Schweigen

IM KINO "Lost sons" will Ingo Hasselbach und seinen Vater zusammenbringen

Ingo Hasselbach war Anfang der neunziger Jahre ein charismatischer Kopf der Ostberliner Neonazi-Szene. Seit seinem Ausstieg 1993 wird er durch Schulen und Talkshows gereicht: "Erzählen Sie doch mal, wie wird ein intelligenter junger Mann zum Neonazi?" Bei der Recherche für seinen Film Lost Sons stand auch Fredrik von Krusenstjerna vor dieser Frage. Die Suche nach einer Antwort konzentrierte sich auf die Biografie des Protagonisten und stieß dort auf einen abwesenden Vater.

Hans Canjés Biografie ist nicht weniger spektakulär als die seines Sohnes. Anfang der sechziger Jahre emigrierte der in der Bundesrepublik strafrechtlich verfolgte Kommunist in die DDR. Dort widmet er sich als Radiojournalist der antifaschistischen Arbeit. Seine politischen Motive haben den Zusammenbruch der DDR überlebt. Aber auch auf seinem Gesinnungsweg gab es einmal eine 180-Grad-Wende: bis 1945 wäre er, ein Jugendlicher damals, fanatisch bereit gewesen, für ein nationalsozialistisches Deutschland zu töten. Erst der Schrecken über die Wahrheit und über sich selbst habe ihn zum Anti-Faschisten gemacht. Es drängt sich der Gedanke auf: zwei deutsche Schicksale. Von Krusenstjerna versucht in Lost Sons, ein Bild deutscher Geschichte zu montieren.

Seit seinem Ausstieg lebt Ingo Hasselbach verdeckt, permanent bedroht von der Rache derer, die er denunziert hat. Anfangs inszeniert ihn der Film wie einen selbst zum Gespenst gewordenen Hamlet: "Verdammt, auf eine Zeit lang nachts zu wandern, bis die Verbrechen seiner Zeitlichkeit hinweggeläutert sind." Einsam treibt er durch Berlin, im Taxi, in der Straßenbahn, ohne Umfeld, spricht mit niemandem. Aus dieser fast schon metaphysisch anmutenden Verlorenheit versucht der Film ihm einen Weg zu weisen: das Treffen mit dem Vater.

Zwar hat die Recherche den abwesenden Vater ausfindig gemacht und zum Reden gebracht, stieß dabei jedoch auf eine weitere Leerstelle: Ingo Hasselbach und Hans Canjé verweigern sich seit den späten achtziger Jahren gegenseitig den Kontakt. Vater und Sohn werden nun in eine fiktive Nähe zueinander gebracht; die Montage will zeigen, was nicht gesagt wird: dass das Schweigen zwischen ihnen keine Privatangelegenheit sei, sondern von kollektiver Bedeutung für das Verstehen der deutschen Geschichte. Dass es bis zum Ende der Dreharbeiten nicht zu einem Treffen der beiden gekommen ist, legt sich der Film als ein Scheitern aus. Hans Canjé nennt es ein deutsches Ende.

Von Krusenstjernas Diagnose lautet: die Deutschen haben ein Problem, miteinander zu reden. Weil er die Wahrheit in dem vermutet, was nicht ausgesprochen wird, bringt sich der Film in ein ambivalentes Verhältnis zu dem, was doch gesagt wird. Das Bemühen der Bilder konzentriert sich zunehmend darauf, dem verpassten Wort eine Bühne zu schaffen, auf der es ausgesprochen werden könnte.

Der Regisseur konfrontiert Hans Canjé mit der Mauergedenkstätte an der Bernauer Strasse. Mit dabei ist auch Kurt Goldstein, Überlebender des Todesmarsches von Auschwitz nach Birkenau und langjähriger Freund Hans Canjés. Als Veteranen des Anti-Faschismus stehen sie sprachlos vor den musealen Überresten des "antifaschistischen Schutzwalls". Die Kamera fährt zurück, das Bild gerinnt zu einem bedeutungsschweren Stillleben. Aber ist dies dieselbe Sprachlosigkeit, die der Film den Deutschen kollektiv diagnostiziert? Ist das Schweigen des Holocaustzeugen Goldstein etwa das gleiche wie das der Täter und Mitläufer? Gilt dieses Schweigen nicht vielmehr der bedeutungsschweren Geste, die der Film hier inszenieren will?

Die Szenerie straft die Biografien der Männer nicht etwa Lügen, wie das Bild zu suggerieren scheint. Das Fehlen der Worte, das hier als Eingeständnis eines persönlichen Scheiterns inszeniert wird, bezeugt möglicherweise etwas ganz anderes: Subjektive Lebenswege lassen sich nicht unbedingt in eine objektive Wahrheit ummünzen. Hans Canjé und Kurt Goldstein scheinen zu wissen, dass jedes Wort einzig dazu führte, die Wahrheit ihrer Biografien an die kokette Pluralität dessen, was alles gesagt werden kann, zu verraten.

Der eloquente Ingo Hasselbach stellt seinen Einstieg in die Neonazi-Szene als Folge einer Orientierungslosigkeit dar: "Es hätten auch die Scientologen sein können." Weder für Hans Canjé, und schon gar nicht für Kurt Goldstein hätte es etwas anderes sein können als ein überzeugter Anti-Faschismus. Vielleicht lässt sich in einer Talkshow klären, warum ein intelligenter junger Mann zum Neonazi wird. Zu erklären, warum die Mauer kein Argument gegen den Anti-Faschismus von Kurt Goldstein und Hans Canjé ist, hieße, die Sendezeit zu sprengen.

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