Die Krise der Linken

Covid-19 Das Corona-Narrativ bringt viele Linke auf Regierungskurs – weil sie insgeheim auf ein Ende des neoliberalen Zeitalters hoffen. Aber ist das realistisch?
November 2020 in Berlin: Wenn es um die Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln geht, greift die Polizei mitunter hart durch. Viele Linke befürworten das. Ein Widerspruch?
November 2020 in Berlin: Wenn es um die Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln geht, greift die Polizei mitunter hart durch. Viele Linke befürworten das. Ein Widerspruch?

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Wer hätte das gedacht? Die Große Koalition schränkt die Grundrechte ein – und die gesellschaftliche Linke jubelt. Sogar Markus Söder ist links der sogenannten Mitte irgendwie beliebt geworden. Als der CSU-Chef im März in Bayern eine Ausgangssperre verhängte, bekam er Beifall von der SPD. Und auch der Grüne Cem Özdemir tat seinerzeit kund, „der Söder macht das gerade gut“. Der Beifall ist seither nicht abgerissen – und er steht symbolisch. Seit Corona zur Pandemie erklärt wurde, halten es viele vermeintlich progressiven Kräfte auffällig unkritisch mit der Regierungspolitik. Manch einer scheint sich an repressiven Maßnahmen richtiggehend zu berauschen.

Hamburgs SPD-Bürgermeister erklärte, man solle größere Demonstrationen in Innenstädten während der Pandemie doch einfach verbieten. Etwa zeitgleich titelte Spiegel Online: „Schränkt die Versammlungsfreiheit ein“. Der Filmemacher Mario Sixtus wiederum forderte auf Twitter, wo er fast 140.000 Follower hat: „Wenn der Föderalismus verhindert, dass schnell und wirkungsvoll gegen die Ausbreitung einer Pandemie gehandelt wird, kann er auch weg“. Im Jahr 2010 hatte Sixtus noch den Blog WirHabenKeineAngst.de initiiert, um eine mit der Angst vor Terrorismus begründete, verschärfte Sicherheitspolitik abzuwenden. Einer solchen stehen viele Linke aber nicht mehr länger im Weg – ganz im Gegenteil.

Kritik ohne Verharmlosung

So hält Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow den Bundeswehreinsatz zur Pandemie-Bekämpfung nicht etwa für eine womöglich notwendige, aber eben doch bedenkliche Normalisierung solcher Einsätze, sondern schlicht für „die schönste Friedensarbeit, die ich mir vorstellen kann“. Währenddessen werden die Rufe nach härteren Maßnahmen vor allem in den Sozialen Medien immer lauter – so etwa im Zuge der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen in Berlin und anderswo. Da wird ausgerechnet aus linken Kreisen ein härteres Durchgreifen der Polizei gefordert – oder eben gleich ein Verbot der Demos. Was ist bloß los mit der politischen, gesellschaftlichen und intellektuellen Linken?

Ihr Verhalten lässt sich kaum alleine mit der Sehnsucht nach Autorität erklären, denn die scheint es unter Linken durchaus zu geben, aber eben nicht mehr als anderswo auch. Ebenso wenig scheint die Gefährlichkeit des Virus der einzige Grund zu sein – denn diese müsste man nicht mal in Zweifel ziehen, um trotzdem die Regierungspolitik scharf zu kritisieren.

Um demgegenüber zu begreifen, warum das derzeit herrschende Narrativ so viele Linke anzieht, muss man verstehen, was dort gesagt wird: Ein Killervirus bedroht demnach die Welt – doch der Staat hat diesen Kampf angenommen, um die Menschen zu schützen. Von ihnen verlangte er nur Demut für die Sache, das heißt: für die staatlichen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung. Diese Erzählung hat also eine fürsorglich-paternalistische Seite – und eine autoritäre. All jene, die sich diesem Narrativ nicht in Gänze fügen, werden seit Anbeginn der Krise nicht etwa als Gegner der Regierungspolitik gesehen, sondern vor allem als Gegner der Menschen. Das wollte natürlich kaum ein Linker auf sich nehmen. Schließlich ist der Schutz der Schwachen seit jeher ein linkes Anliegen.

Doch die linke Faszination für die staatliche Sache geht eben noch weiter – und das hat wohl mit den Botschaften zu tun, die im Corona-Narrativ mitschwingen. Und mit ihrem Platz in der Geschichte. Denn die Corrona-Erzählung – Gesundheit vor Freiheit – schickt sich an, das neoliberale Paradigma, das bisher so übermächtig schien, abzulösen. Oder es zumindest zur Seite zu drängen.

Alleine schon, dass die Regierung überhaupt so entschlossen handelt, gilt vielen ja als Erfolg – nach Jahrzehnten, in denen sich der Staat einen immer schlankeren Fuß machte. Auf die vielleicht größte Krise der Menschheit, die Klimakrise, hat die Politik bisher weltweit vor allem mit Abwesenheit reagiert. Plötzlich kommt Corona – und die Staaten nehmen das Heft des Handelns wieder in die Hand. Haben Linke nicht genau davon geträumt? Vielleicht aber übersehen sie, dass da gerade ein Virus zum Subjekt der Geschichte gemacht wird – und dass im Windschatten der Pandemiebekämpfung Grundrechte womöglich dauerhaft eingeschränkt und Überwachung massiv ausgebaut werden. Sicherheitspolitik jedenfalls hat schon immer so funktioniert: indem den Menschen Angst gemacht wird.

Versprechen auf Solidarität

Der zweite Paradigmenwechsel der Corona-Erzählung ist nicht weniger wichtig: Es ist, nach all der Zeit harter Konkurrenz, das Versprechen auf Solidarität. Das heißt in diesen Tagen vor allem: Social Distancing. Sei solidarisch – halte Abstand! Dass aber auch zu viel Abstand krank machen kann und dass sich das Verständnis von Solidarität womöglich von einer emanzipatorisch-kritischen zu einer konformistischen Tugend wandelt, das bleibt derzeit im Diskurs ebenso unsichtbar wie die Frage nach den Folgen der vermeintlich neuen Solidarität: Zielt sie wie auch die staatlichen Maßnahmen einseitig auf das Private, während der großkapitalistische Alltag beinahe ungehindert weiterläuft? Kann man wirklich von Solidarität sprechen, wenn die Profiteure der Krise nicht auch für diese zahlen müssen? Und kann es tatsächlich das Ziel eines linken Verständnisses von Solidarität sein, dass nun mitunter sogar Denunziation als solidarisch gilt?

Zu alledem wird im Corona-Narrativ auch die (linke) Sehnsucht nach Wissenschaftlichkeit und Vernunft bedient. Endlich, muss man sagen. Nachdem Klimawandelleugner in der Öffentlichkeit hofiert wurden und der US-Präsident persönlich die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge verschwinden ließ, soll es Corona-Leugnern nun anders ergehen. Doch vor allem aus linker Sicht wäre zweierlei geboten: Methodenkritik und Wissenschaftskritik. Erstere zielt auf die Verfahren und was mit ihnen auf welche Weise ausgesagt wird – und was nicht. Es geht darum, diese Verfahren zu verstehen und zu hinterfragen, anstatt blind nackten Zahlen hinterherzulaufen. Letztere ist im klassischen Sinne der kritischen Theorie die Feststellung, dass auch die Wissenschaft und ihre Akteure niemals gänzlich neutral sein können, sondern dass auch sie gesellschaftliche und ökonomische Interessen verfolgen und einen Platz im Spiel der Mächte einnehmen.

Doch die extreme Polarisierung, zu der eben auch Linke maßgeblich beitragen, verhindert eine öffentliche und ehrliche Auseinandersetzung. Als der Verleger des Freitag, Jakob Augstein, zu Beginn der Pandemie darauf beharrte, dass nicht nur Medizin-„Experten“ über den gesellschaftlichen Umgang mit der Pandemie entscheiden, erntete er einen Shitstorm. Wenn etwa der Virologe Hendrik Streeck sagt, man dürfe nicht nur die Toten zählen, die an Covid-19 gestorben sind, sondern man müsse auch über die Schäden reden, die Folge der Corona-Politik sind, dann fallen die Reaktionen darauf nicht weniger aggressiv aus. Viele Linke fanden, man solle Leuten wie Streeck gar keine Plattform mehr geben. Das Argument ist stets dasselbe: Wer so redet, dem sind Menschenleben egal. Noch immer wünscht man sich diese Beharrlichkeit etwa im Umgang mit Geflüchteten auf dem Mittelmeer – nicht aber dort, wo die Frage nach richtig und falsch erst ausgehandelt werden müsste.

Linke Ansprüche

Ist es in diesem Kontext nicht vielmehr so, dass der Schutz von Schwachen und Marginalisierten nun Teil des Corona-Narrativs der Regierung geworden ist – und dass diese damit bestimmt, wen es zu schützen gilt und wen nicht? Obdachlose jedenfalls oder Geflüchtete sind weiter einer menschenunwürdigen Situation ausgesetzt. Und arme Menschen trifft Covid-19 insgesamt ohnehin viel härter. Sollte, nein müsste es nicht der linke Anspruch sein, solche Aspekte der Krise wieder stärker in den Vordergrund der Debatte zu rücken? Stattdessen wird dann etwa auf Twitter schon mal gefordert, Corona-Leugnern im Falle einer Erkrankung den Zugang zu Intensivstationen zu verweigern.

Nochmal: Es ginge nicht um ein Entweder-Oder, um ein „Covid 19 ist nur eine Grippe und wir leben bald in einer Diktatur“ versus „statt Kritik brauchen wir einzig und alleine härtere Maßnahmen“. Natürlich kann es kein emanzipatorisches Anliegen sein, Freiheit auf dem Rücken anderer zu verwirklichen. Persönliche Freiheit sollte nicht ohne soziale Gleichheit gedacht werden. Aber ohne Freiheit geht es eben auch nicht. Es ginge also um eine differenzierte Betrachtung. Um Vorsicht, wo Vorsicht geboten ist. Und um Kritik, wo sie nötig ist: an unverhältnismäßigen Maßnahmen und an einer einseitigen Verteilung der Lasten dieser Krise. Am kommerziell orientierten Geschäft mit Corona und eben auch an der Verengung des Diskurses.

In den vergangenen Wochen schien solche Kritik langsam in diesem Diskurs angekommen zu sein. Ende November etwa kritisierte die hessische Linksfraktion in einer Pressemitteilung den alleinigen Fokus auf private Kontakte, während in Werkhallen noch immer hunderte Beschäftigte arbeiteten. Und selbst WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn sieht inzwischen ein, dass etwa die Debatte um Grundrechts-Fragen von Medien „früher und deutlicher“ hätte aufgegriffen werden müssen. Doch ein großer Teil des linken Milieus hat sich eben (vor-)schnell festgelegt – jetzt zurückzurudern fällt da schwer. Eine offene und ehrliche Debatte ist so aber kaum möglich. Nun mag es das Wesen sozialer Medien sein, dass leise, ausgewogene Stimmen kaum zu hören sind – dem Umgang mit Corona tut dies aber in keinem Fall gut. Und dem gesellschaftlichen Klima auch nicht.

Denn der Widerspruch gegen die Regierungspolitik wird derzeit vor allem den Neoliberalen und den Rechten überlassen. Weil ihr Narrativ an Boden zu verlieren scheint, ist es wenig überraschend, wenn sich etwa die FDP oder Friedrich Merz mit Kritik zu Wort gemeldet haben. Die Rechten wiederum, die in großen Teilen selbst dem neoliberalen Zeitgeist anhängen, verteidigen natürlich nicht wirklich irgendeine Freiheit – aber sie versuchen sich so zu inszenieren. Und tatsächlich scheinen sie derzeit die Einzigen, die den Unzufriedenen ein Angebot machen. Es ist das Angebot des Ressentiments. Doch müsste es nicht ein urlinkes Anliegen sein, Kritik viel mehr auf das kapitalistische System zu lenken, das Spaltung und Wut fortlaufend produziert? Und somit auch all jenen, die da wütend sind und nicht auf der Seite der Rechten stehen, ein Angebot zu machen?

Deligitimierte Kritik

Viele Linke, ob Journalistinnen, Aktivisten oder Politikerinnen, arbeiten sich nun aber lieber an irgendwelchen Protesten ab. Natürlich muss man kritisieren, wenn Menschen neben Rechten demonstrieren. Man muss sich auch klar davon abgrenzen – und wenn nötig dem entgegenstellen. Doch zugleich muss man die Frage stellen, ob solche Proteste weiter wachsen, weil Kritik von Anfang an weitgehend delegitimiert wurde. Sicher, die derzeit sichtbaren Proteste gegen die Corona-Maßnahmen wollen vermutlich am liebsten den präpandemischen Kapitalismus zurück, der bei Gut- und Wutbürgern gerne als Rheinischer Kapitalismus verklärt wird. Und wenn auf den Demos Kapitalismuskritik geäußert wird, dann oft auf eine verkürzte Art: so, als ob ein böser Geheimzirkel den eigentlich guten Kapitalismus missbraucht und eine Pandemie vortäuscht, um Kontrolle über die Menschen zu erlangen. Doch statt dem eine differenzierte, regierungskritische Kapitalismuskritik gegenüberzustellen, scheint die (nötige) Abgrenzung gegen Rechts viele Linke geradezu in die Arme einer unsozialen und teils autoritär agierenden Regierung zu treiben. Doch wo bleibt dann eine echte Opposition?

Als jüngst das umstrittene Infektionsschutzgesetz, mit dem sich Grundrechte ohne ausreichende Beteiligung der Parlamente einschränken lassen, im Eiltempo beschlossen wurde, twitterte etwa Benjamin-Immanuel Hoff, Linkenpolitiker und Chef der Thüringer Staatskanzlei: „Ich werde am Mittwoch für den #Freistaat @thueringende @bundesrat dem #Bevölkerungsschutzgesetz zustimmen. Der Vorwurf, dies sei ein neues #Ermächtigungsgesetz, ist absurd und es verharmlost den #Nationalsozialismus und beschmutzt das Andenken an dessen Opfer.“ Auch wenn er es nicht direkt sagte, so bringt Hoff seine Zustimmung zum Gesetz doch damit in Verbindung, dass geschichtsvergessene Spinner und rechtsradikale Agiteure dieses ablehnen. Natürlich geht es beim neuen Gesetz nicht um die Errichtung einer Diktatur – aber was ist mit der Gefahr einer, wie es die Frankfurter Rundschau kürzlich nannte, „autoritären Demokratie“? Und wie viel Autoritarismus hält eine Demokratie überhaupt aus? Oder sind all das womöglich einfach Schönheitsfehler auf dem Weg zur Ablösung vom neoliberalen Diktat?

Nein. Denn erstens brauchen Demokratie – und auch Wissenschaft – unbedingt den Dissens. Wer kann seine Stimme mit welchem Gewicht in den Diskurs werfen? Wer wird gehört – und wer wird sozial geächtet? Zweitens deutet bei genauerer Betrachtung vieles nicht unbedingt darauf hin, dass das neoliberale Paradigma tatsächlich an Kraft verliert. Dem kapitalistischen Ausbeutungssystem nämlich scheinen weder das Virus noch die staatlichen Maßnahmen ernsthaft auf die Pelle zu rücken: Konsumtempel blieben lange offen, während Museen geschlossen wurden. In Fabriken wird weiter im Akkord gearbeitet, obwohl Menschen ihr Privatleben immer weiter einschränken müssen und sich immer weniger nah kommen. Bahnen und Busse sind voll, im Fußball geht der Kommerz eben ohne Zuschauer weiter – und auf die Ausbeutung der Natur oder des Globalen Südens sind gerade noch weniger europäische Augen gerichtet. Die Lasten der Krise sind enorm ungleich verteilt – und die Ungleichheit wird in Zukunft vermutlich noch größer.

Angela Merkel hatte es ja Anfang Oktober selbst formuliert: „Priorität hat für mich, dass unsere Wirtschaft sich bald wieder erholen kann und dass unsere Arbeitsplätze sicher sind und neue entstehen.“ Letztlich bleibt also zu befürchten, dass das neoliberale Narrativ gar nicht so sehr an Boden verliert, sondern dass es vor allem dem Teil der Freiheit an den Kragen geht, der den Kapitalinteressen vielleicht ohnehin eher im Wege steht: der politischen und persönlichen Freiheit.

Timo Reuter arbeitet als freier Journalist in Frankfurt am Main. Er ist Autor der Bücher Warten. Eine verlernte Kunst und Das bedingungslose Grundeinkommen als liberaler Entwurf. Philosophische Argumente für mehr Gerechtigkeit.

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