Unlängst wurde der Berliner Galerie Giedre Bartelt ein Exponat aus der Ausstellung Fotografie und Sowjetzensur 1960 - 1989 gestohlen. Die Arbeit von Vytautas Balcytis aus dem Jahr 1983 zeigt zwei an einem Schreibtisch sitzende Personen, offenbar in einem Amtszimmer. An der Wand hinter den beiden hängt ein leicht aus der Waage gerutschtes Lenin-Porträt. Vielleicht hätte bereits diese leichte Dezentrierung des Revolutionsführers ausgereicht, um die Fotografie an der Zensur scheitern zu lassen. Der Eklat dieses Bildes besteht jedoch darin, dass die beiden am Schreibtisch Sitzenden Gasmasken tragen und in dieser unvorteilhaften Kostümierung gar nicht mehr aussehen wie Menschen, sondern wie Rüsselwesen, die irgendeine niemandem verständliche Kontrollarbeit zu verrichten haben. Die Szene ist grotesk, und die Groteske ist der Feind aller, denen es unmöglich oder verboten ist, über sich selbst zu lachen.
Das Bild zeigt eine ganz reale und alltägliche Situation, nämlich zwei sowjetische Angestellte an ihren Arbeitsplätzen während einer Übung der "Zivilverteidigung". Mit welcher Obliegenheit die beiden beschäftigt sind, bleibt offen, man könnte sich jedoch gut vorstellen, dass es zwei Zensoren bei der Arbeit sind. Man möchte es sogar glauben, wenn man eine Weile auf das Bild geschaut hat, denn es würde dem Gefühl recht geben, das man in dieser Ausstellung sowieso nicht los wird: dass es nämlich im Grunde eine Ausstellung über den Zensor ist, seinen Blick und die manchmal simplen, manchmal aber auch höchst komplexen Motive, die diesem Blick Norm und Maß gaben.
Wo das gestohlene Bild hing, klafft nun eine Lücke. Auch die Arbeit des Zensors resultierte in Lücken an der Wand. Für den Fall, dass die Lücken zu groß wurden, hatten die sowjetischen Aussteller stets einen Zettel zur Hand mit der Aufschrift: "Aus technischen Gründen geschlossen". An der Tür der Galerie Bartelt hängt nun ein Steckbrief des gestohlenen Fotos.
Gleich neben der Lücke hängt eine Arbeit von Antanas Sutkus, die einen im Stile des frühen Marlon Brando gekleideten jungen Mann in einem Bus zeigt und hinter ihm einen Milizionär, der dem verwestlichten Individuum einen giftigen Blick zuschießt. Dieser boshafte und gleichzeitig überhebliche Blick des Milizionärs im Bus verrät schon eine Menge über den Blick des Zensors, dem wir in dieser Ausstellung begegnen. Im Grunde aber stelle ich mir diesen Blick noch subtiler vor, genauer, interessierter, durchaus mit einem Gespür für die Verwerflichkeit des eigenen Tuns, aber dennoch selbstbewusst. Dem Blick eines Fetischisten vielleicht ähnlich und ebenso wie dieser von einer sehr ambivalenten Reizbarkeit.
Die konkreten Gründe, warum eine Fotografie von der Zensur nicht freigegeben wurde, sind ihr nicht immer gleich anzusehen. Intern sind die Arbeiten in lose thematische Gruppen gegliedert, man könnte sagen nach den Fettnäpfchen geordnet, in die man als Fotograf in der Sowjetunion der Vor-Perestrojka-Zeit treten konnte: Umweltverschmutzung, verdrängte Geschichte, Religion, nackter Körper. Neben diesen wenig überraschenden Sensibilitätszonen sind aber auch andere ausgewiesen, bei denen es um den "richtigen" Blick, manchmal um Nuancen geht: Kindheit, Landleben, Formexperimente.
Wie sensibel die Zensur auf die suggestive Kraft der Fotografie reagierte, zeigt etwa eine Arbeit aus der Serie Auf den Landmärkten von Aleksandras Macijauskas. Auf dem beanstandeten Foto ist ein auf dem Boden liegendes gefesseltes Kälbchen zu sehen, dem sich vom rechten Bildrand her ein gestiefeltes Bein nähert. Der Zensor hat hier eine Metapher gesehen: das hilflose Kälbchen steht für Litauen und der Stiefel für die sowjetische Besatzungsmacht. An diesem Beispiel wird deutlich, wie erst die Furcht des Zensors das dokumentarische Bild zur subversiven Ikone erhöht.
Es überrascht zunächst, dass in einer Ausstellung über Sowjetzensur einschlägige Arbeiten über den Gulag, über Vertreibung, Verschleppung und Ermordung fehlen. Nach einer Weile weiß man es jedoch zu schätzen, dass die von Margarita Paskeviciute kuratierte Auswahl darauf abzielt, sich mit dem leicht paranoiden Blick des Zensors zu befassen und zu verstehen, dass sich das Ausmaß der Gängelung gerade am Harmlosen zeigt. "Totalitäre Staaten hassen das tägliche Leben", habe ich im Beitext zu einer Monographie von Antanas Sutkus gelesen. Das Widersinnige an der staatlichen Zensur ist ja, dass unter einem Realismusanspruch am öffentlichen Erscheinungsbild der Gesellschaft herum retouchiert und geschnipselt wird, während doch die Menschen selbst tagtäglich mit der unretouchierten Realität leben und leben müssen.
Der alles durchdringende Anspruch der Ideologie bestimmt auch das Ausmaß der Empfindlichkeit und Zuständigkeit des Zensors. Man sollte aber nicht allzu voreilig das Problem der Zensur als einen ungleichen Kampf zwischen freiheitsliebender Kunst und paragraphen- und phobiengeleitetem Technokratismus festschreiben. Es ging durchaus auch um ästhetische Fragen, und auch wenn man die staatliche Zensur nicht zur bloßen Geschmacksfrage verharmlosen sollte, so lohnt es sich doch, in dem alltäglichen Kleinkrieg um die Freigabe einer Fotografie auch eine Auseinandersetzung um Aufgabe und Stellenwert der Fotokunst zu sehen, um die Frage etwa, welche Berechtigung der Realismus hat und wieso nicht jeder Realismus ein sozialistischer sein darf, was überhaupt Realität sei und warum ihre Darstellung notwendig unverfälscht zu geschehen habe. Ganz so wie man es im Westen ja auch tut, wenn eine Boulevardzeitung oder ein Bürgermeister es mal wieder geschafft haben, einen Künstler und sein Werk zu diffamieren.
Stellt man sich die scheinbar endlosen Möglichkeiten vor, die Zensur zu provozieren, so könnte man am einen Ende der Skala wohl ein Foto eines ermordeten Dissidenten oder einer mit Taubenkot verdreckten Büste des Revolutionsführers ansiedeln. Am anderen Ende könnte das Foto Wand von Stanislovas Zvirgzdas stehen, eine Arbeit aus dem Jahr 1981, auf der ein Scheunentor zu sehen ist, das fast die gesamte Bildfläche einnimmt und durch die perspektivische Verzerrung etwas Überdimensionales und Bedrohliches hat. Wenn man sich fragt, warum dieses Bild aus einer Ausstellung entfernt wurde, so lenkt sich das Augenmerk auf das silberne Vorhängeschloss, das ziemlich genau in der Bildmitte das Scheunentor, wenn auch provisorisch, verschließt. Dieser kleine, in der Sonne blitzende Fleck auf dem düsteren Hintergrund des Tores wirkt wie eine fröhliche Obszönität und wird den Zensor möglicherweise auf eine Art alarmiert und zur Raserei gebracht haben, die ihm selbst unheimlich war. Denn ungeachtet der möglichen Interpretation, dass das provisorisch verschlossene Tor dazu animieren könnte, es aufzureißen und das Verborgene ans Tageslicht zu holen, nimmt das blinkende Vorhängeschloss die Stelle eines Fetischs ein. Gäbe es ein Zunftzeichen des Zensorenhandwerks, so wäre es zweifellos ein Vorhängeschloss. In dieser Arbeit ist für mich der Reiz dieser Ausstellung auf den Punkt gebracht, nämlich ein Stück weit verstehen zu lernen, dass jedes totalitäre System von einer tiefgehenden Paranoia zusammengehalten wird, und dass ein solches System umso angreifbarer wird, je umfassender es sich gebärdet.
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