Die Endung "-ado" signalisiert im Portugiesischen eigentlich die Vergangenheitsform der regulären Verben. "Fado" hieße demnach "gemacht", aber da "fazer" (machen) kein reguläres Verb ist, heißt "fado" eben was anderes, etwa Schicksal oder auch Verhängnis. Das Los, das man gezogen hat, das ist "fado". Damit wäre "fado" so etwas wie der Komplementärbegriff zu "saudade", einer Sehnsucht, von der Anita meint, dass sie sich auf etwas Vergangenes bezieht, und von der die Portugiesen behaupten, dass kein Nicht-Portugiese sie jemals verstehen und kein Portugiese sie jemals vergessen könne.
Anita hat uns zum Fado mitgenommen. Während der Fado in Lissabon, wo er herkommt, zum festen Bestandteil des Eventtourismus gehört, finden Fadoabende in Porto eher privatim statt, in Kneipen, die aussehen wie Vereinslokale oder jemandes Küche. Von außen war gar nicht zu erkennen, dass drinnen etwas stattfand. Kondenswasser hatte die Scheiben blickdicht gemacht. Wir betraten den Raum von der Bühne aus, weil die beiden Musiker gleich neben dem Eingang und der jeweilige Sänger quasi zwischen ihren Beinen platziert war. Eine Bühne entsteht, wenn man die Topfpflanzen wegräumt. Als durch Stühlerücken Platz für uns geschaffen war, griffen die Gitarristen den ersten Akkord und der Sänger griff sich an den Hals, räusperte sich, spannte dann mit einem Ruck Schultern und Kreuz und sah dadurch gleich um zehn Jahre jünger aus, als er nun seinen Fado anstimmte. Sein vorstehender Unterkiefer half ihm beim Tremolo. Wenn ich jetzt an ihn denke: ein Pelikan, der etwas in seinem Halsbeutel hortet. Sein Blick war glasig und zugleich hellwach, fast erschrocken, die Lippen gespitzt, die Nase ein Flattern, die Wangen zwei rote Scheiben. Hier und da sprang in seinem Gesicht großartig blau ein Äderchen, während er seinem Fado den nötigen Nachdruck verlieh. Schon dieser erste lehrte uns, dass der Fado zwar die begleitenden Gesten des Ringens und Leidens braucht, aber auch mit Anstand durchgestanden sein will. Es braucht Passion, aber es braucht auch die Beherrschung. Der Fado geschieht gewissermaßen auf dem Gipfel der Beherrschung, wo noch kein Eklat ist, aber schon das für alle sichtbar pochende Herz wie eine obszöne Sonne.
Der Applaus kommt schon, während der Vortragende noch den letzten Vers in die verrauchte Luft entlässt. Um zu bedeuten, dass alle den Text kennen und die Dramaturgie, dass sie den Fadista begleitet haben durch seine Passion und er sich nun wieder unter sie setzen könne mit dem Wissen, sich entblößt, aber sein Gesicht gewahrt zu haben. Das war eine der schönsten Gesten in diesem von Gesten fest verschnürten Ereignis, dieser Applaus, der immer von einem kurzen Johlen begleitet war und der die Sänger wie ein Spalier empfing am Ende ihres Fado. Der Abend hatte um sechs begonnen, um halb acht gab es eine Pause, in der sich alle ihr Abendessen bestellten. Ein zweites Licht wurde angemacht und es wurde Kabeljau gegessen und Hühnermägen in Tunke mit Brot und Rotwein dazu. Alles passierte in Enge, aber ohne Eile, und ein Gutteil derer, die jetzt lachend das Brot in ihre Tunke stippten, hatte zuvor bereits gesungen. Eine junge Frau saß mir nun gegenüber und aß ein Toast. Sie hatte Ringe unter den Augen wie Gletscher, ihr Gesicht war blass, die Lider schwarz gerandet. Bei jedem Lied hatte sie geheult und sich die Nase in ein rosa Stück Klopapier geschnieft, das nun aussah wie Origami. Aber zwischen den Liedern lachte sie einer Freundin zu hinterm Tresen und ließ sich Feuer geben für eine neue "Ventil" von ihrem Nebenmann, der offenbar ihr Freund war. Dann ging das Licht wieder aus und der kleine Raum war nur von der Bar her beleuchtet, von einer bläulich schimmernden Insektenfalle und der Süßspeisenvitrine, in deren Rückwand sich eine welke Birne und ein paar vereinzelte Pastetchen spiegelten. Ein fast unerträgliches Alter hing in dem Raum, aber dagegen gehalten die Gegenwart, das ellenbogen- und kniescheibennahe Ringen der Fadistas, das Zittern ihrer schönen dünnen Stimmen, das Krallen ihrer Hände, die sich gegenseitig hielten. Da wurde zwar zitiert, was jeder mitsingen konnte, aber da wurde trotzdem, so glaubte ich als Fremder, von ihrem Heute gesungen, von ihrem Leben zwischen Campo Alegre, Hospital San Antonio und Palacio Cristal. Der schönste Fado des Abends handelte von diesem Porto, beschrieb die Gegend, in der wir saßen, den Blick vom "Jardim dos Sentimentos" (dem Garten der Gefühle) hinunter auf den Douro und flussabwärts zum Atlantik. "Palacio Cristal" klang in diesem Lied wie das Paradies, aus dem wir für immer vertrieben worden waren, und es gab dem Vortrag eine besondere Schönheit, zu wissen, was alle wussten: dass nämlich der heutige Palacio Cristal eine in den fünfziger Jahren gebaute Turnhalle von der Form eines Sturzkuchens ist.
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