Taliban im Glück

Friedensgespräche Wer glaubt, die Taliban setzen sich grundsätzlich nicht an einen ­Verhandlungstisch, liegt falsch. Dafür müssen allerdings die Bedingungen stimmen

Der 20. September ist das Datum, an dem das Koordinatensystem für eine politische Lösung in Afghanistan kräftig durcheinander gebracht worden ist. Es ist der Todestag von Burhanuddin Rabbani, früherer Mudschahedin-Führer, Ex-Staatschef und als Vorsitzender des Hohen Friedensrates (HFR) von der Regierung Karzai ausersehen, die Verhandlungen mit den Taliban und anderen aufständischen Kräften zu führen. Er wurde Opfer eines Selbstmord-Attentats.

Präsident Karzai stoppte daraufhin alle Kontakte zu den Taliban. Der Anschlag zeige, hieß es in Kabul und westlichen Hauptstädten, dass die Aufständischen nicht an einer Verhandlungslösung interessiert seien. Abdul Hakim Mudschahed, Ende der 1990er Jahre Taliban-Kontaktmann bei den Vereinten Nationen in New York und Rabbanis Nachfolger, sagte vorige Woche bei einem Besuch in Berlin, alle Aktivitäten des HFR lägen auf Eis. Karzai will nun mit Pakistan reden, dessen militärisches Establishment die Aufständischen unterstützt und weitgehend kontrolliert.

Doch sind die Taliban tatsächlich für den Mord am Chefunterhändler verantwortlich? Sind sie die eigentlichen Saboteure des Friedensprozesses?

Kampagne für weniger Opfer

Die Lage ist alles andere als eindeutig. Die Beweislage für eine Urheberschaft der Taliban an dem Mord ist dünn. Entgegen ihrer sonstigen Praxis übernahmen sie auch nicht die Verantwortung dafür, sondern erklärten, dass sie selbst den Tathergang untersuchten.

Die Schlussfolgerung, der Mord an Rabbani reflektiere die Ablehnung der gesamten Taliban, greift zu kurz. Aus Friedensprozessen in anderen Ländern ist bekannt, das Fortschritte stets Quertreiber auf den Plan rufen. Diese dürften im Falle Afghanistans vor allem im militärischen Establishment Pakistans zu suchen sein. Dort befürchtet man, eine Verhandlungsregelung an Islamabad vorbei könne zu einer Stärkung indischer Positionen in Afghanistan führen. Das aber will man unter allen Umständen verhindern. Das unübliche Schweigen der Taliban würde dazu passen: Sie vermieden es bisher stets, ihre Unterstützer in Pakistan militärisch oder auch nur verbal öffentlich anzugreifen. Möglicherweise ahnen – oder wissen – sie, dass der Geheimdienst ISI in den Mord verwickelt ist.

Es ist nicht so, dass die Taliban nie zu Verhandlungen bereit gewesen wären. Von je her existieren in der Bewegung unterschiedliche politische Positionen. Bis Ende 2008 machte sich eine Strömung bemerkbar, die eine Weiterführung des Krieges als schädlich erachtete. Die Taliban sind überwiegend eine lokal orientierte Bewegung, die nach 2001 zunächst aus Gruppen unterschiedlicher Motivation bestand und sich dann schrittweise ideologisierte und damit homogenisierte. Die Afghanen selbst bezeichnen solche Gruppen als majburi Taliban, als gezwungenermaßen Taliban Gewordene. Schätzungsweise 80 bis 90 Prozent der Talibankämpfer operieren in ihren unmittelbaren Heimatregionen; sie sind nicht an einer Zerstörung der Lebensgrundlagen ihrer Dörfer interessiert.

Solche gemäßigten Stimmen allerdings verstummten, als Präsident Barack Obama unmittelbar nach seiner Amtsübernahme Anfang 2009 – und in Fortsetzung Bush’scher Politik – eine erhebliche Truppenaufstockung anordnete, um den operativen Mittelbau der Taliban zu zerschlagen und sie so an den Verhandlungstisch zu zwingen. Hätte es einen klar abgegrenzten politischen Arm der Bewegung gegeben – so wie es die Sinn Fein für die IRA in Nordirland war – hätte diese Strategie vielleicht funktionieren können. Doch das Gegenteil geschah: Die Aufstockung wurde als Ausdruck fehlender US-Gesprächsbereitschaft interpretiert, viele Kämpfer schlossen sich der erneuten Eskalation an.

Wer mit den Taliban verhandeln will, muss mit Mullah Omar reden. Der ehemalige Staatschef ist als religiöser und politischer Führer der Taliban intern unumstritten ist. Als amir ul-momenin (Oberhaupt der Gläubigen) steht er noch über dem Führungsrat, besser als Quetta Schura bekannt. Seine Person und die islamische Ideologie sorgen vertikal für den organisatorischen Zusammenhalt der Bewegung, die seit ihrer Gründung 1994 keine nennenswerten Spaltungen erlebt hat und deren Führungspersonal – von Getöteten und Verhafteten abgesehen – erstaunliche Kontinuität aufweist, auch wenn für getötete Feldkommandeure oft jüngere Kader nachrücken, die in den Madrassas Pakistans und Afghanistans stärker radikalisiert worden sind als die ältere Generation.

Die NATO hat nicht verhindern können, dass unter der Führung der Quetta Schura eine Schattenregierung in Afghanistan entstanden ist. Die Taliban sind den ausländischen Truppen mit einer erstaunlichen Elastizität und Widerstandskraft begegnet. Diese gewinnen sie aus ihrem horizontalen Netzwerkscharakter. Die lokalen Fronten operieren weitgehend autonom. Die Führung lässt ihnen Raum und konzentriert sich auf die Durchsetzung der wichtigsten politischen Anliegen. In letzter Zeit gehört dazu eine Kampagne, die ihre Kämpfer zum Schutz von Lebens und Eigentums von Zivilisten verpflichtet. Nach wie vor nehmen die Taliban aber bei ihren Operationen und Anschlägen zivile Opfer in Kauf.

Dem Führungsrat unterstellt sind zahlreiche Komitees und Kommissionen, die die Führung einer Schattenverwaltung ­darstellen, die in vielen Gebieten in Afghanistan aktiv ist. Dazu gehören neben den Provinzgouverneuren auch Richter, Steuereintreiber und Registrare für Hilfsorganisationen. Auch Kliniken und Schulen werden inzwischen wieder von den Taliban geführt. Und sogar Mädchenschulen gibt es, vor allem dort, wo die örtliche Bevölkerung sich dafür einsetzt.

Bann unter Beschuss

Gerade weil die Taliban als Schattenregierung fungieren, haben sie unter öffentlichem Druck ihre Positionen modifiziert, die ihnen bis 2001 internationale Ächtung eintrugen. Ob sie allerdings ein pluralistisches, demokratisches Afghanistan akzeptieren würden, bleibt fraglich. Eine Sonderrolle spielt das Haqqani-Netzwerk, das aus dem pakistanischen Waziristan heraus vor allem in Südost-Afghanistan operiert. Offiziell ist es Teil der Taliban-Bewegung, aber seit dem Krieg gegen die sowjetische Okkupation in den 1980er Jahren ist es stärker mit dem ISI und arabischen Kämpfern verflochten als die Quetta-Schura-Taliban. Dem misstraut der ISI, da er sich bereits während seiner Regierungszeit in Kabul zwischen 1996 und 2001 als eigensinnig und pakistanischen Wünschen gegenüber nicht immer aufgeschlossen gezeigt hat.

In diesem Kontext kann man den Mord an Rabbani auch als Versuch lesen, Kontakte zur Quetta-Schura zu sabotieren. Zwischen September 2009 und Mai 2011 hatte der deutsche Unterhändler Michael Steiner, mit Hilfe Qatars, Gespräche mit dem früheren Bürochef Mullah Omars geführt. Später wurden auch die USA einbezogen. Dabei handelte es sich allerdings erst um Sondierungen der Zukunftsvorstellungen der Taliban, noch nicht um substanzielle Verhandlungen.

Klar ist, dass die Taliban vertrauensbildende Maßnahmen verlangen, bevor sie substanziellen Verhandlungen zustimmen. Dazu gehört etwa die Streichung ihrer Anführer von der UN-Sanktionsliste. Im Falle der in Kabul lebenden und im HFR mitarbeitenden Gruppe um Mudschahed ist das bereits geschehen. Alle aktiven Talibanführer hingegen sind weiterhin gebannt.

Dass die Taliban bei der Bonner Konferenz am 5. Dezember auftauchen oder zumindest aus diesen Anlass ihre Bereitschaft zu einer friedlichen Regelung erklären, ist nun kaum noch zu erwarten. Auch Pakistan hat abgesagt, seitdem am vorigen Wochenende beim NATO-Beschuss eines afghanischen Grenzpostens 24 pakistanische Soldaten getötet worden sind. Das bedeutet aber nicht, dass es generell aussichtslos ist, eine friedliche Lösung weiter anzustreben. Denn klar ist inzwischen: Eine militärische Lösung des „Taliban-Problems“ ist gescheitert.


(Foto [M]: T. Dworzak Collection/ Magnum Photos/ Agentur Focus)

Thomas Ruttig ist Ko-Direktor des unabhängigen Afghanistan Analysts Network in Kabul und Berlin (aan-afghanistan.org)

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