Ariel ist ein fliegender Halbgott, den Shakespeare gemacht hat, er beherrscht die Elemente; Goethe führt ihn im Faust als Moderator des Erinnerns. Marsyas ist ein Satyr der griechischen Sage, er schlägt sich im Rausch mit Apollon, Rohrflöte gegen Gitarre, und verliert im Streit um den endgültigen Klang. Die Musen fällen ihr Urteil über Marsyas. Apollon lässt ihn von Menschenhand in Streifen schneiden, die Haut hängt er aus in den Weiden am Fluss. Der Wind fährt in die Saiten und weht die schönsten Töne, die Götter vernahmen, um die Welt. Musik, die ihren Hörern unter Menschen Eselsohren verpasst.
Neil Young ist der Ariel des Rock und sein Marsyas. Er ist der Verkünder schwer verständlicher Wahrheiten, er zeigt den Sturm an in der Stille. Er legt sich an mit Göttern und Menschen, er rührt die Elemente mit seiner Musik. Der Äther ist sein erstes Medium, von Satelliten und der Vielfalt elektronischer Archive nicht zu reden. Er ist - wie Bob Dylan, wie Van Morrison, wie Lou Reed - ein die Genres durchstreifender Solitär auf dem verschlungenen Weg, der den Geist von den Zwängen der Zivilisation läutert wie der Einzelne sie erfährt.
Es sind die Zwänge des Berufszweigs, der sich im Wirbel der Globalisierung zur vehementen Furie einer Gesellschaftsordnung bläht, für die keine Alternativen zu Verfügung stehen. Daran nichts ändern zu können, mag Hegelsche Einsicht sein, für einen Künstler ist es Voraussetzung seiner Unabhängigkeit.
Zu dieser ungleich schwereren Einsicht zu gelangen, kann keinem ein Ziel sein. Nicht erst die Erfahrung macht die Kunst, aber die Kunst kann zur Erfahrung werden durch ein Publikum. Hölderlins "rasende Halbgötter", denen die Einsicht die Wirkung verbietet und bestenfalls Aussicht auf kommende Jahrhunderte bietet, sind die Urgestalten solcher beschädigten Idole außer der Zeit. Damit ist das Tabu im Pop, dem Effekt alles ist und sonst gar nichts, benannt. Der Zeitgeist verschlingt das kreative Potential des Einzelnen, sobald der die Massen berührt. Die Nähe zur Masse wird vom Erfolg des Künstlers zum Problem, sich vom Erfolg zu emanzipieren auf Kosten der Resonanz und zugunsten der Wirkung, sie hat ihre eigene Zeit. Die Forderung an sein Publikum, Genuss gegen Verständnis und Mitleiden zu tauschen, übersteigt dessen Möglichkeiten zumeist. Der Nonkonformist, der er ist, seit er 1967 Buffalo Springfield sprengte, funktioniert anders. Es ist die Differenz zwischen der Erwartungshaltung eines Publikums und der Furcht, ein Lieferant von Meterware zu sein, die ihn treibt.
Seine Mittel sind schlicht und auf subtile Weise verwoben. Klischee und Kitsch und Hardcore-Attacken, ziselierte Melodiengespinste, versetzt mit der ins Falsett getrimmten Stimme, die - so verfremdet - Zitat einer ins Mark gehenden bitteren Erfahrung ist oder der hohe Gesang eines Entrückten. Surreale Textgefüge, Drogenmüll, Kryptik, Fetzen von Geschichten und Geschichte, die ohne Vertonung Fetzen bleiben, wo der narrative Grund ausbleibt. Der Fehlgriff des Feedbacks: von Beginn an Methode, Manifest und Manie, wie zu hören auf Arc, eine halbstündige Schweißnaht aus Rückkopplungsüberschuss, die jede hitverdächtige Reminiszenz in Moleküle reinen Krachs bindet. Wo der Körper vom Übel des Gedankens befreit zu werden hofft, bleibt Tinnitus zurück. John Coltrane, den Young als Nachfolger in der Kunst der Fuge zitiert, ist der Pate des Soundtracks zu Jarmuschs Dead Man 1995, eine Symbiose aus bewegtem Bild und elektronisch verstärkter Musik, die den Begriff Tonfilm neu denken lässt.
Die in der Popgeschichte als düsteres Kapitel geführten Alben der Achtziger - Reactor, Trans, Everybody´s Rockin´, Old Ways, Landing On Water, Life - sind Dokument einer Krise. Die Versuche, das Fundament des Pop zu ergründen, Euphorie und Funèbre auf einen Kern zu skelettieren, sind der sperrige Kommentar zum Ausverkauf einer mit Musik losgetretenen Jugendbewegung und Entwürfe für den Auftritt, der die dürren Klangkonstruktionen im Fleisch zeigt, gewaltiger, wie Ohrenzeugen berichten, als die Posaunen des Herrn.
If I could just live my life / as easy as a song / I´d wake up someday / and the pain will all be gone. So singt nicht, wer im Alter resigniert, so singt, der weiß, was eben dem entgegensteht, sein Leben leicht, wie ein Lied sein kann, zu leben. Hinter ihm liegt der dazugehörige Traum, vor ihm noch immer der "übermenschliche Schmerz", den die neomythische Gestalt des Halbgotts formt. Er treibt ihn gegen den Strom des Vergessens, auf dem die Flotte der Unterhaltungsindustrie Dampf macht.
Wir dürfen sterben, wann wir wollen, nur alt werden dürfen wir nicht. Die erste, noch aktive Generation popmusikalischer Halbgötter rekultiviert seit dem Eintritt ins akute Stadium des Verfalls die ursprüngliche Geste, den Wurzelstrang der Art von Musik, zumindest des Rock, als zelebrierten schlechten Benehmens, des Begehrens und Aufbegehrens. In diesem Sinn sind sie noch einmal Protestsänger geworden im Schaukampf gegen die eigene Verweslichkeit auf offener Bühne. Die Hoffnung, dass hier ein dialektischer Kniff angewandt wird, zu zeigen, dass in den überalterten Wohlstandsgesellschaften das Sterben vor der Verwertung nicht bewahrt wird, trügt. Zu groß die Faszination, dass "die immer noch da sind", zu dürftig die Resonanz der Medien auf das, was sie sagen, die Alten. Sie reden von Zeit, von Geschichte, die ohne sie ablaufen wird. Vom wirtschaftlichen Potential, mit dem die Geschichte sich befassen wird, reden sie nicht. Der alternde Künstler Neil Young steht für die Ausnahme.
Der Name, der als Topos für Authentizität und unbeirrbares Außenseitertum einer Musikrichtung (oder mehrerer) steht, ist ein massiver Wirtschaftsfaktor nicht nur im Pop. Erste Form von Besitz, "einzige, die ich verstehe", sagt er, ist Grund: ein Stück Kalifornien von der halben Größe Brandenburgs. Ein, schon schwerer zu verstehendes, Stück Industrie (Software, Spielwaren, Ressourcenschutz) kommt dazu. Eine Familie, die, sozial breitgefächert, Verwandte, Freunde, Kollegen, Subalterne umfasst, die wieder zum Bestand des verwertbaren Kapitals unter selben Namen zählen. Ein Dutzend Orchester zwischen Crosby/Stills/Nash und Crazy Horse inklusive; eine Stiftung zugunsten mehrfach behinderter Kinder, soziales Engagement auf der Basis von Demut und erfahrener Demütigung, von künstlerischer Unabhängigkeit, die wirtschaftliche bedingt. Er, der als Archivar seiner Arbeit im Pop einzig dasteht, hat das von allem Anfang an öffentlich gemacht, Aufstieg, Werden und Verfall als Gemeingut, solange das Urheberrecht bleibt. Ein Leben kann in Musik aufgehen, wenn Bewusstsein und tätiges Sein zum Medium werden, das die Massen bewegt und ihnen im Leben einen Grund gibt. Neil Percival Young, geboren am 12. November 1945 im englisch-kanadischen Toronto, liefert solchen Grund seit langem.
It´s all one song! So beschwört er die Utopie vom Ganzen als Kontinuum, Leben plusminus Kunst. Wer das für sich verwirklichen kann, muss ein glücklicher Mensch sein, wenn er seine Arbeit wie Sisyphos begreift. Ich bin nur ein Wanderer aus einer anderen Zeit, in eine andere gehe ich, und der Stein, den ich wälze, ist ein anderer mit jedem Aufstieg vor mir. Wer meine Musik hört, legt sein Ohr an die Geschichte. Popmusik ist die Klangfolie der Gegenwart, das Hintergrundgeräusch des überdehnten Lebens. Wohin vom Unterhaltungszwang, vom unentwegten Radio, vom Säuseln in Pachttoiletten und Fahrstühlen, Flughäfen, Kaufhäusern? Kein Entkommen, außer zurück, weiter also, weg, zurück zu den Wurzeln, vorwärts, wo die Mythen wieder warten. In die Geschichte, wo unter Autofriedhöfen und Straßenpflaster der Strand liegt, die Prärie, der Urkontinent der Ahnen. Cortez, Pocahontas, Inca Queen, Goin´ Home, Prairie Wind und das Post-Hippie-Melodram Greendale erzählen davon; auch davon, dass der Begriff Heimat die Eigentumsfrage nicht auslässt.
When God Made Me, letztes Lied auf seiner letzten Platte 2005, zeigt auf der ins Bild gesetzten Musik einen Greis von Würde, Zorn und gelassener Kraft, wie Michelangelo sie den Propheten als Beisitzern des Jüngsten Gerichts zugemessen hat. Begabt mit Liebe, Stimme, mit Visionen, verdämmert der Sänger seines Lieds im digitalen Bild, das sich als Vorhang über ihm schließt, bis ein anderer Vorhang vor einer anderen Gestalt, die er sein wird, sich hebt. Dass der Vorhang ein wehendes Bettlaken im Halbdunkel ist, steht als episches Element für den Witz dieses Mannes. Seine Halbwertzeit wird er damit verbringen, den Überblick im Leben zu suchen und Antwort auf die Fragen Warum und Wozu, und das für uns andere mit.
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