Irgendwo muss das Leben ja stattfinden

Die Baustellen-Euphorie ist verflogen Drei neue Berlin-Filme spielen in einer Stadt, die keine Garantie mehr bietet für ein geteiltes Lebensgefühl

Establisher" nennt man in Filmen die Bilder, die den Ort der Handlung spezifizieren. Meist geschieht das durch den Verweis auf das Typische oder das, was als solches angenommen wird. Der jeweiligen Verortung hängt sich dann beim Zuschauer eine ganze Kette von Fantasien und Assoziationsmöglichkeiten an, auf die der Film bei Bedarf zurückgreifen kann. Auch für Berlin gab und gibt es solche Establisher. Die Assoziationsketten unterliegen freilich einem ständigen Wandel. Die Stadt etwa, von der Peter Lorre in Fritz Langs M als Mörder gesucht wird, ist eine andere als die, in der er als Der Verlorene fünfzehn Jahre später immer noch mordet. Das einzige, was Wim Wenders´ Berlin mit dem von Heiner Carow gemeinsam hatte, war der Himmel darüber. Die eigentümliche Sehnsucht in Wenders´ legendärem Berlin-Film entsprang geradezu der schmerzlichen Tatsache, dass sein Berlin ein anderes war, als das, in dem sich Paul und Paula ineinander verliebten.

Nach dem Fall der Mauer änderten sich von neuem die Establisher. Man lief nun nachts im Neuschnee die Karl-Marx-Allee rauf und runter und traf sich in schlecht beheizten Kellerräumen bei Techno und Becks. Und wenn man die Orientierung verloren hatte in dieser Stadt, die man erst noch erkunden musste, dann gab es einen neuen Fixstern: die Kugel des Fernsehturms am Alexanderplatz. Für den Film lag das Nachwende-Berlin ein paar Jahre lang stets im Osten, weil sich hier die für ein Drehbuch so wichtigen Plotpoints glaubhaft erfinden ließen. Die "Wende" selbst war ein solcher Plotpoint und Ost-Berlin wurde sozusagen zu einem einzigen Establisher.

Ein paar Jahre lang konnten Filme mit dem "Berlin-Feeling" wuchern. Der Verweis auf die alt-neue Hauptstadt schloss einen Film scheinbar mühelos an ein Lebensgefühl an, für das es andernfalls nur schwer Bilder und kaum Worte gegeben hätte. Wenige Bilder schienen zu genügen, um eine ganze Welt von Gefühlen zu erschließen - Gefühle und Assoziationen, die nicht mehr ausgesprochen werden mussten, die Teil eines warmen, verständnissinnigen Humus waren, auf dessen Grundlage einige Filme tatsächlich dramaturgisch gut funktionierten. Für seinen Film Das Leben ist eine Baustelle fand Wolfgang Becker in Berlin die einzig passende Kulisse. Vielleicht ließe sich in diesem Fall sogar sagen, dass die Kulisse den Film fand, jedenfalls wäre ohne Berlin wohl bis heute noch niemand auf diesen schönen Titel gekommen. Als Berlin eine Baustelle war, durfte es auch das Leben ungeniert sein. Die Stadt gab einem recht.

Vielleicht jedoch hat dieser allzu mühelose Verweis auf ein scheinbar geteiltes Lebensgefühl dazu geführt, dass man sich weniger um die Nuancen bemühte. Derzeit laufen drei neuere deutsche Filme in den Kinos, in denen sich ein deutliches Misstrauen gegenüber dem wohlfeilen Referenzraum Berlin zeigt. Thomas Arslans Der schöne Tag, Angela Schanelecs Mein langsames Leben und Maria Speths In den Tag hinein spielen alle in Berlin, ohne darin einen Standortvorteil zu sehen. Schon die Titel deuten eine Verwandtschaft der Filme an. Was sie verbindet, ist das gemeinsame Interesse für das scheinbar Unspektakuläre und Alltägliche. Die Leute haben eine Arbeit und wohnen nicht mehr in bröckeligen Altbauten im Prenzlauer Berg, sondern in City-Apartments irgendwo dort, wo Berlin am wenigsten auffällt. Die Stadt tritt zurück, um den Figuren den Raum zu lassen, in dem sie sich frei von Klischees und Vorbehalten entfalten können. Eine Art Sozialpolitik im Filmemachen: Den Figuren die Last des Allgemeinen nehmen, um sie an den Besonderheiten arbeiten zu lassen.

Über seine Protagonistin Deniz sagt Arslan, sie sei "eine Person mit eigenen Geheimnissen, Widersprüchen und Besonderheiten, die sich nicht auf ihre Herkunft reduzieren lassen." Arslan will die Wahrnehmung seines Films nicht von der Tatsache vereinnahmen lassen, dass er als Deutschtürke eine Geschichte erzählt, die in Kreuzberg spielt. Weder der Schauplatz noch die Biographie des Filmemachers sollen die Entwicklung der Figur stören.

Dabei ist Thomas Arslan von den drei genannten Regisseuren der einzige, der sich noch sichtbar um eine Stimmigkeit der gezeigten Orte bemüht. Er weiß, dass man neuerdings wieder mit der Straßenbahn zum Alexanderplatz kommt, und achtet darauf, dass Deniz die richtig Linie nimmt. Aber macht dieser topographische Realismus seinen Film zu einem "Berlin-Film"? Speist sich das Gefühl der Authentizität aus der Wiedererkennung von Orten und Wegen oder ist es immer noch das Lebensgefühl, das sich in den Dialogen und Gesten ausdrückt, das man schließlich als "berlinesk" anerkennt?

Irgendwo muss die Handlung ja stattfinden. Dass es dann doch Berlin ist, lässt sich wieder als ein Entgegenkommen gegenüber der Figur interpretieren. "Ich verreise nicht gern, weil ich mich nicht wohl fühle an Orten, die ich nicht kenne", sagt Deniz. Auch Angela Schanelecs Protagonistin Valerie hat keine Lust auf Reisen. Früher sei sie verreist, weil sie glaubte, man müsse. Jetzt lässt sie es sein und freut sich dennoch über die eine oder andere Reiseerinnerung: "Damit man mitreden kann. Irgendwas erlebt man ja immer." Was die Bedeutung des Ortes bei der Sinnsuche betrifft, durchweht Mein langsames Leben ein resignativer Ton: Egal, wo man ist, man wird sich nicht los. Zu Beginn des Films reist Valeries Freundin Sophie nach Rom, um dort ein halbes Jahr zu arbeiten. Sie spielt mit dem Gedanken, nicht mehr zurückzukommen. "Schön wär´s zu bleiben für immer. Meine Herkunft wär´ ein Geheimnis, bisschen interessant, bisschen verschleiert." Während Thomas Arslan lediglich darauf bedacht war, das Interesse an den Geheimnissen der Figur nicht mit deren Herkunft kurzzuschließen, deutet Sophie hier an, dass die Verschleierung der Herkunft ein veritables Mittel sei, sich interessant zu machen. Aber sie kommt zurück aus Rom am Ende des Films. "Ich war die ganze Zeit ein bisschen aufgeregt und ein bisschen gelangweilt, immer so in Erwartung." Statt ein bisschen geheimnisvoll und ein bisschen verschleiert, also ein bisschen aufgeregt und ein bisschen gelangweilt. Von Aufbruchstimmung kann hier keine Rede sein. Man verharrt in Berlin, weil sich das Es, dem die Suche gilt, auch anderswo nicht ergeben hat. Und irgendwo muss das Leben ja stattfinden.

Dass es dann doch Berlin ist, liegt wohl daran, dass kaum eine andere Stadt so mit sich selbst beschäftigt ist. Sucht denn nicht immer noch alles, was hier geschieht, seine Originalität gerade darin, "berlinesk" zu sein? Und liegt nicht gerade hier ein profunder Widerspruch? Führt die Selbstreferenz nicht notwendig in die Leere der Tautologie? In ihrer Selbstbeschäftigung sind so die Protagonisten in den drei Filmen "typische" Berliner, und Berlin wieder einmal die typische Kulisse. "Lauter Egoisten, und man selbst der Schlimmste", schimpft eine der vielen Figuren, die sich bei Angela Schanelec zum Thema äußern.

Die drei Filme zeigen authentische Figuren, denen in ihrer Authentizität gerade das Eigene verloren zu gehen droht, nach dem sie alle suchen. Sie wissen um die Gefahr, vor der sie stehen: dass ihre Suche sie zu Typen macht. Also gilt die Suche der privaten Nische mitten im Allgemeinen - der Möglichkeit, ein normales Leben zu führen, ohne auf Originalität verzichten zu müssen. Das heißt auch, sich mitteilen zu können, mit anderen eine gemeinsame Sprache zu haben, ohne sich diese Verständlichkeit durch Plattitüden erkaufen zu müssen. "Wenn ich über meine Gefühle rede, klingt das immer so abgedroschen", sagt Deniz in Der schöne Tag und benennt damit eine Sorge, die alle Figuren in diesen Filmen umtreibt: Das Reden hilft einem nicht über die Sprachlosigkeit hinweg, aber man kann dennoch nicht darauf verzichten. Denn die Baustellen-Euphorie ist verflogen, und es ist noch soviel Leben übrig.

Maria Speths In den Tag hinein, der jüngste der drei Filme, ist hier optimistisch. "Fühlt sich gut an, deine Sprache", meint die Protagonistin Lynn zu dem Japaner Koji, in den sie sich gleichsam testweise verliebt, ohne dass die beiden eine gemeinsame Sprache hätten. Die Sprachlosigkeit ist in der Diagnose dieses Films keineswegs ein Grund zur Resignation. Sie wird zum Stilmerkmal der Beziehungen, in denen es darum geht, das Schweigen anders als immer nur peinlich zu erleben. Schließlich kommt es von innen - wo es der Normalzustand ist. Für Lynn und Koji kann dann auch die Stadt wieder zu einer Kulisse gemeinsamer Erlebnisse werden. Man geht und schaut und muss nicht drüber reden. Jeder denkt sich seinen Teil und über den anderen nur das Beste. Sie müssen sich nicht erst voreinander verbergen, um sich geheimnisvoll und interessant zu machen. Das eigentliche Geheimnis ist, warum ihnen trotz der Sprachlosigkeit nicht langweilig wird.

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