Grüne Grenze

Reise Der Tourist fährt von Nordirland in die Republik, fast ohne den Übergang zu bemerken. Doch der Brexit, fürchten viele, könnte alte Wunden wieder aufreißen
Ausgabe 30/2017

Am Freitag, den 7. Juli – auf dem Höhepunkt der G20-Ereignisse – steht die Tagesschau-Sprecherin Judith Rakers fassungslos auf dem Balkon ihrer Hamburger Altbauwohnung und postet Aufnahmen von brennenden Autos vor weißgeputzten Jugendstilfassaden auf ihrem Facebook-Profil. Ihre Empörung ist so groß wie die Wut der Randalierer. Ich habe damit nicht viel zu tun. Weitab der Geschehnisse stehe ich staunend an einem türkisblauen Küstenabschnitt in Connemara, einer der überwältigendsten Regionen tief im Westen der Republik Irland. Auch ich mache Fotos, doch meine sind schöner.

Menschenseelenallein stehe ich auf einer mit sattem Grün und kleinen bunten Wiesenblumen bewachsenen Anhöhe, zwei Meter über einem im Sonnenschein blendenden Sandstrand. Der Anblick entspricht meinen primitiven Vorstellungen der Malediven, bloß dass hier die Temperatur selten über 19 Grad steigt. Seit drei Tagen schon reise ich von Dublin kommend gegen den Uhrzeigersinn durch Irland und Nordirland. Ich habe mir dazu ein großes, unpraktisches Auto gemietet, eine üppige 5er-BMW-Limousine mit einem Diesel-Motor, wie es ihn schon bald nicht mehr geben wird. Es ist das erste Mal, dass ich im Linksverkehr einen Rechtslenker fahre, doch man lernt es in fünf Minuten, und schon nach ein paar Tagen verwundert es, wie überhaupt jemand auf so eine dumme Idee kommen konnte, rechts zu fahren.

Meine erste Nacht verbringe ich in Carrickmacross, einem winzigen Ort im County Monaghan mit knapp 5.000 Einwohnern, eine Stunde nordwestlich von Dublin nahe der Grenze zu Nordirland. Gegen Mitternacht betrete ich einen der vollen Pubs. In der letzten Ecke des Ladens, gleich neben den stinkenden Toiletten, steht ein DJ an einem Klapptisch; er ist mindestens so stark betrunken und ausgelassen wie alle anderen Gäste, die Tanzmusik hat er scheppernd laut aufgedreht. Junge Frauen, viele von ihnen übergewichtig, haben sich in hautenge Stretchkleider und hochhackige Pumps gezwängt. Die Schönsten und Betrunkensten knutschen, tanzen und fummeln mit wirklich jedem der anderen Anwesenden.

Nur die Währung wechselt

Noch bevor ich mein erstes Bier bestelle, habe ich schon mit drei unterschiedlichen Typen sportkumpelmäßig abgeklatscht und ewige Freundschaft geschworen. Man freut sich hier über jeden, der auch Bock hat zu saufen. Bei derart viel Alkohol – das ist auch klar – kann die Stimmung jederzeit kippen. Dazu muss allerdings etwas Schwerwiegendes passieren, beispielsweise übersieht man die Aufforderung zum sofortigen High five. Man muss aufpassen.

Auf den angesagtesten Partys Berlins kleidet man sich seit einiger Zeit mit einer Art Anti-Mode: übergroße, katastrophale Anzüge, dämliche Frisuren, Soccer-Mom-Sportschuhe und so weiter – ein Eklektizismus der übercoolen Abscheulichkeit. Während ich die Betrunkenen von Carrickmacross bestaune, sehe ich Parallelen.

Am nächsten Tag passiere ich die nordirische Grenze. Mit dem Brexit ist die Insel wieder ins Zentrum europäischer Politik gerückt, denn nach vollzogenem Austritt entsteht zwischen Irland und Nordirland eine neue EU-Außengrenze. Das Problem, das zeigen die Verhandlungen, ist komplex: Zwar sind weder die Iren noch die Nordiren Schengen-Mitglieder, doch zwischen den Ländern herrscht Freizügigkeit für Personen und Waren. Ein völlig neues Abkommen müsste nach dem Brexit her. Zudem grassiert selbst bei den konservativen, protestantischen Unionisten der DUP, dem neuen Partner von Theresa May, Angst vor dem Aufreißen alter Wunden, würde auf den 340 Kilometern plötzlich wieder eine Befestigung hochgezogen.

Tatsächlich ist der Grenzübertritt nicht einmal mehr als solcher zu erkennen – nur die Währung wechselt von Euro zu Pfund. Ich fahre weiter über Belfast, von dort den Atlantik hoch und rund einhundert Kilometer entlang der vielleicht schönsten, felsigsten Küstenstraße Europas, der Antrim Coast Road. Dass der Frieden in Nordirland nicht einmal zwanzig Jahre alt ist, vergisst sich hier leicht. Ohnehin scheinen die Dauerprobleme weit entrückt. In einem Supermarkt in Ballymagroarty, einem Örtchen wieder westlich der Grenze, plaudere ich nett mit der Kassiererin. Vieles will sie wissen, woher ich käme, ob es denn wohl noch regne, ob mir Irland gefalle und wohin es noch gehe. Gern gebe ich Auskunft, denn Iren reden am liebsten über Irland und über Irlands Wetter, und so lässt es sich ausgezeichnet parlieren. Und ob denn Deutschland auch den Euro habe, fragt sie, als ich bezahle, interessiert, was ich – kurz irritiert – bejahe. Na, das sei doch sehr praktisch, ruft sie glücklich aus und will es sich fortan merken. Ja, das sei tatsächlich praktisch, entgegne ich und lache. Und so lachen wir beide, aus vollem Herzen und aus unterschiedlichem Grund.

Nach einem Jahrzehnt der Debatten über den Euro, die EU, die Schuldenkrise, die Schuldenbremse, die Bankenkrise und die Bankenrettung, würde man denken, dass auch im restlichen Europa die Themen präsent sind. Mindestens doch aber in Irland, das wie kaum ein anderer Staat unter der Krise von 2008 zu leiden hatte. Davon aber, dass Deutschland der Zahlmeister sein soll, der anderen die Regeln diktiert, davon scheint hier erstaunlich wenig angekommen zu sein.

Märchenhafte Aussicht

Früh am vierten Tag erreiche ich Irlands größte Insel Achill Island, die über eine Brücke mit dem Land im County Mayo verbunden ist. Es ist der erste sonnige Tag, und plötzlich schaut all das, was durch einen grauen Schleier schon bewundernswert schien, märchenhaft aus. Heinrich Böll lebte einige Monate hier, in seinem Irischen Tagebuch wusste er nur Gutes zu berichten. Seinen Aufzeichnungen stellte er sicherheitshalber einen Disclaimer voraus: „Es gibt dieses Irland: Wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keine Ersatzansprüche an den Autor.“ Das gilt noch heute. Es gibt sie, die Tchibo-bejackten Erlebnisrentner und Studienräte, die hier ihre Individualreise inszenieren. Sie stören aber erstaunlich wenig, oft muss man nur ein oder zwei Feldwege extra nehmen, ein Tiergatter öffnen und noch ein paar Meter weiter fahren, und plötzlich steht man vor einer Einmaligkeit, von der man schwören könnte, dass noch niemand sie zuvor erblickte.

Die Häuser auf Achill Island sind karg und weiß. Am Ende einer Sackgasse erreiche ich die aus Granit und Basalt geschlagene Küstenlinie der Cathedral Rocks. Ein Wasserfall kracht tief eine Felswand hinab direkt in die Brandung. Beim Brechen der stromlinienförmig verlaufenden Wellenkämme peitscht die Gischt hoch ins Regenbogenlicht der im Zenit stehenden Mittagssonne. Die Sorgen der Heimat lasse ich immer weiter hinter mir, je südlicher ich reise; durch Connemaras bei tiefstehender Sonne dunkelrot erleuchtete Berghänge und seine Malediven-Reminiszenzen, durch Kerrys Steilküsten- und Bergseepanoramen bis weit hinunter in die Stadt Youghal in der Grafschaft Cork.

Ich fahre nun eine Woche quer durch Irland, ohne einen einzigen Polizisten bemerkt zu haben – es dauert ein paar Tage, bis es mir auffällt. Nur ein einziges Mal überhaupt sehe ich zwei Beamte gelangweilt vor einem Pub stehen, an dem ein paar ältere Herren mit Akkordeon, Trompete und Fantasieuniform vorbeiziehen. Ich sehe einen maximal betrunkenen Jugendlichen mit breitem Schritt auf die Polizisten zulaufen. Er stoppt seinen Einmarsch zwanzig Zentimeter vor dem Gesicht des Polizisten und bleibt in seiner Rhetorik bestimmt. Weiter passiert nichts, er geht grölend weiter. Die Polizei erfüllt, so scheint es, eine symbolische Funktion, wie eine Bücherei. Niemand nimmt sie wahr, geschweige denn in Anspruch, aber gäbe es sie nicht, fehlte sie wohl. Und würde ein Politiker eines Tages auf die Idee kommen, sie aus Haushaltsgründen zu streichen, gäbe es gewiss eine Gruppe ehrbarer Bürger, die sich für ihren Erhalt starkmachen würde.

Zehn Tage nach dem Beginn meiner Reise sitze ich für eine letzte Nacht in einem Bootshaus am Blackwater River inmitten eines unüberblickbaren Anwesens aus dem 18. Jahrhundert. Nicht weit von mir höre ich die Schüsse auf Tontauben, abgefeuert von Herrschaften in Barbour-Jacke, Gummistiefeln und Balmoral-Mützen. Ich schaue in mein Mobiltelefon: Auch Judith Rakers hat die brennenden Autos vergessen und kehrt auf Facebook zu ihrem Lieblingsthema zurück, den Pferden. Sie postet ein Foto von sich, einen stolzen Hengst an ihre Brust drückend – sie schreibt dazu etwas von „großem Vertrauen“ und „blindem Verständnis“.

Tags darauf stehe auch ich bei einem Pferd. An einer schmalen Straße am Fuße der Wicklow Mountains, nur eine Stunde vom Flughafen Dublin entfernt, habe ich den BMW an einer der unzähligen Koppeln geparkt und steige aus. Ich streichle das Tier an seiner Stirn, während ich ihm die Reste einer in Plastik verpackten bunten Obstmischung verfüttere, die ich zuvor an einer Tankstelle gekauft hatte. Vielleicht ist es falsch, und Pferde dürfen gar kein Obst essen, aber für den Moment ist alles in Ordnung. Ich bin wie Judith Rakers.

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Timon Karl Kaleyta

Timon Karl Kaleyta, in Bochum geborener Autor und Musiker, gründete 2011 in Düsseldorf das Institut für Zeitgenossenschaft IFZ.

Timon Karl Kaleyta

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