Wie wir sie erinnern

Und was haben Sie am 8. Mai 1945 getan? Zu Strategien und Motiven der Gedenkkultur um den Tag der Befreiung

Wenn Geschichte erst durch Schrift - die durch lineare Anordnung alphabetischer Codes das Bewusstsein einer Folge von Geschehnissen vor einem kollektiven Gedächtnis erschuf - möglich wurde, was bedeutet dann das Verschwinden der Schrift zurück in den Bildern? Was geschieht mit einem historischen Bewusstsein, das nur als kollektives funktioniert?

Beim Überflug des Themenparks 60 JAHRE KRIEGSENDE ließe sich das fragen. Blickwinkel werden angeboten: aus der Perspektive der Opfer; der Täter; der Sieger, Besiegten; der Zeitzeugen; der Guten, der Bösen und so fort. Aus der Zweigenerationendistanz wird die Scheidung in Opfer und Täter nicht leichter. "Wir" zu sagen, geht nicht mehr, mit Ausnahme eben des generationalen Zusammenhangs: Wir, nach ihnen. Nicht nur die Gedächtniskollektive sind zerbrochen, davor schon die Erlebniskollektive, denen keine Kollektivschuldthesen oder sonstige mangels Lebendware mehr anzuhängen sind. Die Basis der kommenden Auseinandersetzung ist der "Zeitsprung", wie nicht nur eine der Kolumnen anlässlich der 60 Jahre heißt. Um die nicht mehr funktionierende Einordnung in das System der ideologisch determinierten imperialen Blöcke zu überbrücken, hat die historische Information, auch dank des technischen Fortschritts, ungeheures Ausmaß angenommen.

Die Basis der Auseinandersetzung ist heute eine andere. Sie lässt sich aus den Wurzeln ziehen, die - hierzulande und beidseits der Zeitmauer - unter verschiedenen Formen des Konformismus verschüttet lagen. Im Westen auf der Basis der beinah kompletten Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit, für die stellvertretend ein greiser aber listiger Kanzler wie ein Wächter stand; er stand für die Vergangenheit vor der Vergangenheit, mit einer Verfassung, die als Garantieurkunde auf Wohlstand und Befriedung sozialer Unruhen zu lesen war. Im Osten blockierte ein immerzu beschworenes Totenreich die Ansprüche der Vergangenheit auf die Zukunft, bis die Zukunft mit den Füßen abstimmte und sich der westlichen Verdrängungsbewegung anschloss. Der doktrinären Inpflichtnahme der Toten als Opfer für die sozialistische Sache im Osten entsprach die ritualisierte Trauer um Kriegsgefallene und verlorenes Land im Westen. Mit dem Abzug der russischen Alliierten aus Deutschland schien der Strich unter die geschichtsbeladene Ära des kalten Nachkriegs gezogen. Ein kollektives Aufatmen stellte sich nur deshalb nicht ein, weil die schweigende Mehrheit derart belanglose Nachwehen der Geschichte nicht zur Kenntnis zu nehmen bereit war.

Wenig später setzte mit dem Ende der Regierung Kohl im Einstaatendeutschland eine Beschäftigung mit der Geschichte wieder ein. Zunächst in Form diverser Retro-Wellen, dann subtiler. Vom 16-jährigen Trauma der Opposition erlöste Sozialdemokraten und eine nachgewachsene Generation, die vom 40-jährigen deutschen Nachbürgerkrieg kaum mehr die Nachrichten kannte, errichteten auf den Trümmern der liberalistischen Konsolidierungsüberbauten politisch korrekte Gedächtnisterminals, deren krudeste Auswüchse museale, sogenannte Erlebnisstrecken nach britischem und amerikanischem Vorbild sind.

Der französische Soziologe Pierre Nora spricht von einer "Explosion dekolonisierter Minderheitsgedächtnisse", die sich den Begriff der Geschichte neu aneignen. Nach der Verabschiedung des ideologischen Zeitalters setzt die Suche nach der verlorenen Geschichte ein. Vergangenheitsbewältigung ist das passende Wort für die Rekonstruktion von Aura über den bewahrten Spuren der Vergangenheit. "Spuren", sagt Nora, "die das Geheimnis dessen bergen, was wir sind, unsere ›Identität‹. Um sie wiederzufinden, sind wir auf Rekonstruktionsversuche anhand von Quellen, Archiven oder Monumenten angewiesen, und dieses Vorgehen führt dazu, dass der Begriff ›Gedächtnis‹, der eine konstruierte Erinnerung bezeichnet, heute für das gleiche verwendet wird, was man früher einfach ›Geschichte‹ nannte."

Und so sieht es aus: die nachfolgenden Generationen übernehmen mit Verve das Terrain. Der sterbende Zeitzeuge wird an der Schwelle zum Grab mit Kamera und Mikrofon umarmt, als ob nach seinem Tod nichts käme. Der Zeitgenosse wird mit immer demselben Material in immer neuen historischen Zusammenhang konfrontiert, und plötzlich dominiert Farbe die bislang schwarzweiße Erinnerung. Kitzel und Grusel der - von den Siegermächten erst nach 1990 einer für mündig befundenen Bevölkerung überantworteten - Farbaufnahmen des tausend Jahre nachwirkenden Reiches tun in Verbindung mit der extensiven Zeitzeugenbefragung ein übriges.

Wenn die Geschichte auch ohne erkennbares Ziel voranfließt und uns in unsrer Lage kaum die Knöchel überspült - solang sie uns mit Beben nicht erschüttert, simulieren wir die Beben eben. Der Verdacht, dass hier ein Realitätsersatz (Klospruch: "Eine Ersatzrealität ist kein Ersatz für Realität".) konstituiert wird, bestätigt sich angesichts der Vermarktungsstrategien der Lebensläufe der Voreltern, die das ballaststoffarme Material an Autobiographien und Fiktionen der Gegenwart entsetzen müssen. Da nun die Biographien zunehmend von den Enkeln abgefasst werden, ist eins vom anderen kaum mehr zu trennen. Die Welle der Biographien überspült die Zäsur des Katastrophenjahrhunderts wie einen schütteren Damm.

Die Biographie als literarische Form hat Konjunktur in Zeiten der Restauration. Die Biographie ist die Reminiszenz an die revolutionäre Epoche. Das Tagebuch des Überlebens einer Anonymen im Frühjahr 45 in Berlin ist auch deshalb Literatur, weil es die Rechnung nicht aufmacht Gut gegen Schlecht. Die Befreier schänden die Befreiten, hier wird auf der niedrigsten Stufe Wiedergutmachung betrieben, wo nichts wieder gutzumachen ist. Hier holt sich die Geschichte ihr Recht in ihren unmächtigen Subjekten. Und dieses Buch wirkt, weil die geschützte Anonymität der Autorin für einen kollektiven Autor steht, der sich nur namenlos verwirklichen konnte.

Die katastrophische Zäsur, von der die Rede ist, war das ideologische Zeitalter selbst, an dessen Ende auch das Ende der Geschichte ausgerufen wurde, mit dem aber das Ende der Geschichtsschreibung gemeint war. Was das Jahrhundert der Ideologien von unserem nachideologischen unterscheidet, ist das Phänomen des Gedenkens, der Reflexion, des technisch simulierten Nacherlebens als kultureller Errungenschaft: der Gedenkkultur. Und damit einhergehend eine Phänomenologisierung der Gesellschaft, die in fortwährenden Heimholungsversuchen die immer schneller entgleitende Vergangenheit reanimiert. Die durch solche Zustandsänderung bedingte Aneignung der Interpretationshoheit durch eine sich als geschichtslos empfindende Generation führt zu Relativismus und Privatisierung, zum Paradox der Enthistorisierung der Geschichte.

Die Vorstellung, die sich eine Gemeinschaft - Nation, Gruppe oder Familie - von ihrer Zukunft machte, war einmal maßgeblich für das, was sie zur Vorbereitung dieser Zukunft von der Vergangenheit bewahren musste, und was so der Gegenwart, die nur als Bindeglied erschien, ihren Sinn verlieh. Diesen Vergangenheitsbezug, die Kraft des Vergangenen, wie Pasolini sie beschwor, gibt es nicht mehr. In der beschleunigten Gegenwart - die sich mit der Vision des geklonten Humanen schon von jenseits der Vergangenheit nähert - wird das Gedächtnis in der speziellen Form des Gedenkens der Geschichte vorgeblendet. Angesichts der sprunghaften demographischen Alterung ein verheerendes Bild: Generationen von Alten, die sich an nichts als an Erinnertes erinnern, Substrate.

Dem zu entgegnen bietet sich eine Form des Widerstands an. Es ist die des Partisanen. Ein Partisan behauptet Boden unter feindlicher Besetzung. Er zieht sich zurück, agiert untergründig und aus dem Hinterhalt. Er ist der Agent der Reflexion, ohne die seine Arbeit gegen die absolute Übermacht des Feindes nicht zu leisten wäre. Sein Krieg ist der permanente Nachkrieg, seine Freiheit die permanente Befreiung. In diesem Sinn wäre eine Bezeichnung des Datums 8. Mai in anderem Sinn zu bedenken: der Tag der Befreiung als ein Tag der Befreiung von oktroyierten Pflichten - denen der Erinnerung, denen des Gedenkens, denen der Schuldzuweisung oder des Verwahrens, statt die Hetzjagd auf den letzten lebenden Zeitzeugen fortzusetzen. Ein Sabbat des Gedächtnisses, der weniger der historischen Zäsur des Kriegsendes dient, als der, die in der Mitte der Epochenkollision steht, und die Befreiung notwendiger gemacht hat als Freiheit.

Historisch ist der 8. Mai je nach Sicht der Betroffenen der Tag von Trauma und Triumph, wie entsprechend die Ausstellung zum Thema im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst benannt ist. Einer der seltenen Orte in Deutschland, an dem von deutscher Seite der sowjetischen Bevölkerung die Würde zurückgegeben wird, ist dieses Museum. Hier vollzog sich am 8. Mai vor 60 Jahren die Kapitulation der Wehrmachtsführung vor der Roten Armee und den übrigen Alliierten. Ein abgelegener Ort, der Erinnerung und Geschichte auf widerständige Weise vereint. Sieger und Besiegte werden benannt, Schuld und Verdienst, denn die Wahrheit, wie der Dichter sagt, ist unrein.

Man kann den vor der Kamera zu mitleidladender Musik leidenden Zeitzeugen ihren Auftritt nicht verübeln. Lange ist er ihnen unter ideologischen Zwängen vorenthalten worden. Dass jetzt massenweise die Familiengräber aufgerissen und in Dauersendezeit gefleddert werden, ist marktstrategisch zu werten: Seht, so war es gewesen! Ihr, die ihr zuseht, sollt nicht sagen können, ihr seid nicht dabei gewesen! Hier kann nacherlebt werden, hier können Familien wieder Kaffee kochen!

Unter allem klingt der Tenor von der Belanglosigkeit unserer Zeit, die zu leben wir gezwungen sind, aber einmal war es anders, und das holen wir uns wieder. Das macht die Faszination des Erlebenswerten, die Aufwertung zum Erlebenswert aus, die darin besteht, dass man überlebt hat, weil man es nicht erleben musste. Davon sprechen die weitflächigen, staatlich subventionierten Ausstellungen, die gegenwärtige hinter dem Zeughaus in Berlin, die Gedächtnis gleich Erinnerung gleich Authentizität setzt und gegen Geschichte ausspielt. Und vielleicht wird sich mancher schon anlässlich der 60 und zehn Jahre nach dem Krieg fragen, was in 60 Jahren vom Phänomen des Gedächtniswahns unsrer Zeit noch bleibt. Die Nachkriegszeit beginnt jetzt.


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