Man ist sich mal wieder einig. Auch über Grenzen hinweg. Nein, das schöne Gesicht des Sozialismus, das kennt hier niemand. Nicht die deutschen Jugendlichen und erst recht nicht die französischen. Wer ist denn bloß diese Katarina Witt?
Und die nächste, sich unweigerlich anschließende Frage: Muss man das wissen? Ja, muss man wohl. Zumindest dann, wenn man rauskriegen will, was es bedeuten mag, was der junge Mann da in dem Videoclip singt, der auf einem Laptop-Bildschirm läuft. „Wir sind sehr stolz auf Katarina Witt“, singt er, während er die von schwarzem Kajal umrandeten Augen rollt. Die Band nennt sich Sandow, der Song heißt „Born in the GDR“ und er war ein ironisches Loblied auf ein Land, das bald darauf nicht mehr existieren sollte.
Ein unbekannter Kontinent
Es ist ein weitgehend unbekannter Kontinent, zu dessen Erforschung 26 Jugendliche aus Frankreich und Deutschland zusammen gekommen sind in der Internationalen Jugendbildungsstätte Blossin. Hier, im idyllischen Brandenburg, sollen sie auf Einladung des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) unter dem Titel „Störung Ost – Musik und Jugendkultur jenseits des Offiziellen“ erkunden, was ihre Altersgenossen umtrieb vor mehr als 20 Jahren in einem Staat, den es heute nicht mehr gibt.
Dazu hat die Seminarleitung in Blossin Material zusammen getragen: Alte Amiga-Schallplatten, Bücher über Ostpunk, 20 Jahre alte Ausgaben deutscher und französischer Magazine, DVDs wie Damals in der DDR oder die 1988 entstandene Dokumentation Flüstern Schreien. Aber es wird, bei der anwesenden Klientel selbstverständlich, dann doch vor allem das Internet genutzt: Dort findet man zuerst Sandow und nur zwei Mausklicks weiter einen Clip mit Katarina Witts Olympia-Kür. Aber auch eine Aufnahme von „Auferstanden aus Ruinen“: Dass die von Hanns Eisler komponierte Hymne des Arbeiter- und Bauernstaates seit den siebziger Jahren lieber ohne Gesang aufgeführt wurde, anstatt den von Johannes R. Becher in den Text geschriebenen Glauben an ein „Deutschland einig Vaterland“ in den grauen Alltag hinauszuflöten, ist eine der seltsamen Entdeckungen. „Was habt Ihr denn dann gemacht?“, fragt einer der Franzosen verwundert. „Habt Ihr mitgesummt?“
Das Seminar ist nur eines von sieben an verschiedenen ostdeutschen Orten, mit denen das DFJW versucht, die Wendezeit und die DDR einer Generation nahe zu bringen, die zu jung ist, um sie noch selbst erinnern zu können. Die jüngsten Teilnehmer der drei Tage von Blossin sind 16 Jahre alt, die ältesten 27. Gemeinsam haben sie vor allem eins: Kaum eine Ahnung von der DDR.
„Die wissen nichts“, sagt Seminarleiter Ralph Meisel. „Das spielt in den Familien anscheinend keine Rolle“. Jedenfalls in westdeutschen Familien, denn kein einziger Jugendlicher aus dem Osten Deutschlands hat sich für das Seminar beworben. Zwischen den jungen Westdeutschen und ihren französischen Nachbarn aber gibt es keine nennenswerten Unterschiede: „Dieselben Fragen, dieselben Entdeckungen“, so Meisel, „für die Deutschen, und das ist auch für mich frappierend, ist das alles genauso neu wie für die Franzosen.“ Eine Einschätzung, die auch von den jungen Leuten selbst geteilt wird. Bei nahezu allen ist „das Vorwissen relativ niedrig“, sagt Florian Pfeifer. „Wir sind einfach zu jung, wir haben gar keinen Bezug mehr.“
Die ewig gleichen Bilder
Das zu ändern, dafür ist auch Kai-Uwe Kohlschmidt zuständig. Der Musiker erfüllt eine Doppelrolle in Blossin: Er gehört zum Seminarteam, soll einen Teil der Gruppe anleiten, ein Radio-Feature zu entwickeln. Er ist zugleich aber Zeitzeuge, denn Kohlschmidt hat einst „Born in the GDR“ geschrieben und gesungen, er ist der junge Mann mit den dunkel geschminkten Augen aus dem Videoclip. Heute trägt er am liebsten schwarzes Leder, um die Augen keinen Kajal mehr. „Das Basiswissen über die DDR stammt allein aus dem ewig gleichen Fernsehbildern“, versucht er zu erklären, warum die deutschen Jugendlichen ähnlich wenig wissen wie ihre französischen Altersgenossen. „Flüchtende Massen, Mauerfall, grimmige Grenzer und immer wieder Stasi, Stasi, Stasi“.
Tatsächlich waren Jenny Maffenbeier, 16, und Ursula Textor, 17, erstaunt zu erfahren, dass nicht alle 17 Millionen DDR-Bürger einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Die beständig wiederkehrenden Bilder von Schneejeansträgern, die über Botschaftszäune klettern, haben auch bei den beiden Schülerinnen aus Rheinland-Pfalz den Eindruck verfestigt, ein ganzes Land hätte Fluchtpläne geschmiedet. „Uns war nicht klar, dass viele gar nicht aus der DDR raus wollten“, sagt Maffenbeier. Und Textor ist erstaunt, „dass es im Untergrund so eine große Vielfalt gab. Ich hatte mir die DDR strenger vorgestellt.“
Musiker Kohlschmidt ist klar, dass die jungen Menschen heute nur schwer nachvollziehen können, was für ein Schock es war, als nach dem Mauerfall Illusionen zerstört wurden. „Stellt Euch vor, ihr wollt zum Mond“, erzählt er an einem runden Tisch mit Zeitzeugen und den jugendlichen Zuhörern, „theoretisch ist es zwar möglich, aber praktisch eigentlich nicht. Doch plötzlich fällt die Mauer, könnt Ihr reisen zum Mond und stellt fest: Der Mond ist auch nur ein öder Haufen Steine. Es ist ein sehr seltsames Gefühl, dieses Mond-Gefühl.“
Sich anders ausdrücken
Dass während der Reise zum Mond bisweilen eine erstaunliche Kreativität freigesetzt worden ist, begeistert Adrien Michon. Der Student der Stadtplanung kam aus Lyon nach Blossin, ohne viel mehr zu wissen, als „dass es Punk und einen Underground in der DDR gab“. Nun findet er vor allem interessant, dass gerade unter repressiven Bedingungen spannende Musik entstehen konnte, die Motivationen damals wie heute aber so unterschiedlich gar nicht sind: „Es geht immer darum, sich anders auszudrücken, der Konformität einen individuellen Ausdruck entgegen zu stellen.“
Solche Erkenntnisse sind es, die Kohlschmidt vermitteln will. Er wird nicht müde, über ein untergegangenes Land zu reden, auch weil er dem etwas entgegen setzen will, was er „eine neo-ideologische Maschinerie“ nennt. Die vermittele ein extrem verkürztes Bild der DDR und der Wendezeit, und „sendet pausenlos in die Köpfe der jungen Leute, dass eine Revolution eine friedliche zu sein hat“. Das alles mit der Absicht, zu verhindern, dass „die Ideen des Marxismus-Leninismus noch einmal neu untersucht werden“.
Ganz so ideologisch sehen Adrien Michon und seine neu gefundenen Freunde ihre gemeinsame Forschungsreise nicht. Die letzten Zeilen der DDR-Hymne summen sie nicht, sie singen sie mit: „Und die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint.“ Ihr Interesse, so scheint es, ist und bleibt Ironie geschwängert.
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