Gas

Kehrseite I Robert war da. Ich stand im Garten und hatte gerade angefangen, mit der Sense ein Quadrat in die Wiese zu mähen, um ein Beet anzulegen. Ich hörte ein ...

Robert war da. Ich stand im Garten und hatte gerade angefangen, mit der Sense ein Quadrat in die Wiese zu mähen, um ein Beet anzulegen. Ich hörte ein Knirschen und dachte, es käme von meinen Füßen, dann hielt ich es für ein Geräusch, das meine Schultern machen beim Schwingen der Sense. Erst als ich ein Hupen hörte, war mir klar, dass ein Auto gekommen sein musste. Ich lief ums Haus herum und sah Robert, wie er ins Küchenfenster spähte.

Wir gingen durchs Haus, ich zeigte ihm alles, ich öffnete Türen und er steckte den Kopf in die Zimmer und warf mir kurze Blicke zu, die ich nicht deuten konnte. Ich fühlte mich unbehaglich, als sei Robert ein potentieller Käufer, und ich dafür sorgen müsse, dass er das Haus kaufe. Oder als habe ich das Haus gekauft, und warte nun auf seine Bestätigung, dass es ein guter Kauf war. Als er das Moskitonetz über dem Bett sah, imitierte er das Geräusch einer Mücke, bssss, und landete seinen Zeigefinger in mein Ohr. Gesagt hat er nichts und ich auch nicht, bis wir im Garten saßen auf den Stühlen, die ich im Gras gefunden hatte und die ich mittlerweile mit einigen Winkeln stabilisiert hatte.

"Landflucht" war sein erstes Wort. "Stadtflucht", korrigierte ich ihn, bereute es aber schon, als ich es sagte, weil ich wusste, er würde mich nach Gründen fragen, und würde die Frage mit "Was um alles in der Welt" beginnen. Ich sagte: "Ich weiß es auch nicht", bevor er die Frage überhaupt stellen konnte. Das hätte ja gut geklappt, meinte er, als hätte ich die ganze Zeit einen Plan verfolgt, der nun hier mit Garten und Haus und Nichtstun in Erfüllung gegangen sei. Er fand, ich sei fein raus. Ich saß nur da, die Hände hinter dem Kopf, und strich mit den Daumen über die Knubbel auf meinem Schädel. Vielleicht hätte Robert mir helfen können, herauszufinden, warum ich hier bin. Aber ich spürte einen Spott in allem, was er sagte, einen Spott, der den Groll verdecken sollte, den er gegen mich hatte, weil ich hier draußen war. Erst wenn er über den Groll redet, dachte ich, werde ich darüber reden, dass ich nicht weiß, was ich hier mache.

Was ich denn den ganzen Tag so mache, wollte er wissen, und ich erzählte ihm von dem Schornsteinfeger, der am Morgen da gewesen war und die einzige Abwechslung seit Tagen. Schornsteinfeger seien Spitzel, meinte er. Eine ganze Branche, die nur von alten Privilegien lebe. Die man heutzutage gar nicht mehr bräuchte, weil moderne Heizungsanlagen nicht mehr rußten. Der ganze Schnickschnack mit den Zylindern und den Kugelbesen sei ein einziger Firlefanz. Es gäbe im Internet eine Website, die mit dem ganzen Schornsteinfegerbluff ein für allemal aufräume. Auch der Mythos, dass Schornsteinfeger Glück brächten, sei nur eine Ironisierung der Angst vor der Obrigkeit gewesen. Denn Schornsteinfeger seien für die Lehnsherren immer ein praktisches Mittel gewesen, den Privatbereich ihrer Untertanen auszuspionieren, ohne auf sichtbare Zeichen von Gewalt zurückgreifen zu müssen. Wem der Schornsteinfeger einen Fleck auf der Wange hinterlassen habe, der sei als braver Untertan gekennzeichnet gewesen. "Für ein Jahr war dann Ruhe", meinte Robert, und ich musste an die Bemerkung des Schornsteinfegers denken, bis zum nächsten Jahr sei erst mal alles in Ordnung.

Ich stöhnte laut auf. Ich kannte Roberts Verschwörungstheorien. Ich wollte sie nicht hören. Ich war einmal bei ihm zu Besuch gewesen, als es an der Tür klingelte und jemand von den Gaswerken den Zählerstand ablesen wollte. Ich hörte, wie die Tür wieder ins Schloss fiel, und als ich in den Flur ging, sah ich, wie Robert mit einer Polaroidkamera, die offenbar bereit gelegen hatte, ein Foto seines Gaszählers machte. Dann öffnete er die Tür einen Spalt, hielt dem Mann von den Gaswerken die Kamera hin, ließ ihn das Foto aus der Kamera ziehen und wartete mit verschränkten Armen darauf, dass das Bild sichtbar würde. An der Haltung des Mannes, den ich durch den Türspalt sehen konnte, sah ich, dass er das Prozedere kannte. Nach einer Weile nickte er und ging, ohne Robert noch einmal anzusehen. Robert schloss die Tür, sah mich mit großen Augen an, lachte und sagte: "Gas!"

Ich kenne niemanden, der so ist, wie Robert. Ich glaube, wir denken beide, dass wir den anderen vor sich selbst beschützen müssen. Das verbindet. Robert würde lachen. Ich habe mir angewöhnt, an der Lautstärke seines Lachens den Grad seiner Unzufriedenheit abzulesen. Heute Nachmittag haben wir nicht gelacht. Ich habe Robert den Garten gezeigt. Wir haben in den Brunnenschacht gesehen und ich habe hineingerufen: "Robert!", um ihm zu demonstrieren, dass kein Echo kommt. Er hat den Rest seines Kaffees in den Schacht gekippt und wir haben auf das Plätschern gelauscht. Es kam spät.

"Du hältst mich für einen Versager", habe ich ihm gesagt, und er meinte: "Ich glaube, dass du dir was vormachst." Ich habe es nicht verstanden, aber ich habe nicht gefragt, wie er es gemeint hat.

Als er wieder gefahren ist, sah ich auf dem Rücksitz seines Wagens die kleine Reisetasche, die er immer auf Kurzurlaube und Geschäftsreisen mitnimmt.

Tobias Hering, Jahrgang 1971, lebt als freier Autor in Berlin.


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