Und als am zwanzigsten Juli in Hitlers Wolfsschnauze eine Aktentasche platzte und Pfeiler einknickten und Scheiben zerbarsten, und Menschenfleisch klebte im Schutt, bangte Haueisens Klara um Blockwart Otto.«
So ein Satz braucht Raum. Der Autor dieses Satzes schaufelt seinen Raum in der jüngeren Vergangenheit, im Exotenkosmos des Berliner Scheunenviertels und der Stadt Quedlinburg zur Nazizeit und ausschnittweise in der DDR. Von vollen Sätzen wie dem mit Hitler und Klara und Otto gibt es viele in Jan Koneffkes Buch, der Titel spricht ja schon davon: Paul Schatz im Uhrenkasten.
Berlin. Paul, Anfang der zwanziger Jahre im Scheunenviertel in die Welt gekommen, als die Straßenbahn die Pferdebahn verdrängt hatte, als galizische Juden noch nicht deportiert und ostdeutsche Alteinwohner nicht von westdeutschen Neu-Berlinern ersetzt waren, wächst nach dem Tod seiner Mutter bei deren Vater, Karl Haueisen, auf. Wächst auf, wird jung und wider Willen erwachsen, bleibt immer ein Kind.
»Verstellte Großvater Haueisen einen Uhrenzeiger? Hockte er im Erdinnern am Schaltpult mit blinkenden Lampen und zweihundertdreißig Uhren und zettelte Revolutionen an? Streichelte er seinen Bart, Karl Haueisen, der Logenmeister, Antisemit und Rechnungsrat im Reichspostministerium und Hitlerhasser gewesen war?« So viele Fragen, und damit beginnt das Buch und Paul Schatz´ - wie zu erwarten - merkwürdige Geschichte. Von der ersten Seite tickt es bis zur letzten, das Leben ist ein Uhrwerk, klar, und wenn zweihundertdreißig um uns ticken, werden wir wie Chaplins Charlie durch die Räder und Unruhen getrieben, und wo wir rauskommen am Ende, sind wir selbst ein Teil des dauernden Getriebes. Die Struktur des Romans wird von den einander überlagernden Getrieben vorgegeben, Sprünge inklusive.
Paul, Halbwaise mit etwa acht Jahren, will vom Vater Schatz, der links auf der Großvater-Etage haust und ein »schimmliger Jude« und Schildermaler aus Galizien ist, nichts wissen. Zu groß dessen Schuld, die Leerstelle der Mutter mit kriecherischem Wesen und fremdklingendem Deutsch zu ersetzen. Ein Schwindler, ein Herzensbrecher dazu, der in Pauls Träumen im Fledermausmantel auftritt und Herzen aus Brustkästen bricht, in den Fingern dreht und - knack, sind sie futsch. Derlei Phantasien und die Sternenbilder im Fernglas beherrschen Paul, der von der strengen Tante Else und dem murmeltierhaften Gegenstück, Nenntante Ida aufgepeppelt wird.
Der seine Kindheit lang auf einen Anruf von der Mutter durchs Himmelstelefon wartet und die Dame vom Fernamt um Vermittlung bittet. Solcherart ergreifende Sicht aus Kinderaugen auf die harte Gegenwart rührt an. Sie ist die Stärke ihres Autors, dessen Sprache vom entfernten Echo des Jiddischen, vom Staunen zahlloser Kinderfragen und unentwegten Additivsätzen getragen wird. Zäsuren werden von Kapiteleinschüben markiert, in denen Großvater Haueisen (der am 30. Januar 1933 in die Grube fährt, als Hitler im Gegenlauf nach oben kommt) in seiner Loge im Erdinnern zwischen Lochstreifen spuckenden Hollerith-Maschinen am Zeiger dreht und alles anders macht, als es in Wirklichkeit viel schlimmer schon kam. So muss die Uhr beschaffen sein, die wir uns, als wir Kinder waren, wünschten, und die geht so: »Als er tot war, verstellte Großvater Haueisen einen Uhrenzeiger - und Holzoma Hindenburg berief Holzteufel Hitler nicht zum Reichskanzler. Es wagten sich keine SA-Leute ins Scheunenviertel, um Steine in Mosche Sternkukkers Buchladen zu werfen.«
Mosche Sternkukker, der unheilige Zaddik, der Eierhändler Moische Pufeles, Fischhändler Butterfaß und Schankwirt Miegel, Schutzmänner und Spitzbuben, Elses nationalbolschewistischer Verehrer Doktor Schmidt, Idas hauseigener Schnorrer, Pauls erste Liebe Anna Feuerhahn, die am Laternenpfahl lehnt und im Kellerloch Männer massiert, die Paul die Unschuld nimmt (und in einer die Grenzwerte sexueller Infantilität streifenden Szene dem Leser schenkt), der Kommunist und Schifferklavierspieler Wischnewski, seiner Seele in Sachsenhausen beraubt - das ist der Reigen von Pauls Kindheit, der am Ende auf seiner Scheunenvierteluhr Platz findet. Das Ende ist auf 1999 datiert, die Uhr, garagengroß, hat Paul mit seinem Leben zu Ende gebaut, ihr erstes Ticken soll sein letztes sein.
Als wickle man ein altes, bunt verlockendes Konfektpapier aus, das man beim Lutschen nicht mehr vom Finger bekommt, so lässt sich die Lektüre dieses Buches beschreiben. Im Scheunenviertel sticht die Chagall-Schablone durch, der »Prenzelberg« wird nicht ausgelassen, Kinderaugen kullern wie verrückt, die Groteske liegt im Clinch mit der Burleske, und der Lohn ist ein blutrünstiges Kasperle-Theater. Das Blut ist vom kandierten Apfel, die Figuren sind mit Sägemehl gestopft, und die Temperatur, die man routiniert als »berstend vor Sinnlichkeit« beschreiben könnte, schlägt gelegentlich aus.
Wenn Paul nach den Pogromen im Scheunenviertel zum Großonkel Max Haueisen nach Quedlinburg verschickt wird, erscheint der Kinderblick des Volljährigen zunehmend naiv, kindisch statt kindlich. Wenn der liebenswerte Hauptdarsteller, nachdem er die letzten drei der tausend Jahre im Waldversteck mit Fallenstellen und Uhrenbauen zugebracht hat, in den Wirren seiner ersten großen Liebe und den Zeitstürzen zwischen Kriegsende und DDR-Anfang, an den immer dünner werdenden Fäden der Geschichte fortgezuppelt wird, taumelt der Formwille zwischen, naja, Realismus und stromschlagbetriebener Puppenstube.
Hand und Fuß muss eine Geschichte haben, verrät Paul als leibhaftiger Onkel seinem Erzählerneffen Koneffke. Diese Geschichte hat zu viele Füße. Sie ist etwas kribbelig, der lyrisch ambitionierte Funkenregen, der Pauls Sinnenwelt umschwebt, kann nicht von Koneffkes Klammersetzungswahn gebändigt werden, hier wird er billig Manierist. Seine Erzählung ist überdicht gepackt und schüttet allen Zauber jener roten Papierhüllen aus, die uns die Eltern mit der Verheißung: Da, guck mal rein! In die Hand drücken. Da konnte man ungeahnte Form- und Farbenschönheit erblicken, einen kristallenen Erdkern und bonbonsplittrige Regenbögen. Aber wehe, man untersuchte es innen, dann hielt man nichts als Splitter in der hohlen Hand.
Zum Ende wird der Atem merklich flacher, das große Gemälde, zu dem das Werk anhebt, steht nach der Lektüre kaleidoskopisch fern zurück. Die Entzauberung von Großvater Haueisen geht mit der Entdeckung seiner Schuld am Muttertod einher. Der historische Aspekt, dass die Verhältnisse eben nicht so sind, dass ein Rechnungsrat im Ministerium seine Tochter einem jüdischen Schildermaler überlassen kann, erschließt sich in bitterer Komik zur Zeit, als das punktuell auftretende Erzähler-Ich aus dem Westen seinem Onkel im Osten nicht mehr zuhören will, und der altgewordene Paul auf der Strecke bleibt. Schmerzlich beinah Pauls Metamorphose vom Sohn und Enkel zur kinderlosen Vaterfigur, der Preis für die geborgte Kindheit auf bedruckten Seiten.
Die Kapitel »1968/1982/1999« sind journalistisch knapp und wohl autobiografisch zu betrachten: als Geburt Jan Koneffkes als Erzähler. Die Geheimnisse sind verbraucht, was bleibt, ist die große, ewig offene, alttestamentarische Frage. Sie schält sich raus, sie beißt sich durch, sie lautet: Was ist Liebe? Und die Antwort ist einfach: Liebe ist Leben und zum Beispiel ein Buch. Aber gut zu lesen und vor Kindern nicht verstecken, die lernen könnten, wie man von Harry Potter zu Oliver Twist oder sagen wir Oskar Matzerath kommt. Paul Schatz hat seinen Platz dazwischen.
Dann denkt man doch noch an ein anderes Buch, das, im Osten zu Tode propagiert, auf epischen Backsteinfüßen stampfte, wo Koneffkes Porzellanmalerei die Farbe ausgeht - an Dieter Nolls Die Abenteuer des Werner Holt, die unter dem Druck der Nachkriegswirklichkeit und ihrer Ideologien vollkommen kinderphantasielos bleiben mussten. Dazu jetzt aber nichts mehr.
Jan Koneffke: Paul Schatz im Uhrenkasten. Roman. DuMont-Verlag, Köln 2000, 276 S., 39, 80 DM
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