Ein Jedermannsrecht für unsere Zeit

Debatte Die neue Regierung Finnlands will das Grundeinkommen testen. Das macht Hoffnung, doch eines ist unklar: Naht da ein emanzipatorisches oder ein neoliberales Experiment?
Ausgabe 30/2015

Demokratie beruht auf ihr und der Kapitalismus auch, zudem ist sie der Wesenskern aller liberalen Strömungen. Ohne immer genau zu wissen, was damit gemeint ist, steht die Freiheit auf der Werteskala westlicher Gesellschaften ganz oben. Was man aber weiß: Die Freiheit des Einzelnen endet nach modernem Verständnis dort, wo die Freiheit eines anderen beginnt. Wer durch die unendlichen Wälder Nordeuropas wandert, dem leuchtet dies besonders ein. Hier atmet man den Duft der Freiheit und darf sich fast überall frei bewegen, zelten oder baden, Beeren pflücken und Fische fangen ist gestattet. Das Jedermannsrecht erlaubt allen, die Natur und ihre Früchte unabhängig vom Eigentümer zu nutzen – aber es enthält notwendigerweise auch Pflichten.

Die eigene Freiheit fußt auf der Rücksichtnahme, weder der Natur noch anderen Menschen Schaden zuzufügen. In Vorgärten zelten oder auf seltenen Pflanzen herumtrampeln ist nicht erlaubt. Doch damit haben Nordeuropäer kein Problem, sie können einander aus dem Weg gehen. In Finnland leben auf einer Fläche fast so groß wie Deutschland nur gut fünf Millionen Menschen. Diese endlose Weite erklärt wohl den Freiheitsdrang, der sich in der alten Tradition des Jedermannsrechts widerspiegelt. Doch wie das oft so ist mit Traditionen: Sie werden von der Realität überholt. Die meisten Menschen wohnen heute in Städten, in Finnland gar über 80 Prozent. Und dort finden sich kaum Beeren oder Fische. Das Jedermannsrecht, das früher der Grundversorgung diente, ist heute eher Teil der Freizeitgestaltung. Was also tun die Finnen? Sie diskutieren über ein zeitgemäßes Modell zur Sicherung ihrer Freiheit: das Grundeinkommen.

Die Idee ist nicht neu, Thomas Morus formulierte bereits 1516 einen ähnlichen Vorschlag. Ein breiter Diskurs aber begann erst Anfang des letzten Jahrhunderts mit dem Höhepunkt einiger Pilotstudien in Nordamerika in den 1970ern. Danach wurde es ruhig um das Grundeinkommen, seit einigen Jahren aber erlebt die Debatte weltweit eine Renaissance. Und während das Grundeinkommen in Deutschland heftig umstritten ist und quer durch alle politischen Lager Befürworter und vor allem Gegner hat, sind die Finnen aufgeschlossener: 79 Prozent von ihnen befürworten das Grundeinkommen – bisher vergeblich.

Das könnte sich nun ändern. Im April wurde in Finnland eine neue Regierung gewählt. Mit nur einem Satz sorgte sie in den letzten Wochen für Aufsehen: „Eine Pilotstudie zum Grundeinkommen wird durchgeführt“, schreibt die Koalition aus liberal-konservativer Zentrumspartei, der rechtspopulistischen Finns Party und der konservativen NCP in ihrem Regierungsprogramm. Doch was heißt das? Zunächst nicht viel. Zwar wäre Finnland das erste Land Europas, das ein Grundeinkommen testen würde. Weltweit gab es nur regional wie zeitlich eng begrenzte und deshalb wenig repräsentative Projekte. Experimente sind aber wichtig, um strittige Frage wie die nach den Auswirkungen auf die Arbeitswelt besser beantworten zu können.

Eine Revolution?

Noch sind in Helsinki alle wichtigen Details offen, vor allem die Höhe des Grundeinkommens und ob es bedingungslos ausgeschüttet wird. Nur dann wäre es ein echter Paradigmenwechsel und kein weiterer Schritt im neoliberalen Umbau des Sozialstaates. Es ist Vorsicht geboten: Grundeinkommen ist nicht gleich Grundeinkommen. Sollte dieses bedingungslos und in existenzsichernder Höhe bezahlt werden, käme das einer der größten sozialpolitischen Revolutionen der Geschichte gleich.

Zunächst einmal bedeutet das bedingungslose Grundeinkommen (BGE), dass der Staat die Menschen dafür bezahlt, dass sie am Leben sind – ohne Bedingungen zu stellen. Dadurch verwirklicht das BGE in radikaler Weise das humanistische Recht auf Leben, indem es die materielle Grundversorgung sichert und damit die Basis aller Freiheitsrechte. Schließlich kommt erst das Fressen, dann die Freiheit. Durch seine Bedingungslosigkeit, welche die Logik westlicher Sozialsysteme vom Kopf auf die Füße stellt, verschafft das Grundeinkommen der menschlichen Würde wahre Geltung und könnte auch die individuelle Freiheit steigern – in doppelter Hinsicht.

Als sich die Menschen in Europa zum Ausgang des Mittelalters von alten Dogmen befreiten, war die Idee der Freiheit auf dem Weg zum aufgeklärten Individuum von epochaler Bedeutung. Dieser Freiheitsbegriff beinhaltete vor allem das Recht auf Eigentum, Religionsfreiheit und den Schutz vor Willkür. Es ging um formale Freiheiten, also Freiheiten „von“ etwas, meist von Zwang und Zensur. In diesem liberalen Sinn, den viele sogenannte Liberale heute leider einseitig als Wirtschaftsliberalismus auslegen, kann das BGE unsere formale Freiheit vergrößern, indem es den Menschen vom Zwang zur Arbeit sowie besonders in Entwicklungsländern von Not und Armut befreit.

Doch Freiheit erschöpft sich nicht im Formalen. So merkt der belgische Philosoph und Befürworter des BGE Philippe Van Parijs an, dass Freiheit „nicht allein eine Frage des Rechts, sondern auch des effektiven Zugangs zu Gütern und Handlungschancen“ sei. Diese „positive Freiheit“, also die Freiheit „zu“ etwas, ist aber geschichtlich vorbelastet, da sie Interpretationsspielraum in Bezug auf ihre Ziele bietet und so offen ist für Manipulation und Tyrannei. Deshalb spielt positive Freiheit in sozialpolitischen Debatten kaum eine Rolle – zu Unrecht! Denn was ist Meinungsfreiheit wert, wenn Menschen keinen Zugang zu Bildung haben? Was nutzt das Eigentumsrecht, wenn es immer mehr Arme gibt? Sicherlich hat das Konzept der positiven Freiheit Grenzen, eine Garantie gibt es nicht. Und formale Freiheiten sind als Grundlage von Demokratie und Rechtsstaat im Zweifel vorzuziehen. Doch in der kapitalistischen Welt endet die Freiheit des Einzelnen eben nicht erst da, wo die eines anderen beginnt, sondern schon dort, wo die Kaufkraft des eigenen Geldbeutels aufhört. Es geht bei der Freiheit also auch um tatsächliche Chancen. Es geht um reale Freiheit – und die wird durch das BGE erhöht, das am besten weltweit von Sozial- und Bildungspaketen flankiert sein sollte.

Zudem macht ein existenzsicherndes Einkommen die Gesellschaft gerechter. Ein großer Teil des Reichtums beruht heute auf unverdienten Faktoren wie dem Glück der Geburt in einem reichen Land oder den die Realwirtschaft verzerrenden Finanzmärkten. Das BGE könnte einen Teil dessen umverteilen und das Anrecht aller auf einen gleichen Anteil natürlicher Ressourcen verwirklichen. Die Idee der Ressourcengleichheit spiegelt sich im Jedermannsrecht wieder, so wie auch Solidarität und Gleichheit zum finnischen Selbstverständnis gehören, das zeigt die Geschichte des dortigen Wohlfahrtsstaates und des Bildungssystems.

Je nach Höhe des BGE könnte man dieses moderat umverteilen, aber auch Spielraum für Verteilungen nach dem Bedarf, etwa bei Krankenversicherungen oder der Leistung lassen. Das Grundeinkommen erstickt die Leistungsgerechtigkeit nicht, sondern es stärkt sie, indem es individuelle Startchancen angleicht und mehr Selbstbestimmung am Markt ermöglicht.

Trotz alledem hat das Grundeinkommen viele Gegner. Ihr bedeutendster Einwand: Das BGE sei nicht finanzierbar. Wenn Erwachsene 800 Euro pro Monat und Minderjährige die Hälfte erhalten, kostet das hierzulande jährlich 700 Milliarden Euro, der Bundeshaushalt beträgt aber nur 300 Milliarden. Doch diese Rechnung ist irreführend. Durch ein BGE würde nicht nur mancher Posten im Bundeshaushalt eingespart, Hartz IV samt Verwaltung etwa, sondern ebenso in den Etats von Kommunen und Ländern. Ein Großteil der jährlich 250 Milliarden Euro für die Rente könnte in das BGE fließen, das zudem teils mit hohen Einkommen verrechnet werden kann.

Knackpunkt Steuern

Außerdem hängt der Staatshaushalt von der Besteuerung ab: Das Volkseinkommen in Deutschland beträgt pro Jahr über 2.100 Milliarden Euro, das Bruttoinlandsprodukt gar 3.000 Milliarden. Das BGE wäre also bei entsprechendem politischem Willen finanzierbar – vorausgesetzt, es führt nicht zu einem „Schmarotzertum“ ungeahnter Ausmaße und schmälert so die Wirtschaftsleistung, wie seine Kritiker behaupten.

Macht eine Grundsicherung die Menschen wirklich faul? Eine sichere Antwort findet sich nur in der Praxis. Doch auch argumentativ lässt sich dieser Polemik einiges entgegnen. Vielen würde das BGE vermutlich nicht ausreichen, weshalb sie weiter arbeiten gingen. Außerdem motiviert nicht nur Geld die Menschen zur Arbeit, sondern auch Anerkennung, soziale Integration und Selbstverwirklichung. Der Wegfall von Zwang und Stigmatisierung könnte anspornen und kreative Kräfte freisetzen.

Timo Reuter ist Journalist in Frankfurt am Main. Dort hat er 2013 seine Philosophie-Abschlussarbeit über die „gerechtigkeitstheoretische Abwägung des bedingungslosen Grundeinkommens aus liberaler Sicht“ geschrieben

Das glaubt die finnische Regierung, die hauptsächlich ökonomische Gründe für ein Grundeinkommen anführt. Sie erhofft sich neben dem Abbau von Bürokratie eine „Förderung des Unternehmertums“. Durch die Grundversorgung könnten Risikobereitschaft und Innovationskraft steigen – wie auch die Bereitwilligkeit, schlechter bezahlte Jobs anzunehmen. So verspricht man sich in Helsinki eine „größere Flexibilität“ auf dem Arbeitsmarkt. Da das Grundeinkommen im Gegensatz zur klassischen Armutssicherung zum Teil mit anderen Einkommen kumulierbar ist, soll der Anreiz zur Arbeit gestärkt werden und damit die schwächelnde finnischen Wirtschaft.

Gewerkschaften, die das BGE meist ablehnen, befürchten, dieses könne dazu führen, dass Unternehmen Löhne senken. Wie viele Sozialdemokraten kritisieren sie das BGE als staatliche „Stilllegungsprämie“. Stattdessen fordern sie ein Recht auf Arbeit – und halten so am fragwürdigen Ideal der Vollbeschäftigung fest. Ebenso plausibel wie diese Kritik der Gewerkschaften, die mit der Angst vor Bedeutungsverlust zusammenhängt, ist, dass mit einem BGE prekäre Jobs besser entlohnt werden müssten, da sie sonst niemand mehr auszuführen würde. Ob dies zu einem Anstieg von Löhnen und Preisen und zu einer höheren Inflation führt, ist Spekulation – und hängt von den Umständen der Einführung ab.

Auf diese Umstände gilt es in Finnland genau zu achten. Die Euphorie ist verfrüht, denn die konservativ-liberale Koalition plant vor allem Haushaltssanierungen, sie will Arbeitskosten senken und Unternehmen stärken. Das könnte nichts Gutes bedeuten, denn so kann das Grundeinkommen zu einem neoliberalen werden, und nicht zu einem emanzipatorischen.

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