Der König kann gehen

Instanzen Gremliza, Goetz, Prinz Harry: Die Helden lassen uns im Stich. Aber brauchen wir noch Menschen, zu denen wir aufschauen?
Ausgabe 03/2020
Yesterday, all my troubles seemed so far away
Yesterday, all my troubles seemed so far away

Foto: Chris Jackson/Getty Images

Kurz vor Weihnachten verstarb der linke Publizist Hermann L. Gremliza mit 79 Jahren. Der traurigen Nachricht folgten Nachrufe, die den Macher der Zeitschrift konkret, die dieser seit 1974 herausgab und in der er die Welt immer stramm von Ausschwitz her analysierte, noch einmal in die entsprechende Höhe hoben. Sie erweckten dabei den Anschein, dass dieser „wohl schärfste und präziseste linke Sprach- und Deutschlandkritiker der vergangenen Jahrzehnte“ (Zeit Online) in den letzten zwanzig Jahren wirklich noch wesentlich gewesen wäre. Zu wem sprach der Autor bei Zeit Online? Wie viele seiner Leser hatten die Kolumne Gremlizas Express, die der „Vertreter der reinen Lehre“ (Tagesspiegel) stets auf der letzten Seite seiner Zeitschrift mit frischer, guter, kalter Wut befüllte, noch gelesen? Verstand die Würdigung überhaupt noch jemand?

Auch der Schriftsteller, Kommunist und FAZ-Redakteur Dietmar Dath schrieb einen Nachruf. In der Facebook-Timeline fragten sich daraufhin Freunde, ob Dath nicht als möglicher Nachfolger taugen würde, als elektrisierende Lichtgestalt der Linken heute. Dies wurde jedoch direkt zurückgewiesen. Grandios zwar dieser Dath, natürlich, aber die Haltung doch nicht klar genug, zu wenig dogmatisch, zu differenzierend irrlichtend, was der immer redet. Dasselbe gilt aus anderen Gründen wohl auch für private Helden wie etwa Alexander Kluge, Joseph Vogl oder... Ja, so viele fallen einem eben auch gar nicht ein. Aus den Worten über den Verlust des alten Gremliza konnte man lesen, dass er einer der Letzten seiner nun fast ausgestorbenen Art war, sie offenbarten zudem eine große Sehnsucht nach Kapazität und Vorbild. Aber ist die Idee so eines „Zentrums des Sprechens“ überhaupt noch zeitgemäß? Was wäre eine linke Instanz Anfang 2020?

Drei Tage vor dem Tod von Gremliza veröffentlichte der Journalist Andreas Rosenfelder in der Welt am Sonntag einen über vier Zeitungsseiten ragenden, klugen Essay über Das Ende der Institutionen. Suhrkamp, die Schirrmacher-FAZ, Marcel Reich-Ranicki, die Universität an und für sich – Orte und Namen, die der Gesellschaft jahrzehntelang zur Orientierung dienten – all das sei nicht mehr das, was es einmal war. Weil die prägenden Gestalten und Ansager ihrer Zunft gestorben sind. Weil aber auch, und auf dieses Paradox läuft der Text dann aus verschiedenen Richtungen zu, die Techniken, um in einer digital geprägten Öffentlichkeit zur Institution zu werden, dem Wesen der Institution widersprechen. Auf Twitter könne man einfach nicht „ex cathedra“ sprechen. Es fehlt die Amtlichkeit, Autorität und Exzellenz.

Einfach die Klappe halten?

Und wer auf Gremliza nicht hören mochte, der hatte Goetz. Warum schweigt Rainald Goetz? Im BR lief gerade ein fast einstündiges Hörstück unter diesem Titel. Fans, die im Falle des Schriftstellers und Gesellschaftsbeobachters Goetz fast immer Gläubige sind, waren empört. Auch sie fragten sich seit dem Erscheinen des letzten Romans vor acht Jahren genau das ständig. Eine Antwort lieferte das Stück leider nicht. Der Sprecher nebelte, dass die Instanz der deutschen Gegenwartsliteratur womöglich nicht mehr recht in die Zeit passe. Von backfischhaftem Herumeiern um die Mächtigen und präpotenter Raserei ist die Rede. Und „ausgehungerte Germanisten-Fotzen“ – so was dürfe man eben, auch fiktional überformt, heute einfach nicht mehr schreiben. Das Authentizitätsprojekt des großen Ich-Imperators basiere zu sehr auf Heldenverehrung und kultischer Nachahmung. Ist die Sehnsucht, die sich dieser Tage in den Kulturteilen Deutschlands Bahn bricht, also schlicht ein Männerding? Immerhin handelt es sich bei den beispielgebenden Sprechinstanzen fast ausschließlich um Männer (eher alt, voll weiß), geschrieben werden die Hymnen von tendenziell jüngeren, weißen Männern wie mir. Dem Soziologen Ulrich Bröckling zufolge, dessen Buch Postheroische Helden – Ein Zeitbild im Februar erscheint, gelten Heldenfiguren heute grundsätzlich als suspekt: Zu viel Pathos, zu viel Männlichkeitsausdünstungen, zu viel Zeigefinger. Besonders zu begrüßen sei das aber nicht. Ist es überhaupt wahr? Was ist mit Greta Thunberg oder Alexandria Ocasio-Cortez? Eine Instanz von heute, wird mir immer wieder nahegelegt, sei die Spiegel-Kolumnistin Margarete Stokowski. Ich frage sie, ob es sich bei der Leerstellenlitanei um eine männliche Verlustangst handeln könnte. „Es gab sicher früher eine größere Bereitschaft, einzelne Leute – meist Männer – als Institution oder durch einen gewissen Geniekult zu adeln“, antwortet Stokowski. „Das lässt sich gut am Begriff des/der Intellektuellen sehen: Viele würden sich eher einen Fuß abhacken als eine Frau unter 40, die twittert und lustig ist (meine nicht unbedingt mich, mir fallen einige Beispiele ein) als Intellektuelle zu bezeichnen, obwohl die genau das tun, was Intellektuelle tun: Sie sind bekannt für ihre Gedanken und nehmen an gesellschaftlichen Diskursen aktiv teil und prägen sie mit. Aber sie reden dabei eben nicht wie Adorno oder Habermas und ritzen sich auch nicht die Stirn auf wie Rainald Goetz. Trotz aller Skepsis um Personenkult würde ich der Linken in Deutschland wünschen, dass sie mehr Grund kriegt, auch mal wieder was zu feiern, von mir aus auch mal einzelne Leute. Ich würde mich nicht beschweren – oder vielleicht konkret schon, aber nicht prinzipiell, hehe.“

Geht man davon aus, dass Institutionen der gesellschaftlichen Struktur einen Rahmen geben, wären Instanzen die Personen, die sich repräsentativ darin bewegen. Oder, im besten Fall, diese sogar darstellen. Marcel Reich-Ranicki war nicht Literaturkritiker, er war die Literaturkritik. Karl Lagerfeld war nicht nur ein Modeschöpfer, er personifizierte das System der Mode. Das ließ sich beim Tod des Königs im Februar 2019 noch einmal beobachten. Durch die unzähligen Nachrufe zog sich eine brodelnde Panik, dass mit dem Verlust der Instanz das ganze System in Frage steht, dem die Autoren selbst angehören. Der Rapper Jay Z rappte einmal: „I’m not a businessman, I’m a business, man.“ Und vielleicht galt das ja Anfang der 1980er-Jahre sogar für Hermann L. Gremliza. Die Instanz zeichnet aus, dass sie sich konstant im so genannten Gerede hält, aber sich vor allem auch regelmäßig erhaben darüber erhebt und so schillernd spricht, textet oder in den Wald ruft, dass alle Hasenohren hochstehen und die Welt sich ein bisschen zu verschieben scheint. Denn sie fordert das Unerwartete und bisher Ungedachte.

Es lebe der Influencer

Die Traurigkeit und Angst, die mit dem Verlust einhergeht, hat auch damit zu tun, das ein einstmals utopischer Gegenentwurf am Boden liegt: Die Schwarmintelligenz. Diese galt mit dem Aufkommen des Internets und seiner Netzwerke als neue Form der Wissensproduktion- und verwaltung. Eine, die ohne Anführer auskommt, in der anders gesprochen, entschieden und gedacht werden kann und das Unbedachte passiert. Heute redet darüber kein Mensch mehr. Das Internet liegt in der Hand weniger Monopolisten, die, so der Stammtisch, die Menschen gegeneinander aufhetzen. Dahinter kommt allerdings ein gesellschaftliches System zum Vorschein, das sich völlig anders strukturiert hat – in dem der kulturelle Diskurs nicht mehr auf dem Prinzip der Opposition, sondern der Kollaboration gründet.

In den Nachrufen zum einst gefährlichen Dinosaurier Gremliza werden zuhauf Wörter aus der Kiste geholt, die so staubig klingen, als wären sie eigentlich mit der BRD untergegangen und allesamt noch dem alten Prinzip der Opposition verpflichtet: Unerbittlichkeit, Uneinsichtigkeit, journalistische Unerschütterlichkeit, Ideologiekritik, rigorose Haltung oder moralische Klarheit. Sie wirken wie aus einer alten Kirche herausgebrüllt, die Fußgänger schauen kurz vom Handy auf, verstehen kein Wort und denken: Irre Typen. Die Fußgänger wissen genau, in Karlsruhe sitzt das oberste Gericht der Bundesrepublik Deutschland und letzte Instanz in Zivil- und Strafverfahren. Dort wird entschieden. In Kommunikation und Kultur misst sich Instanz heute allerdings nach Friends und Followern. Das Verrückteste und womöglich Genialste am Publizisten Gremliza war, dass er genau davon so wenig wie möglich wollte. Sein Erfolg errechnete sich nach Leuten, die er vergrätzt hatte. Je marginaler, desto wichtiger, je weniger er gelesen wurde, desto besser. Weil dies seiner Logik zufolge davon zeugte, dass er recht hatte. Ausweis seiner absoluten Unabhängigkeit und Souveränität, weder von der Gunst anderer noch von Likes bestimmt. Heute ist so etwas für viele nicht mehr nachvollziehbar, leicht verdreht wird es aber wieder ein Thema.

Als ich mit dem Berater eines der aktuell progressivsten und erfolgreichsten Modelabels spreche, findet sich dort eine ganz ähnliche Denke. Ehemals kanonische Magazine wie die Vogue sind für sie nicht mehr interessant, auch Celebritys müsse man die Kleidung aus PR-Gründen nicht mehr anziehen – gewinnen müsse man stattdessen seltsame Internet-Personen mit bisher kleiner Gefolgschaft, denn nur diese Mikro-Influencer böten als Vermittler echte Glaubwürdigkeit. Robert Cialdini, der den Begriff des Influencers prägte, beschrieb die nötigen Eigenschaften zur zeitgemäßen Einflussnahme bereits 2001 mit sozialer Autorität, Vertrauenswürdigkeit, Hingabe und konsistentem Verhalten.

Zeichnet sich also eine großformatige Verschiebung von der Institution zum Influencer ab? Am britischen Hof auf jeden Fall. Per Instagram brachen Prinz Harry und Herzogin Meghan Ende letzter Woche mit einer jahrhundertealten Konvention und – kündigten. In Zukunft wollten sie ihr eigenes Geld verdienen, ließ Harry wissen. Radikaler war nur noch Joseph Kardinal Ratzinger aka Benedikt XVI., der, nachdem das tausend Jahre nicht passiert war, vom Papstamt, der auf Erden allerhöchsten Instanz, zurücktrat, weil er es nicht mehr richtig fühlte. Prinz William jedenfalls, der schon sein Leben lang den Kopf für den kleinen Harry hinhält, ließ beleidigt verlauten: „Wir sind keine Einheit mehr.“

Instanz steht für „abgeschlossene Einheit“, was ziemlich anachronistisch klingt in einer Gegenwart, die sich an totaler Fluidität und Flexibilität misst. Sie handelt aber von einer alten Idee, der nämlich, dass es ein Ende gibt. Ein Ende wie ein Ufer. Einen Ort, an dem man nicht ins Unendliche weiterscrollen kann. Die Klippe, vor der man eben Halt macht. Oder springt. Es gibt da oben niemanden mehr, der einem Entscheidungen abnimmt. Es wird einem schwindelig. Joseph Ratzinger war danach ein bisschen freier. Wir sind es auch. Sterbliche Wesen allerdings bleiben wir.

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