Der Chefredakteur der Zeitschrift Psychologie heute, Heiko Ernst, hat anno 2008 seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert - und im selben Jahr sein Buch Weitergeben! veröffentlicht, das er eine Anstiftung zum generativen Leben nennt. Ein Zufall ist dieses Zusammentreffen wohl kaum, schildert Ernst doch ausführlich und mit viel Humor die Stimmungslage seiner eigenen Generation ("Eine Generation kommt in die Jahre", hat er denn auch sein erstes Kapitel überschrieben), die jetzt den "Nachmittag des Daseins" erlebt und nicht mehr verleugnen kann, dass ihr bald der Abend dämmern wird. Aber eben das ist möglicherweise eine recht unbehagliche Situation für Menschen, die mit Jeans und Turnschuhen durchs Leben gegangen sind, eventuell sogar den Ministereid geschworen haben wie einstmals Joseph "Joschka" Fischer.
Alt werden? Wir doch nicht! "Noch ungläubig starrt die erste Nachkriegsgeneration auf die sichtbaren Zeichen ihres Alterns", schreibt Ernst, und mit milder Ironie schildert er die verschiedenen Versuche, mit dieser fatalen Lage fertig zu werden: "Nabelschau und Selbstbespiegelung sind ein durchgängiger Habitus dieser Generation. Also muss auch das unerhörte, einmalige Erlebnis des eigenen Alters ausgiebig bearbeitet, beschrieben und besprochen werden." Generativität, wie sie Heiko Ernst versteht, bildet den Gegenpol zu dieser Selbstbezüglichkeit: "Nur das Engagement für das Leben anderer, vor allem für das der zukünftigen Generation, schützt vor dem Abgleiten in Leere und Selbstzentrierung."
Leider kommt Heiko Ernst in seinem lesenswerten Buch nur sehr kursorisch auf die Schwierigkeiten zu sprechen, die gerade die Gegenwartsgesellschaft der von ihm geschilderten Generativität in den Weg legt. Da ist zum Beispiel das sich immer schneller und in exponentiell wachsender Menge anhäufende "Allgemeinwissen". Der sich rasant vermehrende Bestand an Kenntnissen, Überlieferungen, Traditionen, Weltbildern etc. entfernt sich mehr und mehr von der Aneignungskapazität unseres begrenzten Lebensspielraums. Diese ständige Entwertung des überkommenen Wissens schlägt tendenziell um in eine Entwertung der Person des (Nicht-mehr-) Wissenden. In früheren Zeiten, insbesondere in schriftlosen Kulturen, waren alte Menschen als wandelnde Datenbanken, als lebendige Lexika geschätzt und gefragt.
Heute ist der alternde Mensch von der Aura der Lächerlichkeit bedroht, weil er mit der Anhäufung neuen Wissens nicht mehr Schritt hält, die gerade "angesagten" Trends nicht kennt, die neuesten Einzelheiten aus der kommerzialisierten Medienwelt nicht weiß. Dabeisein ist alles - was soll ein Mensch, der abseits steht, denen, die nach ihm kommen, schon weitergeben? Wo kann er sich nützlich machen, wenn seine Kenntnisse und Fähigkeiten als "megaout" gelten. Vielleicht sind die 60- und 70-Jährigen von heute eher "gefühlte" als wirkliche Außenseiter, aber dass sie immer öfter die Lust verlieren, sich den anderen mit einer Weltsicht aufzudrängen, die als "total von gestern" gilt, wird man ihnen wohl kaum verübeln können.
Ich möchte in diesem Artikel aber vor allem auf ein zweites Problem aufmerksam machen, über das so gut wie nie öffentlich diskutiert wird, obwohl es eine schwere Hypothek für die Zukunft birgt. Betrachtet man Sozialstruktur, Altersverteilung und die Entwicklung der Lebenserwartung, so lässt sich ohne große Mühe prophezeien, dass schon in naher Zukunft eine wachsende Zahl 70- oder gar 80-jähriger Menschen für ihre 90- oder 100-jährigen Eltern wird sorgen müssen, was unter Umständen einen erheblichen zeitlichen, aber auch finanziellen Aufwand bedeutet. Die Generation der Erwachsenen gerät somit in eine unauflösliche Zwickmühle: Kaum sind die Kinder - falls vorhanden - aus dem Haus und einigermaßen versorgt, also in der Zeit um den eigenen 50. Geburtstag, gilt es, für eine möglicherweise noch erheblich längere Zeit die Fürsorge für die eigenen Eltern zu übernehmen. Der Zeitraum eigener Selbständigkeit und Unabhängigkeit wird damit immer geringer, verglichen mit der Fülle der Jahre, die man für andere Menschen - die Kinder, die Eltern - Sorge zu tragen hat.
Eine solche Situation hat es in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben: Sie ist radikal neu, und wir sind in keiner Weise seelisch auf sie vorbereitet. Was den Umgang mit Kindern betrifft, so verfügen wir über ein reiches Inventar an kulturell, aber von der Evolution des Lebens (und von vielen tausend Generationen steinzeitlichen Lebens) geprägten, stark verinnerlichten Verhaltenstendenzen und -optionen. Mit der Notwendigkeit, die gebrechlichen und hinfälligen eigenen Eltern zu versorgen - und das möglicherweise für 20 oder noch mehr Jahre! - verhält es sich vollkommen anders: es gibt weder stammesgeschichtliches Erbe noch kulturelle Traditionen, die uns auf diese neue Herausforderung vorbereiten könnten. In meiner psychotherapeutischen Alltagsarbeit ist indes schon heute deutlich spürbar, wie dieses Thema allmählich immer mehr Raum beansprucht - weil es Ängste, Sorgen und andere seelische Nöte nach sich zieht.
Die moderne Industriegesellschaft - auf die Gegenwart fixiert und daran gewöhnt, die Kosten ihres aktuellen Tuns und Lassens künftigen Generationen aufzubürden - ignoriert dieses Problem, exkommuniziert es, erklärt es stillschweigend zum Tabu. Aber die Nachdenklicheren unter uns sollten sich davon nicht beirren lassen - und eine Debatte über das, was uns schon in nächster Zukunft ins Haus steht, erzwingen. Wohlfeile und schnelle Antworten wird es dabei gewiss nicht geben. Aber das spricht für die Notwendigkeit des Diskutierens - und keineswegs dagegen.
Heiko Ernst Weitergeben! Anstiftung zum generativen Leben. Hamburg, Hoffmann und Campe 2008, 256 Seiten
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