der Gestus des Wissenden, der Fragen an die Stadt nur suggestiv stellen kann, langweilt den Leser der einhundert Romankapitel schon nach dem zehnten.
Was Rutschky durchzuspielen vorgibt, hat Brinkmann den "Film in Worten" genannt, Beobachtetes als Tagtraum ansehen, die Schnitte, die der Traum möglich macht, mit Worten in die Gegenwart übersetzen. Nicht Chronist des Geschehens sein, sondern Autor. Soweit ist der Autor der Stadt als Roman nur in wenigen Sätzen gekommen. Die "Stadt als Fußnote" muss vorerst genügen.

Michael Rutschky: Berlin. Die Stadt als Roman. Ullstein Berlin Quadria. Berlin 2001, 207 S., 24 EUR


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