Freibeuter mit Mandat

Parteitag Die Piratenpartei rüstet zur Bundestagswahl. Und zeigt sich rührend diszipliniert

Andreas Baum steht in einem abgedunkelten Raum der Karaokebar Monster Itchiban Ronsons in Berlin Kreuzberg. Er ist 30 und Vorsitzender des Berliner Landesverbandes der Piratenpartei. „Steuermann“ steht auf einer Anstecknadel. Die Piratenpartei hält hier ihren Nominierungsparteitag der Direktkandidaten für die Bundestagswahl ab – nicht weil sie Sinn für Skurrilität beweisen will, sondern weil sie plötzlich und unerwartet gewachsen ist. In Friedrichshain/Kreuzberg hat sie bei der Europawahl 3,4 Prozent der Stimmen geholt, ohne auch nur ein Plakat geklebt zu haben. Nach diesem Erfolg einer zuvor kaum wahrnehmbaren Partei gibt es kein Halten mehr – die Mitgliederzahl in Berlin vervierfacht sich, bundesweit wächst sie von 50 auf 3.200. Und bald ist Bundestagswahl. Soll man versuchen, das Leichtboot im Sturmschritt zum Schiff aufzurüsten und es auf hohe See zu lenken? Gelänge es, drei Direktkandidaten in den Bundestag zu schicken, hätte man trotz Fünfprozenthürde eine Bundestagsgruppe. Die Piraten beraten und beschließen, die Crew zu versammeln, um darüber abzustimmen. Bei einem „Ja“ soll im Anschluss gleich die Kandidatenwahl erfolgen. Die Piraten sind von der rasanten Entwicklung selbst überrumpelt. Alles geht so schnell, dass sich kein anderer Versammlungsraum findet als Monster Ronsons Karaokebar.

Langsam füllt sich der Raum, viele sind schwarz gekleidet, ein Mädchen trägt ein Piratenkopftuch, ein Langhaariger ist barfuß, kaum einer ist über 30. Man berät, ob der „Zensursulasong“ gespielt werden soll, und die Betrachterin überlegt, ob diese Menschen unter- oder überschätzt werden. Sie sind jung – das macht sie anfällig für Vorurteile aller Art: Sie seien nicht ernst zu nehmen. Überschätzten ihre Kräfte. Wüssten nicht, was sie tun. Oder aber: Endlich eine neue, junge politische Bewegung, die einen anderen Geist in die Politik bringe. Die Generation Internet.

Was auch immer man von ihnen denkt – sie sind motiviert und reden von ihren „Themen“ mit einem Glanz in den Augen, dass man sich fragt, was ihnen diese Themen so heilig macht. Barrierefreiheit im Internet, Datenfluss ohne Schranken, Reform des Urheberrechts. Es klingt nach zu wenig – und zugleich nach zu viel. Warum habt ihre keine anderen Themen?, fragen die einen. Wer geistiges Eigentum vergesellschaften möchte, will – unausgesprochen – sehr viel, sagen die anderen. Auf dem Verständnis von Eigentum, das man besitzt und veräußern kann, fußt unser Gesellschaftsvertrag. „Wir sind noch nicht so weit“, sagt der Steuermann. „Wir brauchen Zeit. Wir verfolgen nicht die Strategie, ausschließlich eine Special-Interest-Partei zu sein. Wir hatten nur schlicht noch keine Gelegenheit, unsere Ideen weiter auszuarbeiten. Das werden wir jetzt tun. Bürgerrechte und direkte Demokratie werden eine Rolle spielen.“

Der Parteitag verläuft rührend diszipliniert. Nacheinander tragen alle ihre Positionen vor: „Die Euphorie steigt uns zu Kopf“, sagt ein Mädchen. „Wir haben keine Chance auf auch nur einen Direktkandidaten. Der Direktkandidat mit den wenigsten Stimmen hatte bei der letzten Bundestagswahl 50.000 Wähler – wir hatten im Juni nur 12.000 in Berlin. Wir verschwenden Kraft, die wir dringend brauchen.“ Einer in Schwarz deklamiert mit ironischem Pathos: „Wir wollen eine Besatzung losschicken, die noch keinen Sturm gesehen hat! Die eigentlich gar keine Ahnung hat, wie ein Scheißsturm aussieht! Wozu?“ Stimmkarten werden gehoben. Stille. Es wird gezählt. 22 zu 20. Gegen Direktkandidaten. Die Piraten haben Besonnenheit gewählt.

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