Die Lebenserwartung der Menschen steigt, vor allem in unseren Breiten. Viele organische Krankheiten gelten als vollkommen oder weitgehend besiegt, so etwa die Pocken und die Pest, schreckliche Heimsuchungen früherer Zeiten. Bei koronarer Herzkrankheit helfen Bypass und Stent sowie eine Fülle von Arzneimitteln; auch die sündhaft teuren Mittel gegen AIDS kann man sich hierzulande leisten. Das Spektrum des Leidens verschiebt sich indes immer mehr in den seelischen Bereich: Depressionen gelten, wie Christof Goddemeier kürzlich ausführte, heute als "Volkskrankheit Nummer eins" (vgl. Freitag 50/ 2006), und wer nicht von einem Burn-Out-Syndrom niedergedrückt wird, hat sich damit schon fast als Faulenzer geoutet.
Wann gilt ein Mensch als gesund?
Doch es gibt ja, zum Glück, immer noch Menschen, die sich an Leib und Seele nicht nur gesund fühlen, sondern sogar als tatsächlich gesund gelten dürfen - jedenfalls über einen längeren Zeitraum hinweg (man kann ja auch gesund sterben). Wie schaffen sie das? Diese Frage ist ganz offensichtlich nicht zu beantworten ohne ein halbwegs solides Verständnis dessen, was "gesund" bedeutet. Es scheint also nötig, den Begriff "Gesundheit" zu hinterfragen.
Wann also darf ein Mensch als gesund gelten? Allem Anschein nach dann, wenn er in der Lage ist, eine Situation erfolgreich zu bewältigen, die seine leiblich-seelische Integrität bedrohen könnte. Eine bedrohliche Lage dieser Art nennen Mediziner eine "Exposition". Soll heißen, dass man einem "Etwas" ausgesetzt ist (man ist "exponiert"), das aller Erfahrung nach schädlich wirkt. Das trifft nun auf ganz verschiedene Einwirkungen zu: Auf chemische Stoffe (z.B. Schwermetalle) und auf Mikroorganismen (z. B. den Pesterreger, das Bakterium Yersinia pestis) ebenso aber auch auf Hitze oder Röntgenstrahlen. Aber auch traumatische Erfahrungen (Misshandlung, Krieg, Naturkatastrophen), dauernde soziale Zurückweisung oder nur notdürftig bewältigte innere Konflikte können in psychophysisches Leid münden. Zusammengefasst: Gefahr für unsere Gesundheit kann uns durch Stoffe, durch Energie und ebenso gut durch Desinformation drohen.
Dennoch gibt es - wie schon erwähnt - auch Menschen, die trotz allem imstande sind und auch unter widrigen Umständen imstande bleiben, sich selbst trotz "Exposition" gesund zu erhalten. Wichtig: Es handelt sich dabei um einen aktiven Vorgang: Wie immer "Gesundheit" definiert wird - sie ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Sie ist also "nur da vorhanden, wo sie ständig erzeugt wird". Dieser Satz stammt von einem der "Gründervater" der psychosomatischen Medizin in Deutschland, von Viktor von Weizsäcker - gestorben vor rund 50 Jahren, am 9. Januar 1957.
Umgekehrt gibt es aber auch eine Überlastung der uns gesund erhaltenden "Abwehrkräfte". Daran können die schieren Dimensionen der Gefährdung schuld sein: am Ground zero, am Bodennullpunkt einer Atombombenexplosion überlebt niemand. Ursache kann aber auch eine geringe individuelle Widerstandfähigkeit sein - oder, anders herum betrachtet, eine hohe persönliche Verletzlichkeit (medizinisch: "Suszeptibilität"). Schädlicher Umwelteinfluss plus unzureichende innere Widerstandskraft: darauf reagiert der Organismus zunächst mit einer Funktionsstörung. Die wiederum kann, je nach Intensität und Dauer der Einwirkung, in einen Strukturschaden münden. Beides - Funktionsstörung wie Strukturschaden - wird in der Medizin als "Krankheit" beschrieben, ohne dass eine trennscharfe Definition möglich wäre.
Krankheit ist Mangel an Widerstandskraft
Nun drängt sich folgende Frage auf: Worin besteht denn jene "Widerstandskraft", die es dem Organismus so oft ermöglicht, sich trotz widriger Umstände aktiv gesund zu erhalten? Wie kommt sie zustande? Lässt sie sich stärken oder gar trainieren? Wie sehr diese Themen auch unser Alltagsleben berühren, ist offensichtlich.
Heute sind viele Mediziner und Psychologen davon überzeugt, dass die Fähigkeit, sich gesund zu erhalten, auf Widerstandsressourcen beruht, die im Salutogenese-Konzept des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky eingehend erforscht worden sind. Freilich hat dieses originelle, mittlerweile auch gut begründete Konzept bisher weder in die Organmedizin, noch in die verschiedenen Spielarten der Psychotherapie Eingang finden können. Im Gegenteil, die Gedanken Antonovskys und seiner diversen Nachfolger sind bis heute weitgehend unbekannt und leider auch ungenutzt geblieben.
Antonovsky, 1923 in den USA geboren, später nach Israel ausgewandert und 1994 gestorben, hat die Grundlagen seiner Theorie schon in den siebziger Jahren veröffentlicht. Schon in seinem ersten Buch Health, stress and coping (Gesundheit, Stress und Bewältigung, 1979) hat er bündig festgestellt: "Menschen mit einem Mangel an Widerstandsressourcen erkranken". In einer präziseren Ausarbeitung seines Konzeptes (How people manage stress an stay well, 1981, deutsch unter dem Titel Salutogenese, 1997) hat er dann einen "Sense of Coherence" (= SOC) als entscheidende derartige Widerstandsressource beschrieben. In Antonovskys eigenen Worten, einem Vortrag von 1993 entnommen, geht es dabei "um eine globale Orientierung, in der sich das Maß an intensivem, konstantem und zugleich dynamischem Vertrauen darauf widerspiegelt, dass erstens die Anforderungen unserer inneren und äußeren Umwelt strukturiert, erklärbar und vorhersagbar sind, und dass zweitens all die Mittel verfügbar sind, die wir brauchen, um diesen Anforderungen gerecht zu werden. Und drittens darauf, dass diese Anforderungen für uns Herausforderungen sind, die unseren Einsatz und unser Engagement verdienen".
Schematisch zusammengefasst, besteht das "Kohärenzgefühl" (diese Übersetzung hat sich im Deutschen eingebürgert) aus einer - unbewussten und schon früh gelernten - Lebensstrategie mit drei Dimensionen: dem Vertrauen darauf, dass die Ereignisse des Lebens - im Prinzip - vorhersehbar und erklärbar sind, dass die Schwierigkeiten des Lebens - im Prinzip - gemeistert werden können, und dem Gefühl, dass diese Welt es wert ist, sich aktiv in ihr zu engagieren.
Antonovskys Hypothesen werden mittlerweile durch eine Fülle von Untersuchungen gestützt und belegt. So hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung schon vor acht Jahren einen ausführlichen Sachstandsbericht veröffentlicht. Dieser Report betont ausdrücklich, wie gut sich das - empirisch mit einem speziellen SOC-Fragebogen gemessene - Kohärenzgefühl bei der Erfassung psychischer Gesundheit bewährt hat.
Zum selben Ergebnis kommen auch mehrere Studien der Stadt München, so dass die Brauchbarkeit des SOC-Instrumentariums heute als weitgehend anerkannt gelten kann. Astrid Meckel-Haupt hat 2001 an der Universität Düsseldorf über den deutschsprachigen SOC-Fragebogen promoviert; sie kam zu dem Ergebnis, dass dieser Fragebogen (der 29 Items beinhaltet), vor allem für jene Befragten signifikant positive Werte liefert, die in der Lage sind, "Vorhersagbarkeit, Planbarkeit und Konstanz als Qualitäten ihres Lebens zu benennen. Es sind Menschen mit guter Intuition, die in ungewohnten Situationen ausreichend gute Entscheidungen treffen und adäquates Verhalten an den Tag legen können. Sie sind in ihren Entscheidungen sicher, mit der Fähigkeit zu innerer Sammlung, Zentriertheit, Konzentration und Fokussierung auf das Wesentliche. Probanden, die über Gelassenheit verfügen, zeigen hohe Werte. Sie können aus der Verbundenheit mit einer höheren Macht, z.B. Religion, oder auch mit gesundem Urvertrauen in die eigenen Fähigkeiten ihr Leben leben und mit ihrem Schicksal umgehen".
Vertrauen schafft Kohärenz
Der an den erwähnten Münchner Studien mitbeteiligte Sozialpsychiater Heiner Keupp hat vor allem den Zusammenhang zwischen Kohärenzgefühl und dem - gegenläufigen - Gefühl der chronischen Demoralisierung ("Ist doch sowieso alles egal") etwa bei Langzeitarbeitslosen beschrieben: "Bei unserer Untersuchung zeigte sich deutlich die umgekehrte Relation zwischen Kohärenzgefühl und Demoralisierung: Je ausgeprägter das Demoralisierungsgefühl vorhanden ist, desto geringer ist das Kohärenzgefühl entwickelt". Dass also gerade ein starker "Sense of Coherence" vor Demoralisierung schützt, darf mit guten Gründen vermutet werden.
Was folgt nun aus alledem? Zum ersten, dass sich der auf "Pathogenese" - die Entstehung von Krankheit - ausgerichtete Blickwinkel der Medizin als eine allzu stark eingeschränkte Perspektive erwiesen hat. Die Erforschung der Pathogenese ist und bleibt notwendig, aber ganz gewiss kann sie nicht hinreichend sein. Die Frage, was uns gesund erhält, tritt ihr gleichberechtigt zur Seite. Leider ist sie derzeit wenig geeignet, um sich im "Jahrmarkt der Eitelkeiten" Forschungsgelder und Lehrstühle zu verschaffen - aber das steht auf einem anderen Blatt. Und zweitens: Zwar lässt sich aus dem salutogenetischen Ansatz keine neue medizinische oder psychotherapeutische "Schule" ableiten (und ich möchte anfügen: zum Glück!), aber gerade deshalb kann sich jede Therapie dafür interessieren, indem sie nicht mehr allein die Probleme und Defizite, sondern auch die Ressourcen des Patienten betrachtet. Dazu gehört im Übrigen auch eine befriedigende Beziehung zwischen Arzt und Patient - sie wirkt bestärkend, während Kontaktprobleme den Patienten enttäuschen und er auf Dauer demoralisiert auf sich selbst zurückgeworfen wird.
Und noch ein anderes Faktum gilt es zu berücksichtigen: Das Kohärenzgefühl entsteht früh. Gerade neuere Forschungen haben deutlich machen können, dass wir ein starkes, die Gesundheit erhaltendes Kohärenzgefühl als Ergebnis einer störungsarmen frühkindlichen Entwicklung betrachten können. Und es ist plausibel, dieses Kohärenzgefühl gerade dann für stark entwickelt zu halten, wenn die kindliche Entwicklung insgesamt als stimmig und geprägt von sicheren Bindungen erfahren wird. Kurz und bündig formuliert: Das Kohärenzgefühl, die wichtigste unserer Widerstandsressourcen, ist das Produkt einer kohärenten Entwicklung.
Der Verfasser ist Arzt und arbeitet an einer psychosomatischen Fachklinik in Baden-Württemberg. Zuletzt erschien von ihm Lebenskünstler leben länger (Militzke-Verlag, 2004)
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