Um die Toten nicht in Ruhe zu lassen

Trotz und Spieltrieb Zum Tod von Thomas Brasch 1945 - 2001

Wer sind wir eigentlich noch.
Wollen wir gehen. Was wollen wir finden.
Welchen Namen hat dieses Loch,
in dem wir, einer nach dem andern, verschwinden.
Thomas Brasch, Papiertiger

Dass Thomas Brasch noch am Leben war, hat bis zum 3. November 2001 einige überrascht. Nicht dass er überlebt hat, was der Terror eines exzessiven Lebens bringt, sondern dass er noch am Leben war, der Mensch, der Autor Thomas Brasch.

Er schien seit längerem verstummt. Einer, der am Frühwerk krankt, dem der Osten in der ideologischen Mühle genügend Konfliktstoff für ein Werk bot, das im Freiraum des Westens für ostdeutsche Dissidenten staatlich subventioniert wurde; mit der Mauer fiel die Subvention. Der Status des Dissidenten galt nicht länger. Braschs Exotenbonus des Immigranten aus dem östlichen Deutschland, dem westlichen entfernter als Australien, wie ihm zur Ankunft auf der anderen Seite des S-Bahnhofs Friedrichstraße bescheinigt wurde, war vor dem schon verbraucht. Zu deutlich auch sein artikuliertes Bedürfnis, wieder in der DDR zu arbeiten: "Weil ich dort noch etwas lernen kann." Ein Motiv für Braschs Ausreise war die Unmöglichkeit, im Osten zu lernen, weil seine Stücke zwar gebraucht wurden, aber eben nicht gespielt werden durften. Lernen im grenzenlosen Westen, schien ihm 1987, mit der nun aufscheinenden Möglichkeit, im Osten gespielt zu werden, schon unmöglich. "Wer nicht mehr lernen kann, kann sterben", hat Brasch im Gespräch mit dem Dramaturgen und Lektor Jochen Ziller (gestorben im September 2001) erkannt. Sterben aus Mangel an Lernfähigkeit - Braschs Formel für die Crux des fingierten Sozialismus in der DDR. Dazu, zum erträumten tatsächlichen Sozialismus, gab es für Brasch keine Alternative. Nicht bis 1989, der vorläufigen Endzeit der sozialistischen Alternativen bis jetzt.

Die Bundesrepublik war nicht das Deutschland seiner Wahl, aber eine andere hatte er nicht. Jedenfalls nicht, als er die DDR verließ. Dass es für immer war, konnte niemand wissen, schließlich schien das Gleichgewicht der Welt auch an der Existenz der DDR zu hängen. Die er auch nicht gewählt hatte an der Hand seiner Eltern, die aus dem englischen Exil, wo Brasch geboren wurde, in den deutschen Osten heimkehrten.

Christa Wolf: "Er ist in England geboren, seine Eltern, Juden, Kommunisten, lebten dort im Exil, der Sohn wächst in der DDR auf, von seinem zehnten Lebensjahr an eine Zeitlang in der später aufgelösten Kadettenanstalt. Wie Kleist." Der staatenlose Brasch, Inhaber von drei Pässen, zwei deutschen, einem britischen, hat die Trennung des utopischen Entwurfs von den Möglichkeiten der Macht, die Ohnmacht, etwas daran zu ändern, mit Schreiben nicht verwinden können.

Privilegien, Widerstand und Knast, Arbeit und Ausreise. Braschs Protest gegen die "Sozialistische Tragödie der Dummheit", gegen die Niederwerfung des Prager Frühlings, des "Kindertraums von einem Sozialismus ohne Panzer" (Heiner Müller), brachte ihn 1968 für ein Jahr in Haft nach Hohenschönhausen. Sein Vater, stellvertretender Kulturminister, verlor sein Amt. Braschs Protest gegen die Ausbürgerung des "sich für einen Kommunisten haltenden, singenden Arschlochs" Biermann, verbunden mit der demütigenden Aussicht, auf Lebenszeit auf keiner DDR-Bühne je gespielt zu werden, veranlassten ihn schließlich zum "Landwechsel", wie die vom Spiegel-Rezensenten Heiner Müller monierte Prägung im Klappentext zu Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen, erschienen im Deutschen Herbst 1977 bei Suhrkamp, lautete. Für Müller, selber ein Grenzgänger mit dem Privileg des Aus- und, wichtiger, Einreisevisums, war Landwechsel das ins Diplomatische übersetzte Synonym für Wildwechsel, Zeit der Jäger am Feldrain und auf der Autobahn. Brasch war auf der Autobahn zuhause; der Osten war ihm nicht Heimat genug, der Westen Ausland zuviel. Er hat sich als Grenzgänger gesehen, mit dem Verlust der Grenze kam ihm sein Terrain abhanden.

Müller eröffnet seine Kargo-Rezension mit dem Satz: "Thomas Brasch gehört zu den großen Begabungen seiner Generation." Generation war neun Jahre nach 1968, in der Ära des Punk, immer noch und wieder ein Reizwort, das er, Brasch, mit seiner das anarchische Lebensgefühl skandierenden Dichtung bedient hat. Die Generation der zwischen 1935 und 1955 Geborenen, Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegskinder, dünnt aus. Eine Generation, die ihre Jugend beziehungsweise Kindheit in der frühen DDR verbracht hat, mit dem Impuls der Hoffnung und der Illusion, dass Kunst die Welt verändern könne, "die Welt, in der wir leben".

"Wer sind wir eigentlich noch." Nach Karl Mickel im Frühjahr 2000, Klaus Schlesinger, Adolf Dresen, Einar Schleef und Peter Brasch im Jahr 2001, das noch nicht zu Ende ist, ist diese "geistige" Generation weiter geschrumpft.

"Warum schreiben?" Die unangenehme Frage des Theaterschreibers Brasch provoziert dessen eigene Antworten von: "Um diese Frage überflüssig zu machen" bis: "Um zu spielen". Ein Programmhefttext, von Trotz diktiert und Spiel-Trieb, wobei die zweite Silbe die entscheidende ist. Spielen heißt nicht allein sein müssen, bei der Arbeit "an der Auslöschung des ICH", die Brasch unter Zuhilfenahme häufiger harter als zu weicher Drogen - und entsprechend der kommunistischen Vision von der Aussichtslosigkeit des Einzelnen - eifrig und im Privaten konsequent verfolgt hat. Brasch war auf kollektive Arbeit angewiesen, die Einsamkeit des Schreibtischtäters hat ihm nicht behagt. Eine andere seiner drei Dutzend Antworten: "Um die Toten nicht in Ruhe zu lassen."

Warum bleiben? war die Frage, die nach Braschs Weggang aus der DDR, einer von zu vielen, von ihm blieb. Christa Wolf hat sie in ihrer Kleistpreislaudatio gestellt und mit der für den Preisträger ungültigen Antwort "um arbeiten zu können" verneint. Braschs Debüt als Autor, der gedruckt werden konnte, fand in der DDR 1975 statt. 30 Seiten mit Gedichten in der Reihe Poesiealbum, der meist gelesenen Lyrikreihe auf ostdeutschem Boden; Illustration für Brasch: Einar Schleef. Brasch wurde seinem Publikum mit Warnung präsentiert: "Ein gewisser Hang zur Maßlosigkeit ist nicht zu übersehen; hier wird Brot nicht mit dem Messer geschnitten, sondern mit dem Beil abgehauen. Freilich, indem der Autor selbstbewusst in die Öffentlichkeit spricht, ihr seine Deutung von Zeit und Leben gibt, erhält die Öffentlichkeit die Möglichkeit, mit ihm das Gespräch zu führen, auch ihm zu widersprechen." Dieser Möglichkeit freilich wurde die Öffentlichkeit bald nach Erscheinen der 30 Seiten beraubt. "Maßlosigkeit" war die Umschreibung für Braschs von Majakowski und Dylan geprägte proletarische Lyrik, nicht länger einzuordnen in den Kanon staatskonformer Literatur, die mit nichts weniger zu tun hatte als mit Realität.

Braschs Debüt im Westen fand knapp zwei Jahre später statt. Vor den Vätern sterben die Söhne ist der berühmte Titel einer in Vergessenheit geratenen Prosasammlung, geschrieben noch im Osten Deutschlands, Berlin-Friedrichshain, Mitte, Prenzlauer Berg. Ein Titel, der sich vom Autor längst verabschiedet hat und anonym geworden ist. Ich erinnere mich an eine Geschichte: Der alte Spanienkämpfer in der verwahrlosten Wohnung in der DDR-Hauptstadt, der im Schnapsrausch Spaniens Himmel ansingt, ein frühes Bild des nicht alt gewordenen Brasch, ein Ausblick, den ich nicht anders sehen kann als einen traurigen, mit Trauer.

Ich habe Thomas Brasch spät kennen gelernt, am Abend seines 49. Geburtstags in einem Wohnzimmer in Venedig. Ein zwischen alter Mann und jugendlichem Rüpel chargierender Typ, über die Maßen sympathisch, gleichzeitig von Bitterkeit durchtränkt, dass zur Sympathie ein übergroßes Maß an Mitgefühl kam, auf Dauer ermüdend. Erschreckend ähnlich seinem zehn Jahre jüngeren Bruder Peter, oder Peter ähnlich, beide immer wie gehetzt. Leben als Entzug, Entzug vom Tod. "Suchtmensch, sagt der Doktor, da ist mir alles klar geworden, keine Rücksicht". Anekdoten und Angeberei. Die Geschichte von der Schreibmaschine, die Katharina Thalbach nach einem Streit mit Brasch ihm aus dem Fenster hinterhergeworfen hat und leider nur die Schulter streifte; oder Hollywood, wo das Genie aus dem Osten von Jack Nicholson lernt, wie man anständig kokst und welchen Weißwein wie gekühlt man dazu nimmt; die klebrigen Sottisen vom Sumpf des intellektuellen Boulevards, den er mit seiner Shakespeare-Adaption Liebe Macht Tod und anderem nicht gescheut hat.

Nach Venedig war Brasch mit einem Koffer gekommen, voll mit Papier. Er drückte mir einen Stoß zerlederter Seiten in die Hand: Mädchenmörder Brunke in der 27. Fassung, die ich in der wievielten bei Suhrkamp schließlich gedruckten, nicht gelesen habe. An die 27. kann ich mich dunkel erinnern, die Suche nach einer Sprache, die Mühe dabei, der sehr leise Text von einem, der laut sein wollte, unter Qualen geschrieben. Wie unter Krämpfen, dachte ich, wie im Rausch. Braschs Angst vor dem Versagen, kein schlimmeres Wort als: Comeback. Von Brunke, der schon 1980 im Eiskunstläuferdrama Lieber Georg als Kleistkopie auftritt, weiß ich nur noch, dass er sich an einem Bindfaden erhängt. Was mir damals als Metapher für Braschs Unternehmungen erschien: an einem Bindfaden einen Roman von 27.000 Seiten aufziehen. Zum Abschied in Venedig die Idee eines Briefwechsels zwischen ihm am Nollendorfplatz und mir am Hackeschen Markt.

Dazu ist es nicht gekommen, weitere Begegnungen waren so zufällig wie selten. Ein im Delirium vollgequatschtes Tonband aus dem Anrufbeantworter, das ich ihm nicht ins Grab werfen kann, Tote sollten keine Selbstgespräche führen, Einsamkeit ist den Lebenden vorbehalten und Strafe genug, die Hölle auf Erden.

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