Wir erkennen die Wirklichkeit, wenn wir sie sehen

IM KINO Andreas Dresen lässt "Die Polizistin" Seele zeigen

In einem Dokumentationsvideo über die Anti-Globalisierungs-Proteste in Seattle, das ich neulich gesehen habe, ruht sich die Kamera mitten im Tumult minutenlang auf dem Gesicht einer Polizistin aus. Inmitten der feindlichen Reihen glaubt der wütende Augenzeuge eine Verbündete gefunden zu haben. Die emotionale Solidarität wird über alle brennenden Barrikaden hinweg im Zittern eines Gesichts lesbar, das die Maske der Unnahbarkeit nicht mehr aushält. Die Polizistin als Mensch. In dieser Pause zwischen den Fronten spielt Andreas Dresens Film. Seine Handlung spiegelt sich momenthaft auf dem Gesicht der Schauspielerin Gabriela Maria Schmeide, einem Gesicht, das die maskenhafte Zurückhaltung aufgibt. Andreas Dresen interessiert sich für das, was nicht zurückgehalten werden kann, was ohne Fassade auskommt, oder die Fassade sprengt. Er will vor allem ehrlich sein, und das heißt: wie auch immer "menschlich". Anne, die Polizistin, will das auch.

"Ich habe gerne mit Menschen zu tun", sagt sie auf die Frage, warum sie Polizistin geworden ist. "Du musst dir eine dickere Haut zulegen", wird ihr später empfohlen, aber da haben sich einige Ereignisse bereits ein paar Mal überschlagen, hat die Haut schon Kratzer bekommen und die Seele auch. "Was ist das, die Seele?" fragt Anne den zehnjährigen Benni einmal. "Irgendwas in dir drinnen, die kann man nicht sehen." Alle haben Seele, und die Seelen haben Schmerzen. Andreas Dresen würde wohl keine Filme machen, wenn er nicht daran glaubte, dass man die Seele sichtbar machen könne.

Auch für Benni wäre es gut, eine dickere Haut zu haben. Seine Mutter trinkt und schlägt sich mit dem Stiefvater. Der Vater, ein Russe mit deutschem Pass, lebt von kleinen Jobs und kleinen Diebstählen. Benni darf ihn nicht sehen, Anne, die Polizistin, kennt ihn schon. Ihr Revier ist Rostock Lütten-Klein, ein Vorstadt-Viertel, das in den siebziger Jahren als zukunftsweisende Plattenbausiedlung geplant wurde, dem mittlerweile aber die Zukunft abhanden gekommen ist. Es gibt dort nicht mehr viel zu lachen oder zu hoffen. Sich eine dickere Haut zulegen, das hieße: Maske tragen, würde bedeuten, zwischen Beruf und Privatleben trennen zu können, selbst Polizistin zu sein und die anderen Täter, Opfer und Kollegen sein zu lassen. Das hieße auch: nicht immer daran denken müssen, dass alle Menschen gleich sind, irgendwie.

Durch das Revier der Polizistin führen Straßen, die Nummern haben oder nach Menschen benannt sind, die keiner mehr kennt. In den Wohnungen, die sie betritt, sind die Wände dünner als die Haut derer, die darin wohnen. Die Stadtlandschaft wird bestimmt von Autobahnbrücken, Supermärkten, Krankenhäusern und Altenheimen. Das Leben ist laut und schmeckt nach Döner und Bier. Und wenn es mal leise ist, dann weil die Stadtwerke den Strom abgestellt haben oder weil jemand gemerkt hat, dass Schreien nicht hilft und Reden noch weniger. "Hauptbeschäftigung: Schwachsinn", wird Anne von ihrem Kollegen Mike in die Materie eingewiesen. Die Arbeit der Polizisten ist nicht schöner als das Leben ihrer Klientel.

Viele freuen sich, wenn sie im Kino die Wirklichkeit zu sehen bekommen, andere finden das peinlich. "So ehrlich, so menschlich" rufen beide, aber mit verschiedenen Gebärden. Warum ist die Wirklichkeit im Kino meistens eine, die weh tut? Während das, was in der Wirklichkeit mal gut tut, immer gleich "wie im Kino" genannt wird? Warum, fragten die Kritiker, als Die Polizistin vor einiger Zeit im Fernsehen lief, sind nicht alle Filme so? So echt, so authentisch, so lebensnah. So ehrlich, so menschlich. Bei aller Härte so humorvoll.

Jean-Luc Godard hat einmal gesagt, dass der Polizist in den Kriminalfilmen immer ein Freiheitsideal verkörpert: nämlich zu machen, was man will, im Zweifelsfall nichts, weil man sich sowieso kaum rühren kann und die Strukturen, die einen zwingen, kaum mehr wahrnimmt. Das ist lange her. Es hat sich etwas geändert. Die Polizistin leistet Schwerstarbeit und muss dabei Dinge tun, die sie nicht tun will, und das, was sie tun will, darf sie nicht. Maximale Entfremdung der Arbeit. Aber ein Ideal verkörpert sie dabei trotzdem, nämlich "Leben live", wie es so schön dumm heißt - dort zu sein, wo es kracht, wo was passiert. Wir wissen ja, dass es das gibt, im Zweifelsfall im Kino. Wir lassen uns nichts vormachen.

Wir stellen fest, dass Dresens Schauspieler ungeschminkt sind - genauso wie die Wahrheit. Michael Hammon trägt seine Kamera auf der Schulter wie andere ihr Leben. Und Kunstlicht erleuchtet in sorgfältiger Dosierung, was nun einmal düster ist. "Alles Überflüssige ist weg", freute sich ein Kritiker-Kollege über Dresens Film. Wir erkennen die Wirklichkeit, wenn wir sie sehen. Und wir gehen nicht ins Kino, um uns von Illusionen betrügen zu lassen. Wir nicht.

"Wenn hier jetzt plötzlich ein Polizist reinkäme, dann empfänden wir ihn nicht wie einen von uns. Wenn einen ein Polizist auf der Straße anspräche und fragte: ›Willst du mit mir einen Kaffee trinken?‹ da wäre man doch misstrauischer als bei jedem anderen", vermutete Godard, wie gesagt vor langer Zeit. Man könnte meinen, die Fronten hätten sich etwas aufgelockert. Nur haben die Polizisten heute, wo wir vielleicht gerne mit ihnen einen Kaffee trinken würden, so schrecklich viel zu tun. Also gehen wir ins Kino und schauen ihnen bei der Arbeit und den anderen beim Leben zu.

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