Während der Börsengang der Deutschen Bahn (DB) hiesigen Verkehrspolitikern als letzter Ausweg gilt, das Unternehmen in die schwarzen Zahlen zu führen, lässt sich in der Schweiz beobachten, wie eine staatlich organisierte Bahn gewinnbringend im Interesse der Allgemeinheit betrieben werden kann. Die Schweizerische Bundesbahn (SBB) erwirtschaftet trotz kostspieliger Trassenbauten seit Jahren Gewinne im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich, allein die Jahresbilanz 2005 wurde von Sondereffekten getrübt. Dennoch transportierte die SBB erneut mehr Menschen und Güter als je zuvor in der 102-jährigen Unternehmensgeschichte. Drei von vier Kunden erklären sich mit dem Service wie auch den Fahrplanangeboten zufrieden.
Durchschnittlich kommt jeder Schweizer auf 47 Bahnfahrten pro Jahr und 2.000 gefahrene Kilometer. Damit zählen die Bewohner der Alpenrepublik gemeinsam mit den Japanern zu den weltweit eifrigsten Bahnfahrern - auch dank eines Preissystems, das durch Schlichtheit überzeugt. Die Schweizer Bahnkunden kennen keinen Tarifdschungel à la DB, der Fahrgäste und Bedienstete zwingt, zeitraubende Recherchen nach der preiswertesten Variante anzustellen. "Frühbucher-Tarife", die an einen bestimmten Zug binden, wie sie von der DB-Führung beispielsweise mit dem Sparpreis 25 oder dem Sparpreis 50 aufgestellt wurden, sind in der Alpenrepublik unbekannt. Der Leiter des Bereichs Personenverkehr bei der SBB, Paul Blumenthal, verdeutlicht, weshalb dies auf absehbare Zeit so bleiben wird: "Einen Kunden zu zwingen, einen bestimmten Zug zu buchen, wäre eine Pervertierung des Systems."
Wer in ländlicher Gegend einen Zug verpasst, muss meist nicht lange auf den nächsten warten, denn der Regional- und Nahverkehr wird kontinuierlich ausgebaut. Der Kunde dankt es und nutzt das Angebot - mittlerweile sind beinahe alle Kantonshauptorte im Stunden- oder Halbstundentakt zu erreichen. Und obwohl das Schweizer Bahnsystem europaweit die höchste Auslastung vorweisen kann, erreichen 95 Prozent der Reisezüge mit einer Abweichung von weniger als vier Minuten ihr Ziel. Die aufwändig instandgehaltenen Bahnhöfe bilden ein engmaschiges Netz und sorgen auch in entlegenen Regionen für ein hohes Fahrgastaufkommen.
"Es gibt nichts Traurigeres als einen sterbenden Bahnhof", schreibt die Schweizer Erzählerin Anne Cuneo in einer Kurzgeschichte. Die meisten ihrer Landsleute scheinen diese Ansicht zu teilen, denn bei diversen Referenden haben sie sich immer wieder für den Aus- und Neubau von Stationen entschieden. Auch für Güterbahnhöfe gibt es frühzeitig Geld - sie sind Knotenpunkte einer Infrastruktur, die etwa 2.500 Unternehmen nutzen.
Nicht zuletzt ist es dem schweizerischen Straßenverkehrsgesetz zu danken, wenn die Bahn für den Warenverkehr in Betracht kommt, schließlich beschränkt es das Höchstgewicht für Lastwagen auf 28 Bruttotonnen und erhebt ab 3,5 Tonnen eine Mautgebühr von umgerechnet 45 Cent pro gefahrenen Kilometer. Im Vergleich dazu wirkt die verspätet in der Bundesrepublik eingeführte LKW-Maut fast geschenkt.
Anders als im Autofahrerland Nr. 1, wo die Bahn immer wieder Anlass für Beschwerden bietet, wird der Schienenverkehr in der Schweiz geschätzt und genutzt, wovon neben der SBB auch kommunale und kantonale Bahngesellschaften profitieren: Jährlich abonnieren mehr als zwei Millionen Schweizer die Halbtax, die analog zur Bahncard 50 den halben Fahrpreis gewährt, jedoch weniger als 100 Euro (DB: 206 Euro) kostet. Gemessen an der Bevölkerungszahl werden in der Schweiz mehr als zehnmal so viele Bahncards verkauft wie in Deutschland, so dass mehr Halbtax-Karten im Umlauf sind, als es zugelassene Kraftfahrzeuge gibt. Darüber hinaus besitzen 250.000 Schweizer ein Generalabonnement, das als Mobilitätskarte auf allen Teilsystemen des öffentlichen Verkehrs gilt, einschließlich der Bergbahnen, Schiffe, Postautolinien und lokalen Trams.
Auch wenn der Einwand, die Geographie der kleinen Schweiz begünstige die Schiene, häufig gebraucht wird, macht ihn das deshalb nicht wahrer. Das Gegenteil trifft zu: Sowohl unter klimatischen als auch topographischen Gesichtspunkten weist das Land eher unvorteilhafte Bedingungen für den Bahnverkehr auf. Da gewaltige Höhenunterschiede überwunden werden müssen, sind die meisten Trassen um ein Vielfaches teurer als die Schienenstränge zwischen Flensburg und Passau. Wenn die derzeit im Bau befindliche, mehr als acht Milliarden Schweizer Franken teure Alpentransitstrecke vollständig vom Staat finanziert wird, lässt ein solches Vorgehen keinen Zweifel: Das Bahnsystem genießt in der Schweiz höchste politische Priorität. Nach seiner Fertigstellung wird der Gotthard-Basistunnel nicht nur eine einzigartige bauliche Leistung bezeugen, sondern mit einer Länge von 57 Kilometern zugleich der längste Tunnel der Welt sein. Lukrative Folgeaufträge für die Baugesellschaft, eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der SBB, gelten als sicher - Aufträge, die wiederum Geld in die Kasse des fünftgrößten Arbeitgebers der Schweiz und damit des Bundeshaushaltes bringen.
Nach dem Erfolgsrezept für das Schweizer Bahnsystem befragt, gibt Benedikt Weibel, langjähriger SBB-Generaldirektionspräsident, eine Antwort grundsätzlicher Art: Nicht Profitabilität sei Hauptanliegen dieses Bahnsystems, sondern die optimale Erfüllung des Bedürfnisses nach Mobilität. Einem möglichen Börsengang erteilt er denn auch eine unmissverständliche Absage: "Eine echte Privatisierung eines flächendeckenden Systems öffentlicher Verkehr ist - zumindest unter heutigen Marktbedingungen - eine Illusion." Anders als hierzulande sind sich in der Alpenrepublik Politik und Bahnführung einig, dass es einer Bahn bedarf, die im Dienste der Bürger steht und nicht für die Börse fährt.
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