Auferäumarbeiten

Im Kino "I love Beijing" von Ning Ying fährt mit einem Taxifahrer durch die "geliebte" Stadt, von der auch weniger liebenswerte Seiten gezeigt werden

Die Eingangssequenz des Films ist wie eine kleine Sinfonie komponiert. Fußgänger, Radfahrer, Busse und Autos in ständiger Bewegung fließen ineinander und aneinander vorbei wie der Blutkreislauf eines Organismus. Unterlegt sind diese Bilder mit einem Jazz-Soundtrack, der an eine der Jam Sessions von Miles Davis erinnert, wo sich die Geniestreiche der einzelnen Instrumente immer wieder zu einem harmonischen Ganzen zusammenfinden, um gleich darauf erneut ihre eigenen Wege zu gehen. Das rhythmische Hinundher von Chaos und Ordnung ist in den Bildern gleichermaßen angelegt wie in der Musik. Während "Jam" beim Jazz vor allem den improvisierten und nicht wiederholbaren Moment meint, bedeutet es im Kontext der Verkehrsströme eine Verstopfung als vorübergehende Blockade. Am Ende dieses filmischen Prologs sehen wir denn auch, wie sich mitten auf einer Kreuzung Radfahrer, Busse und Autos gegenseitig blockieren, so dass gar nichts mehr geht und für einen Moment ein allgemeiner Tumult ebenso möglich erscheint, wie ein improvisiertes Straßenfest. Der nächste Moment bleibt offen.
Diese Offenheit ist auch das bestimmende Merkmal im Alltag des Taxifahrers Dezi. Auf seiner Rückbank ist ein ständiges Kommen und Gehen. Taxis sind eine recht neue Einrichtung in Beijing und Dezis Mobilität ist ein Privileg. Für ihn liegt in jedem Tag eine neue Chance, denn jeder Blick in den Rückspiegel in eines der ständig wechselnden Gesichter könnte der Beginn von etwas Neuem sein - vor allem wenn es das Gesicht einer Frau ist. Dezi ist auf der ständigen Suche nach Liebe, wobei nicht ganz klar ist, ob er sich darunter einen Dauerzustand vorstellt oder ein vorübergehendes Stillhalten des Taxameters.
Als wir ihn das erste mal sehen, sitzt er mit seiner Frau Lin Fang beim Scheidungsanwalt. Das Paar ringt mit der einmal getroffenen Entscheidung, sich zu trennen, die schon wieder überholt zu sein scheint. Man will nicht mehr, aber keiner der beiden scheint mehr zu wissen warum. Als Lin Fang dann doch beharrt und schließlich auch Gründe vorbringen kann, verflucht Dezi sie. Sein Ärger verfliegt freilich schnell und bald schon sitzt er wieder mit seinen Kollegen in der Sauna, redet von neuen Autos und neuen Frauen und dem möglichen Zusammenhang zwischen beiden. Und bald schon taucht ein neues Gesicht in seinem Rückspiegel auf und Dezi erhält eine neue Chance.
Der im Wandel befindlichen Stadt, für die sich der Film interessiert, steht der Transit-Raum von Dezis Taxi gegenüber, das ihm seine Welt ist. Seine wechselnden amourösen Bekanntschaften geben ihm und uns kurze Einblicke in verschiedene Biografien, in Wohnungen und Schnellrestaurants, in die Nachtclubs der neuen Reichen und in die trüben Gassen dessen, was hier zurecht als Halb-Welt bezeichnet werden könnte, denn niemals geben einem die kurzen Fragmente das Gefühl, sie würden sich jemals zu einem ganzen zusammenfügen.
Als Portrait einer geliebten Stadt, wie sein Verleihtitel suggeriert, bleibt der Film ambivalent. Weder erscheint die Portraitierte besonders liebenswert, noch wird sie in den Ansichten, die wir von ihr bekommen, wirklich greifbar. Obwohl Beijing permanent anwesend ist, bleibt die Stadt eine Flüchtige, und wo immer wir ihr in dem Film zu begegnen glauben, werden wir das Gefühl nicht los, dass sie eigentlich schon wieder abwesend ist, dass wir nur noch den Luftzug zu spüren bekommen, der uns in den Nacken bläst aus der offenen Tür, durch die sie soeben verschwunden ist. Die Liebe braucht ein gewisses Maß an Permanenz, heißt das, sonst kommt der Liebeserklärung beizeiten das Du abhanden.
Als eine seiner Geliebten sich umgebracht hat, steht Dezi neben einem Polizisten in ihrem Zimmer. Während die Leiche in einem Sack verstaut wird, fragt ihn der Polizist, ob irgendetwas hier ihm gehöre, und Dezi zeigt auf einen Papierdrachen an der Wand. Die Traurigkeit dieser Szene, so scheint es, wirkt auf den Zuschauer stärker als auf Dezi selbst. Der Tod der einmal Geliebten scheint ihn weniger zu berühren, als kurz darauf ein Fahrgast, der seine Zeche nicht zahlen kann. Die unbarmherzige Art, mit der sich der Taxifahrer an dem offenbar völlig mittellosen Mann rächt, ist ein weiterer Stein in der Mauer, die den Protagonisten vom Betrachter trennt. Dezi ist keinesfalls ein sympathischer Held. Zwar freut man sich manchmal mit ihm über einen glücklichen Moment, vor allem scheint ihm aber im ständigen Kommen und Gehen der Tage und Gesichter die moralische Integrität abhanden zu kommen.
Anders als bei seinem Kollegen Travis Bickle in Taxi Driver droht sich das fetzenhafte Erleben der Stadt bei Dezi nicht zu einer handfesten Paranoia zu verwachsen. Zwar ist auch er ein Einzelkämpfer, jedoch in eigener Sache, während der Taxi Driver zumindest in seiner Selbstwahrnehmung als Racheengel figuriert. Die Parallelen zwischen beiden Filmen sind zwar kurzlebig, wenn man sich aber erinnert, dass Travis Bickle dem inneren Ruf folgt, es müsse mal jemand richtig aufräumen, dann wird einem auffallen, dass in I love Beijing die Aufräumarbeiten in vollem Gange sind, und zwar in einem Maße, dass das, was aufgeräumt werden soll, in der Gefahr zu stehen scheint, gleich mit entsorgt zu werden.
Für Travis Bickle wird die Offenheit des Taxis zu einer offenen Wunde, die ihn den Agonien der Stadt aussetzt. Für Dezi ist sein Taxi dagegen die Chance, mit dem Tempo der sich verändernden Stadt Schritt zu halten, um nicht selber aufgeräumt und entsorgt zu werden, wie die Altlasten um ihn herum. Während also die Stadt als Fratze des Sozialen bei Travis Bickle zur Paranoia führt, ist Dezi das Paradebeispiel für das entwurzelte Individuum, dem es darum geht, in den Ruinen des Sozialen seine Coups zu landen.
Indem nun der Film einer Stadt ohne Gesicht dennoch seine Liebe gesteht, hält er gegen die Paranoia radikaler Veränderung und gegen das egoistische Gewusel auf der Mikroebene an der Utopie eines gemeinschaftlichen Raums fest, der kleiner ist, als die "Welt da draußen", aber auch größer als ein Taxi. Dass die Keimzelle für einen solchen Raum durchaus die Liebe zwischen Zweien sei, darauf möchte der Film nicht verzichten. Aber selbst diese Lektion der Gegenseitigkeit muss Dezi erst noch lernen. In der letzten Szene sitzt wieder eine Fremde auf seinem Rücksitz, wieder fahren sie über die Stadtautobahn. Diese Frau aber löst sich aus dem schon kaum mehr zu unterscheidenden Strom von Gesichtern, indem sie ein wunderschön trauriges Liebeslied singt, dabei aus dem Fenster schaut auf die Stadt, die diese Liebe trotz allem verdient hat, und dann Dezis Gesicht im Rückspiegel fragt: "Hat dir schon mal jemand das Herz gebrochen?" Er antwortet nicht, aber er und wir wissen, dass die Antwort "Nein" heißen müsste, weil nämlich Glück nicht in einer Aneinanderreihung glücklicher Zufälle besteht, sondern weil es bei allem Risiko in jedem Spiel darauf ankommt, dass man irgendwann seinen Einsatz macht.

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