Haus ohne Richtkrone

VOR EINEM JAHR ERNSTFALL BSE Die Hysterie scheint gebannt - die Agrarwende auch ?

In der Nähe von Greifswald liegt die Insel Riems, was geographisch eigentlich nicht mehr stimmt. In den Siebzigern, so erinnert man sich an der Pforte der Bundesforschungsanstalt für Viruskrankheiten der Tiere, wurde das Eiland per Damm mit dem Festland verbunden. Seit mehr als 90 Jahren wird hier über Milzbrand, Maul- und Klauenseuche und nun auch über BSE geforscht. Zu DDR-Zeiten gab es 1.000 Beschäftigte, zur Zeit sind es noch 180. Tendenz wieder steigend - BSE und vor allem das neue deutsche BSE-Referenzlabor sorgen dafür.

Künftig sollen auf Riems neue Testmethoden zum Nachweis von BSE an lebendigen und geschlachteten Tieren erforscht und überprüft werden. Die Bundesregierung hat den BSE-Forschungsetat von 2,5 auf 27 Millionen Mark erhöht. Durch zehnmal mehr Geld ginge aber Forschung nicht zehnmal schneller, kommentiert Thomas Mettenleiter, Direktor der Forschungsanstalt, lakonisch den jähen Geldsegen. Es bleibe schwierig, den Weg des Erregers vom Darm zum Gehirn der Tiere nachzuweisen. Auffallend still ist es auch um die vollmundige Ankündigung deutscher Pharmaproduzenten geworden, schon 2001 mit einem Test am lebendigen Tier auf dem Markt zu sein. Auf Riems arbeitet man eher für verbesserte Schlachthoftests am toten Tier. Oberstes Gebot bleibt: infiziertes Fleisch darf nicht zum Verbraucher kommen. Und - Lebendtest hin oder her - nur sensitivere Tests am getöteten Tier, die bei geschlachteten Jungtieren unter 28 Monaten Lebensalter anschlagen, lassen dieses Risiko minimieren.

Es sei schon richtig, meint Mettenleiter, erste Prognosen, wonach es in diesem Jahr 500 BSE-Fälle in Deutschland geben sollte, hätten sich nicht bewahrheitet. Aber mindestens fünf Jahre noch würde es immer wieder BSE in deutschen Ställen geben. Jetzt positiv getestete Tiere seien zumeist 1996 geboren und bis Anfang 2001 hätten möglicherweise BSE-infiziertes Tiermehl und Milchaustauscher auf dem Menüplan deutscher Rinderzüchter gestanden. Da sei es schon einigermaßen absurd, wenn die EU inzwischen das Tiermehlverbot teilweise wieder aufheben wolle.

Was daran besonders verwundert - auch die grüne Verbraucherschutzministerin Renate Künast neigt in dieser Frage zum Kompromiss. Man müsse eben nur genau kontrollieren, dass Nichtfleischfresser wie Kühe nicht wieder zu Kannibalen an der eigenen Kreatur gemacht und die Standards bei Tiermehl eingehalten würden, um den BSE-Erreger während der Produktion abzutöten. Daran allerdings glaubte auch der frühere Agrarminister, Karl-Heinz Funke (SPD) vor dem ersten BSE-Fall und schließlich seinem eigenen Fall.

Aber Funke ist wieder da. Zigarre paffend schwadroniert der deutsche Bilderbuchbauer im Foyer eines Potsdamer Hotels und diktiert jedem Journalisten in den Block, das mit BSE sei alles übertrieben - die totale Hysterie - gewesen. Persönlich habe er nichts gegen Frau Künast, aber mit der "sogenannten Agrarwende" führe sie Deutschlands Bauern in die Isolation. Drinnen im Saal kämpft unterdessen Andreas Müller, der Staatssekretär der Funke-Nachfolgerin, mit der erschlaffenden Aufmerksamkeit der Mitglieder des Deutschen Bauernbundes, der illustren ostdeutschen Spielart des Bauernverbandes. Der Pressesprecher dieser Hard-Core-Lobby konventioneller Landwirtschaft sah sich genötigt, vor Müllers Rede um Toleranz zu bitten. Überflüssige Noblesse, denn mittlerweile hat das Verbraucherministerium von der Radikalkur auf Langzeitmissionierung umgeschaltet. Renate Künast kokettiert mit der Formel, die Agrarwende sei kein Haus, bei dem irgendwann Richtfest gefeiert werde, und kaschiert damit, dass ihr ökologischer Umbau ins Stocken geraten ist. Auch der Verbraucher, als dessen Anwalt sich Künast gern versteht, pflegt wieder alte Gewohnheiten. Nach den Recherchen des Nürnberger Marktforschungsunternehmen GfK sind an Fleisch- und Wursttheken deutscher Supermärkten längst wieder "normale Zeiten" eingekehrt. Der Umsatzeinbruch bei Rindfleisch ging von 70 Prozent im Januar auf 14 im September gegenüber dem Vorjahresverbrauch zurück.

Für die Bauern bleibt die Umstellung ihrer Höfe auf Ökolandbau weiter ein Verlustgeschäft, weil es die strengen Öko-Normen verbieten, für Produkte schon während der mehrjährigen, kostenintensiven Konversion den höheren Bio-Preis zu verlangen. In Potsdam erntet Staatssekretär Müller das Gelächter der Bauern, als er verspricht, Verdienstausfälle bei der Öko-Wende durch finanzielle Hilfen für "Ferien auf dem Bauernhof" und Hofbäckereien zu kompensieren. Seine Zuhörer vom Bauernbund kommen aus Regionen um Bernburg, Weißenfels oder Torgau, wo Touristen eher rar sind und die Leute ihr Brot lieber billig bei Aldi kaufen.

Auch die Umweltverbände registrieren zähneknirschend, dass in der Agrarwirtschaft vieles bleibt, wie es vor dem Ernstfall BSE war. Zum Beispiel, dass für ihre Pressekonferenzen auch der kleinste Raum im Bundespressezentrum am Berliner Schiffbauerdamm ausreicht. Dort wettert der NABU gegen den Filz in der Agrarlobby (nachzulesen unter www.nabu.de/landwirtschaft/datenbank), minutiös wird aufgelistet, dass Bauernpräsident Sonnleitner in über 20 Organisationen, Verbänden und Unternehmen der Branche sein Unwesen treibt.

Gut zwei Kilometer davon entfernt, ist Professor Reinhard Kurth, Direktor des Robert-Koch-Instituts, davon überzeugt, dass die Hysterie wieder ausbrechen wird, wenn zum ersten Mal in Deutschland ein Mensch an der neuen, durch den BSE-Erreger verursachten Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit leidet. Die schlechte Nachricht aus seinem Hause ging vor rund zwei Monaten in der allgemeinen Milzbrand-Hysterie unter. Damals prognostizierte die "Arbeitsgruppe Blut" bis 2045 allein in Deutschland 400 bis 600 Erkrankungen an der neuen Variante der gefürchteten Krankheit. Die entsprechende Studie empfahl, Blutspender aus der Spenderkartei zu nehmen, die vor dem ersten BSE-Fall selbst eine Bluttransfusion erhalten haben, denn eine Übertragung des BSE-Erregers über das Blut könne noch immer nicht ausgeschlossen werden. In Deutschland sind davon vier Prozent aller Spender betroffen, in die Blutreserven reißt es eine Lücke von 200.000 Spenden pro Jahr. Die halbwegs gute Nachricht: Können der BSE-Erreger und damit auch die immer noch todbringende Creutzfeldt-Jakob-Krankheit bekämpft werden, könnte das gleichfalls Möglichkeiten zur Heilung der weit häufiger auftretenden Alzheimerkrankung eröffnen.

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