Linie 197, hin und zurück

Stadtlandschaft mit Dornen In Berlin-Marzahn steht Sven an einer Haltestelle und wartet auf eine Chance, die nicht kommt

Die Autofahrt führt weg vom Zentrum, hinaus in die Plattenbau-Herrlichkeit der Stadt und hinein in einen der ersten Herbsttage. Die Elf-und Einundzwanzig-Geschosser nehmen ein vorletztes Sonnenbad inmitten großfüßiger Marzahner Straßen und Plätze. Auch ein Wind hat sich aufgemacht, über Straßenbahngleise und Schotterbetten hinweg zerrt er einen grauen Staubvorhang hinter sich her, lässt den hin und wieder fallen, denn es ist viel Platz hier, stadteinwärts oder stadtauswärts, wie´s gerade kommt. Viel Platz, um davon zu schwimmen.

Ein mittelgroßer, gedrungener Junge steht an der Bushaltestelle, doch er wartet nicht auf die nächste Fahrt der Linie 197. Er hat wie jeden Tag kein Ziel, weder stadteinwärts noch stadtauswärts, das er erreichen müsste, weder heute noch morgen. Der Junge heißt Sven. Und Sven will mehr als nur einen Job, aber viele verstehen das nicht. Jetzt hänge ich hier nur rum, sagt er, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und dunkles, kurzes Haar über einer blassen Stirn. Sven ist in Marzahn geboren und aufgewachsen, und wenn er über die Straße sieht, kann er sich an drei Werbetafeln halten, auf denen die Bundesregierung mitteilt, dass sie sich um Sven kümmern wird. Auf den Plakaten sind neun junge Leute zu sehen, die in einen verheißungsvollen, hellblauen Himmel starren. Über den Köpfen der Jungen und Mädchen steht es schwarz auf blau: "Chancen vergeben!", das "ver" ist rot durchkreuzt. Die Regierung deutet der Wirtschaft an, wie himmlisch schön es wäre, wollte sie mehr ausbilden und das recht bald. Auch Sven soll eine Chance bekommen, verspricht das Plakat, er soll nicht aufgeben und weiter an seine Zukunft glauben.

Sven hält lieber Abstand zur Politik, die medialen Trompetenstöße, mit denen die "Auf-der-Kippe"-Sprüche einst verstärkt wurden, hat er überhört. Als Wolfgang Thierse versuchte, die Notlage des Ostens auf den Punkt und den Westen um seine Ruhe zu bringen, büffelte Sven noch in seiner Marzahner Schule, um nicht sitzen zu bleiben und einen Abschluss zu haben. Ich wollte unbedingt eine Lehrstelle ... Aber diese Tür hat vorerst keine Klinke mehr. Also hangelt er sich von Tag zu Tag. Ein Ausbildungsshuttle gen Westen will ihn nicht mitnehmen, das Zeugnis ist zu schlecht. Er hofft weiter, irgendwo und irgendwann vielleicht doch einen Ausbildungsplatz in der Stadt oder sogar in seinem Bezirk zu finden. Bis es soweit ist, wird er nicht gebraucht. Das erinnert ihn an die Zeit nach der Wende, als seine Eltern lernen mussten, sich durchzuschlagen, manchmal arbeitslos waren, immer auf kurzlebige Jobs angewiesen blieben, auf Arbeit, die jedes Mal ein bisschen weiter weg war von Marzahn und von der Familie. Zur Zeit ist mein Vater Kraftfahrer, sagt Sven, so was hätte der früher nie gemacht, fünf Tage die Woche nicht in Berlin und manches Wochenende dran hängen.

Ob er gern mal ausrastet? Nein, sagt Sven, über Gewalt weiß ich nicht viel. Aber im Norden von Marzahn, da geht wirklich die Post ab, da wohnen die totalen Assis. Sven kann nicht genau sagen, was sich dort abspielt, nur von "Frust" spricht er. Vom Frust der anderen, der Leute eben, die wirklich nur rumhängen, den ganzen Tag lang.

Wir fahren mit dem Auto ins Brandenburgische Land. Dorfidylle ersetzt Hochhäuser. An einer Imbissbude steht Marco, Svens 22 Jahre alter Cousin, schlank und hochgewachsen, hier ist mein Stammtisch, lacht er. Im Dorf lebt Svens halbe Verwandtschaft, ein aus Ostzeiten eingeschworener Haufen, der sich in seinen Lebensprovisorien einzurichten versteht. Auch Marco hat für Politik wenig übrig. Zwei Freunde aus der Clique stehen mit am Stammtisch vor der Bude. Sie nicken eifrig, nein, Politik lohnt sich wirklich nicht. Marco arbeitet als Kfz-Mechaniker, aber das Große Los? Und ein schneller Blick zu Sven beendet das Gespräch.

Das sind doch alles nur noch Schrumpf-Städte und absterbende Straßen, sagte Sven, als wir nach Marzahn zurückfahren. Vielleicht ist das hier auf Dauer doch nicht das Richtige, lieber raus aufs Land. Aber wenn ich das sehe, wie sie jetzt die leeren Hochhäuser abtragen, da blasen sie uns ganz schön die Lichter aus.

Angekommen in Marzahn steigt Sven an der Bushaltestelle aus. Morgen wird er wieder dort sein und "abhängen", viele Busse mit der Zahl 197 ankommen und abfahren sehen, und wieder nicht den richtigen finden, um einzusteigen. Das Plakat von gegenüber hat als Sonnenfang ausgedient und wirft keinen Schatten mehr. Übrig geblieben sind nur die jungen Leute mit ihrem blauen Himmel überm Kopf - so voller Jobs und Geigen. Das würde mir nicht reichen, sagt Sven, ich will mehr, und viele verstehen das nicht.


Das Vertreter-Modell

Wendepunkt 2013: Jugendarbeitslosigkeit als Übergangsphänomen

Der Befund ist alarmierend: "Eine Größenordnung von 30 bis 50 Prozent der geburtenstarken Jahrgänge ist ›überflüssig‹". So die Eingangsthese einer Studie des Thünen-Instituts aus Mecklenburg-Vorpommern zur Jugendarbeitslosigkeit in Ostdeutschland. Bis 2011, meint Verfasser Rainer Land, stünden jährlich 240.000 Berufseinsteigern lediglich ein Viertel und ab 2007 die Hälfte an Abgängen aus Beschäftigungsverhältnissen gegenüber, selbst wenn man eine konstante Abwanderung junger Leute berücksichtigt.Mit diesen Zahlen kündigt sich ein weiteres Generationenproblem an: Die erhebliche Jugendarbeitslosigkeit ist nur ein Übergangsphänomen. Etwa ab 2013, wenn rechnerisch der demographische Wendepunkt erreicht ist, wird die bereits jetzt feststellbare Überalterung der Betriebsbelegschaften ihren Höhepunkt erreichen - ein Resultat der Nachwendezeit, als massenhaft Fachkräfte entlassen worden waren. Um diesen Entwicklungen entgegen zu wirken, schlägt die Studie folgendes Modell vor: Mit einem "Nachwuchskräftepool" sollen die "überschüssigen" Arbeitskräfte - sprich: die Schulabsolventen der nächsten Jahre - in Beschäftigung gebracht werden. Damit ließe sich das Arbeitskräftedefizit decken, das in zehn Jahren erwartet wird. Eine zeitweilige Überbesetzung der Arbeitsplätze wäre dabei bewusst anzustreben und entsprechend zu fördern. Konkret sollen Betriebe, die vorhandene Belegschaften mit einem zusätzlichen erwerblosen Arbeitnehmer unter 30 aufstocken, bis zu 100 Prozent Förderung erhalten. Nach einer Einarbeitungsphase könnte der zu ersetzende Arbeitnehmer eine Qualifizierung absolvieren. Dem ihn vertretenden Neueingestellten wäre geholfen, eine zukunftsorientierte Lebensplanung zu entwickeln und eine stabile arbeitsgesellschaftliche Sozialisation zu erfahren. Durch das "Vertretermodell" entstünde als Zusatzeffekt ein Qualifikationsschub im alternden Teil der Belegschaften. Neueingestellten Nachwuchskräften sollte außerdem garantiert werden, nach spätestens fünf Jahren in eine feste Stelle vermittelt zu werden. Diese Änderung der Strukturmaßnahmen für den Osten würde nach den Berechnungen des Instituts nicht mehr Geld kosten, allerdings zielgerichtete Rahmenbedingungen durch einen intelligenten Einsatz der Mittel schaffen. Dazu zähle ein qualifiziertes Management des Nachwuchskräftepools und der teilnehmenden Betriebe. Credo des Projekts ist allerdings auch ein Bezug zu tatsächlich nachgefragten Gütern und Leistungen, um keine "Scheinarbeit" zu organisieren.

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