Wenn tatsächlich, wie die Sprache floskelt, alles Gute von oben käme, wäre der Ort des Bösen unmissverständlich markiert. In Ben Hopkins' apokalyptischer Parabel verlaufen die Grenzen jedoch etwas anders. Zwar kommt hier vieles von unten, namentlich Tomas Katz, die Titelfigur. Was es jedoch genau mit unten und oben und mit der Verortung von Gut und Böse auf sich hat, bricht sich in einer nervösen Verschiebung der Bedeutungen, wie sie die Erwartung des Weltendes nun einmal heraufbeschwört.
Am Rande einer Autobahn kriecht Tomas Katz aus einem Gully. Ein lumpiger Messias, ohne frohe Botschaft im Gepäck. Und wäre er ein Usurpator, ein gescheiterter Messias? Vielleicht konnte er damals in der Wüste den Versuchungen des Teufels doch nicht widerstehen und hält seitdem verbissen an einer Mission fest, deren Verfallsdatum abgelaufen ist. Vielleicht ist er auch derjenige, der einmal zur Unzeit das Weltende prophezeit hat, ein jugendlicher Heißsporn damals im Kreise der himmlischen Heerscharen, nun auserwählt, die letzte Runde einzuläuten.
Ruppig winkt er sich ein Taxi und holt sich vom Fahrer das erste der neun Leben, die ihm der Filmtitel zubilligt. London ist das Zielgebiet. Von der Ringautobahn, die die Stadt wie ein magischer Kreis umgibt, arbeitet sich der grimmige Erlöser ins Zentrum vor, wo die Uhr am Picadilly Circus drohend die Minuten bis zum Jahrtausendende zählt, während im Hyde Park die Propheten zum letzten Gebet rufen.
Es steht nicht gut um diese Welt. Und das Auftreten des Tomas Katz gibt dieser Ahnung recht. Er scheint gekommen, um letzte Hand anzulegen und die Schlüsselpositionen für das Szenario der letzten Stunde zu besetzen. Neun Opfer kreuzen seinen Weg. Wie ein Körperfresser raubt er ihnen die Identität und spuckt sie an den Stadtrand, wo sie sich vor dem selben Gullydeckel wiederfinden, dem er eingangs entstiegen ist. Ob als Erlöste oder Verdammte, weiß man nicht. Ein Blick nach oben noch, von wo aus ihnen vielleicht einmal das Blaue herunter versprochen wurde, und dann steigen sie hinab wie die Lemminge. In die Kanalisation? Ins Paradies? In die Unterwelt? Oder schlicht und einfach in den Kopf von John Malkovich?
Wären wir vertraut mit den Kanälen und Leitungen, die unter der Oberfläche ein Netzwerk aus Verbindungen schaffen, verstünden wir vielleicht die Merkwürdigkeiten, die sich überirdisch ereignen. So aber fallen die Bilder übereinander her, ihr Zusammenhalt ist assoziativ, nicht narrativ. Sie öffnen Tür und Tor, nur wem und was? Aber warum auch sollte die Apokalypse mit der Stringenz einer Geschichte über uns hereinbrechen. Schließlich wird es keine Enkel geben, denen wir sie erzählen könnten. Und was wären das für Enkel, die sich darauf einen Reim machen könnten: Aus dem Gully kam er hochgekrochen, und dann zettelte ein Taxifahrer einen Aufstand in einem koscheren Schlachthaus an, und dann erklärte der Fischereiminister einem Land, dessen Namen sich niemand merken konnte, den Krieg, und die U-Bahn beförderte einen ins Jenseits, und die Polizisten redeten Kokolores, und im Fernsehen war man sich einig, dass die Kinder an allem schuld sind. Und man hörte von einem Taucher, der durch einen Schwanenteich nach Japan tauchen wollte.
Ben Hopkins' grobgekörnte schwarz-weiße Bilderwelt breitet sich wie ein Rhizom auf der Leinwand aus. Als gäbe es einen Bauplan, eine Formel, die garantiert, dass sich von einem Bild zum nächsten Bedeutungslinien spannen. Wie ein Wanderfalke nistet sich der Film im Oberstübchen des Betrachters ein. Dort flattert er nervös herum, stößt Türen und Fenster auf und lässt einen in der Zugluft sitzen. Man lässt ihn jedoch gewähren. Denn auch das, so weiß man, war nur eine Assoziation unter vielen möglichen.
Der Glaube an einen Sinn im Irgendwo ist eine archaische Intuition, für die sich Religion und Semiotik bisweilen das Vokabular ausleihen. Indem der Film sie einem nahe legt, versetzt er einen gegenüber seiner Bilderwelt in ein apokalyptisches Verhältnis: Ohne Gottvertrauen geht hier gar nichts. Als spöttischer Kommentar auf diesen Kuhhandel zwischen Film und Zuschauer schwebt ab und an ein runzeliger Embryo durchs Bild: das "Astralkind", in die Fruchtblase gesperrt wie in eine Zwangsjacke. Es muss gerettet werden, denn es "repräsentiert das Dasein". Mit dieser Repräsentation verhält es sich freilich nicht anders, als mit der Nabelschnur des Embryos: im Mutterleib schon abgetrennt, schon vor dem ersten Schrei. Von wegen also Repräsentation und Bedeutung, und nicht einmal, ob wer's glaubt, denn selig werde, steht irgendwo geschrieben.
Ben Hopkins erzählt seine Parabel mit dem entrückten Eifer eines Straßenpredigers. Am Ende der Offenbarung weiß man nicht, ob die Unbehaglichkeit, mit der man dem Abspann zusieht, bereits die nachhaltige Wirkung des Films, oder eher sein Versagen ankündigt. Auch bei den wirren Weisen auf den Straßen weiß man ja nicht, ob die Verwirrung bedeutungsschwanger ist, oder lediglich der Beweis für die Unzurechnungsfähigkeit des Redners.
Am Ende des Films ist die Welt untergegangen. Die Seelen erklimmen als Prozession lebender Toter einen Berg im Jenseits. Vielleicht wird vom Berg herunter jemand zu ihnen sprechen, eine Bergpredigt, die gleichzeitig das Jüngste Gericht wäre. Die spannende Frage dabei: Wer wird diesmal selig gesprochen? Etwa einmal mehr die geistig Armen? Jedenfalls kann man sich nachher das Amen sparen, denn das hieße ja bekanntlich: "So sei es". Und das wäre nach der Apokalypse wohl ein schlechter Witz.
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