Eingangs kurz zu meinem Interesse am Thema: Ich komme von der Friedens- und Ökologie-Bewegung, und für die spielt seit der Umweltkonferenz von Rio 1992 der Begriff „Nachhaltigkeit“ eine große Rolle. Das Wort stammt ja aus der Forstwirtschaft und besagt, dass nicht mehr verbraucht werden soll, als wieder nachwachsen kann. Das Gegenteil der Nachhaltigkeit ist Raubbau – gut erkennbar an unserem Umgang mit fossilen Brennstoffen. Die Menschheit verfeuert heute pro Jahr etwa so viel an Erdöl, Erdgas und Kohle, wie erdgeschichtlich in einer Million Jahre entstanden ist.
Seit 2004 wieder ärztlich tätig habe ich mich der Psychosomatik zugewandt. Im Klinikalltag stieß ich wieder auf den selben Begriff – die Nachhaltigkeit. Ich lernte, dass in unserer Gesellschaft zwar begonnen worden ist, Energieumsatz und Rohstoffverbrauch nachhaltig zu organisieren. Die Ergebnisse dieser Bemühungen sind noch nicht befriedigend, aber es ist eine klare Richtung vorgegeben – zum Beispiel der Einsatz erneuerbarer Energien.
Keinerlei Nachhaltigkeit herrscht indes bei der Nutzung des „Humankapitals“, des „Faktor Arbeit“. Brutal, aber treffend ausgedrückt: Das „Menschenmaterial“, die Ware Arbeitskraft, wird derzeit derart so erbarmungslos „verbrannt“ wie kein anderer Rohstoff.
Dass dies auch zu massiven seelischen Problemen führt, ist offensichtlich. Jedes Jahr veröffentlichen die Krankenkassen Berichte, die zeigen, dass sowohl die Zahl der Fehltage am Arbeitsplatz wie auch Dauer und Häufigkeit der Krankenhausaufenthalte infolge seelischer Störungen massiv zunehmen. Es sind vor allem Depressionen und Burn-out-Zustände, die epidemieartig um sich greifen. Zu letzteren eine kurze Anmerkung: Der Begriff „Burn-out“ (also „Ausbrennen“) stammt von dem 1926 in Frankfurt a. M. geborenen, vor den Nazis in die USA geflüchteten Psychotherapeuten Herbert Freudenberger (gestorben 1999). Dieser Arzt beschrieb damit im Jahr 1974 in erster Linie und sehr selbstkritisch seine eigene Überforderung und Erschöpfung. Freudenberger, der täglich von 8 bis 18 Uhr in seiner eigenen Praxis arbeitete und danach mehrfach die Woche bis spät in die Nacht ehrenamtlich in einer Klinik für Drogenabhängige und Obdachlose, prägte damals den klassischen Satz: „Je müder ich wurde, desto mehr trieb ich mich an“. Der New Yorker Psychotherapeut erkannte sehr genau, dass gerade engagierte, sich um das Gemeinwohl kümmernde Menschen gefährdet sind, die eigenen Kraftreserven raubbauartig aufzubrauchen. Originalton: „Genau wegen dieses Engagements tappen wir in die Burn-out-Falle. Wir arbeiten zu viel, zu lange und zu intensiv. Wir fühlen einen inneren Druck, zu arbeiten und zu helfen, und wir fühlen einen Druck von außen, zu geben.“
So weit der Verweis auf einen weitgehend vergessenen Emigranten und seine ideengeschichtliche Bedeutung. Nun zu den Ursachen des um sich greifenden seelischen Leids: Da ist erstens die Beschleunigung aller sozialen Abläufe. Mobilität – Zauberformel der Epoche – bedeutet ja, dass immer mehr Handlungen und Handlungsoptionen in immer kleinere Zeiteinheiten gepackt werden. Die Folge davon sind Eile, Hektik, aber auch dauernder Entscheidungsdruck – und die Angst, das wirklich Wichtige zu versäumen. Zweitens: Das Grundrauschen der Industriezivilisation, die Menge der Sinneseindrücke und Informationen, die sekündlich auf uns einströmen, hat exponentiell zugenommen und verlangt uns immer öfter ein so genanntes „Multitasking“ ab, zu Deutsch: mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen, was in der Regel bedeutet, eines davon nicht gut zu bewältigen (die Zunahme der Flüchtigkeitsfehler ist noch eine der eher harmlosen Konsequenzen). Und drittens: Es wächst die Zahl der Synchronisationsleistungen, die wir erbringen müssen, um am Leben überhaupt teilnehmen zu können – Terminkalender führen, SMS beantworten, Formulare ausfüllen usw. usf. Die Vielzahl dieser Leistungen – mit denen ja kein Euro verdient, kein Wert geschaffen wird, sie sind schlicht und einfach nötig, um im Mainstream mitzuschwimmen – entspricht der Überfülle der alltäglichen Gebote, die erfüllt werden müssen, um sich alltagspraktisch „richtig“ zu verhalten (etwa die Notwendigkeit, sich eine endlose Menge von Geheimzahlen, PIN-Nummern und Passwörtern merken zu müssen), den vielen Forderungen, die aus dem Zwang zur Meisterung des Alltagslebens entspringen und den unnachlasslichen Pflichten, uns in einer oft genau definierbaren Art zu benehmen, wenn wir uns einer bestimmten Kultur oder Subkultur zugehörig fühlen wollen.
All das macht müde, erschöpft, unzufrieden. Aber noch mehr: Gerade bei den sensibleren Naturen entsteht oft ein Gefühl der inneren Leere, der Sinnlosigkeit, aber auch jener Ich-Abwertung, die oft den ersten Schritt auf dem Weg in die klinische Depression bildet.
Es gäbe also für einen sozialpolitisch engagierten Gesetzgeber übergenug Anlass, auf dem Feld der an Häufigkeit und Schwere zunehmenden seelischen Erkrankungen tätig zu werden – am besten im Sinne einer vorbeugenden Schadensvermeidung (= Prävention), das heißt bei der Verhinderung einer Überbeanspruchung unseres Zentralnervensystems und des in ihm beheimateten Ensembles von Regulationsvorgängen, die man „Seelenleben“ nennt. Das genaue Gegenteil eines solchen sozial verpflichteten, sozialmedizinischen Handelns kann man freilich im aktuellen Entwurf zum neuen bayerischen „Psychiatriegesetz“ erkennen. Hier geht es nicht darum, den Ursachen seelischen Leidens vorzubeugen, sondern um das Ziel, diese polizeistaatartig unter die Kontrolle der Obrigkeit zu zwingen (mit der kafkaesken Wendung „In der Strafkolonie“ haben die Kollegen der FAZ dieses Bemühen charakterisiert). Aber vielleicht zeitigt auch dieses Bürokraten-Monster am Ende etwas Gutes: Wenn aus der Abwehr des Versuchs zur obrigkeitsstaatlichen Verwaltung seelischen Leides eine Diskussion darüber erwächst, wie eben dieses Leid am besten vorbeugend verhindert werden könnte.
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