In den Massenverkehrsmitteln der Hauptstadt wird gelegentlich, und wenn, dann penetrant, für Aufmerksamkeit gegen die unter dem Begriff "Vandalismus" bekannte Zerstörungswut der unter dem Schlagwort "Rowdies" bekannten Personen geworben. Wer solche aufgreift kann mit Belohnung bis zu 1.000 DM rechnen. Seitdem meine Tochter lesen kann, hofft sie, einen Vandalen aufzugreifen oder zur Ergreifung des Vandalen beizutragen. Vom Tausender, den sie für ihren Vandalen bekäme, würde sie ein Skateboard kaufen und die Hälfte vom Rest aufs Sparbuch tun, die andere ist mir versprochen. Die Rowdies liegen ihr nicht so, sie lernt Spanisch in der Schule und nicht Englisch, und kann sich unter einem "Roffdi" nichts vorstellen außer einem stark behaarten Hund und vor Hunden hat sie Angst.
Die Antivandalenkampagne läuft zur Zeit wieder an, in der Straßenbahn Linie 1 ist der Reim der BVG-Poeten "Vandalen müssen zahlen" zu lesen. Neulich saßen wir vor einem dieser gelbgerahmten, quer im DIN-A-4-Format geklebten Zettel. Dort stand unter der gewitzten Überschrift, dass Belohnung für Beihilfe zur "Ergreifung" gezahlt würde, und zum weiteren Anreiz waren ganz klein zwei blaue Hunderter dort abgebildet, mit dem roten MUSTER-Stempel versehen, zur Sicherheit, dass kein Vandale sich davon echte Blüten hochkopiert.
Meine Tochter leckte sich schon wieder die Lippen, aber der Wagen war leer und wir fuhren nur vier Stationen, selbstverständlich schwarz. Ich überlegte, ob ich dem Kind die geläufige BVG-Auffassung, dass auch Schwarzfahrer etwas in der Art wie Vandalen seien, erläutern müsste, als ich las, dass die Vandalen am besten der "Service und Security der BVG" gemeldet werden sollten. Wer das tut, bekommt klassifiziert nach schwer nachvollziehbaren Schweregraden: 40 DM für Verunreinigung, 100 DM für Beschmierung (Graffiti), 150 DM für Materialschäden (Scratching), 200 DM für Sachbeschädigung usw.
Ich sah mein Kind an, das vor sich hin summend Vandalen auf Sandalen reimte und Sandalen auf Qualen, und ich dachte an den verunglimpften Völkerstamm der tatsächlichen (mit einem entspannten "W" beginnenden) Wandalen, die im hiesigen Sprachschatz so hemmungslos der Zerstörungswut und dem allgemeinen Denunziantentum gleichgesetzt bzw. überantwortet wurden. Sie hatten es nicht leichter als die Hottentotten, von denen ja noch Rudimente im südlichsten Afrika unter Artenschutz stehen. Warum gerade die, dachte ich, warum zum Beispiel nicht Indianer? Weil "Indianer müssen zahlen" sich nicht reimt? Weil "Melden Sie Indianer sofort dem Service Security" so sinnlos klingt? Sinnloser als Vandalen, Rowdies, Hottentotten? Während letzteren nur schlechthin flegelhaftes, leicht behämmertes Betragen mit Tendenz zum Veitstanz nachgesagt wird, stehen die Wandalen für rücksichtslosesten Kulturterror.
Immerhin hatten die unter König Geiserich vor 1545 Jahren Rom geplündert. Und 80.000 dieser Spätgermanen sind übers Mittelmeer bis nach Nordafrika gekommen, mit immerhin Karthago als Residenzhauptstadt. 442 Jahre nach Christi Geburt, in dessen Namen ja auch allerhand erobert und zerkloppt worden ist. Und heute sollen die, zugegeben, ausufernden Sezessionsbestrebungen unserer Vorfahren gegen das römische Imperium nur noch Synonym für Plexiglasscheibenzerkratzen, Synthetikpolsteraufschlitzen oder dilettantisch ausgeführte Graffitis sein? Das mangelnde Geschichtsbewusstsein der Deutschen in der Hauptstadt wird kaum deutlicher als in der Straßenbahn. Vandalen müssen zahlen. Dabei hatte alles so barbarisch gut angefangen, bis 1794 jener rachsüchtige Katholik in Blois an der Loire den Schlachtruf "Vandalisme!" den längst Ausgestorbenen ins Walhalla nachschickte. Der zwar die Jakobiner damit meinte, die seine Kirchturmuhr zerschossen hatten, doch nicht wissen konnte, dass die im selben Jahr im Blutgerüst der bürgerlichen Republik verschwinden sollten, auch nicht wissen konnte, dass sich bald Bonaparte zum Konsul und die Politik zum Schicksal erklären sollte. In den zwei Jahrhunderten zwischen uns und ihm, wir wissen es, ist die Politik Geschäft geworden und Europa vom Schlachtfeld zum Markt. Doch zurück zur Straßenbahn.
Ich beobachtete meine nach Vandalenblut lechzende Tochter und voller Mitleid ein am anderen Ende des Wagens sitzendes Rentnerpaar. Würde jetzt der Opa in die Ecke pinkeln, die Oma ihren Lippenstift an der Scheibe ausdrücken (sie hatte sicher nicht mal einen), wären die beiden in den Augen meiner Tochter schon geliefert. Allerdings, so ahistorisch ist die Bezugnahme auf einen in der Geschichte versunkenen Stamm vielleicht doch nicht, dachte ich mit Blick auf die Alten. Erlebnis und Dichtung, na gut, die Flaxerei ließe sich über den gesamten Globus und durch die Epochen jagen; fragt sich, wie war's gewesen, als meine Oma, sagen wir vor 60 Jahren, auf Besuch in Deutschlands Reichshauptstadt, mit meinem Vater auf dem Schoß, die Prenzlauer Allee zum Horst-Wessel- statt zum Rosa-Luxemburg-Platz herunterfuhr? Das Kind mit dem sächsischen Akzent, das mein Vater damals war, hätte die entsprechenden Erlasse buchstabieren können, die sich statt auf vergessene Vandalen, auf jüdische Fahrgäste bezogen, die nicht Service Security, sondern über kurz oder lang der SS ausgeliefert worden wären und worden sind. Und ab 1942 wäre die Fahrt für den jüdischen Fahrgast garantiert mit Todesfolge verlaufen, da das öffentliche Verkehrsmittel nicht nur der Hauptstadt allein dem arisch reinwertigen Fahrgast vorbehalten war, der auf den Rädern unter ihm schließlich zum Sieg rollen sollte. Da war mein Vater alt wie meine Tochter jetzt.
Angesichts derart radikal auslegbarer Absurdität amtlichen Schrifttums fiel mir nichts mehr ein als auszusteigen, wir waren ohnehin schon da. Als die Tür aufging, rief meine Tochter aus purer Enttäuschung "Penner!" in den Wagen. Ich dachte an ein anderes Rentnerehepaar, das einen Zehn-jährigen der Polizei überantwortet hatte, weil er vor einer neu lackierten Häuserwand mit einer leeren Bierdose rumfuchtelte und tat, als ob er sprühen könnte, und klebte ihr eine.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.